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Lenins „Briefe aus der Ferne“

Die „Briefe aus der Ferne" wurden von Lenin in der Schweiz geschrieben. Nur der erste Brief, unter dem Titel: „Die erste Etappe der ersten Revolution" wurde in den Nummern 14 und 15 der „Prawda" veröffentlicht. Die übrigen vier Briefe wurden 1917 nicht veröffentlicht. Sie erschienen zum ersten Mal 1924 im „Lenin-Sammelbuch" Nr. 2 (russisch). Den fünften Brief („Die Aufgaben der revolutionären proletarischen Staatsordnung") schrieb Lenin am 8. April, am Tage seiner Abreise aus der Schweiz. Dieser Brief ist unvollendet geblieben. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 20.1, Anm. 10]

Zur Zeit des Ausbruches der Februarrevolution befand sich Lenin in der Schweiz. Das erste, was er nach Empfang des Telegramms über die Februarrevolution schrieb, waren zwei Briefe an Alexandra Kollontai und der „Thesenentwurf vom 17. März 1917“, die man als den ersten Entwurf der Hauptleitsätze der bolschewistischen Taktik im Jahre 1917 betrachten kann. Etwas später – zwischen dem 2. und 8. April (20. und 26. März) – schrieb Lenin die „Briefe aus der Ferne“, deren erster am 21. und 22. März/3. und 4. April in der „Prawda“ veröffentlicht wurde. Die übrigen Briefe wurden im Jahre 1917 nicht veröffentlicht; sie wurden erst im Jahre 1924 im „Leninski Sbornik“ II abgedruckt.

In dem ersten „Brief aus der Ferne“, der im vorliegenden Band abgedruckt wird, gibt Lenin eine Charakteristik der ersten Etappe der Revolution, deckt ihre Triebkräfte auf, zeichnet ihre Perspektiven und führt die Aufgaben des Proletariats in der gegebenen Etappe und für die weiteren Etappen an. Der zweite Brief ist einer eingehenden Zergliederung der Frage der provisorischen Revolutionsregierung, der dritte der „proletarischen Miliz“ und der vierte der Frage des Friedens („Wie erlangt man den Frieden?“) gewidmet. Den fünften Brief, der überschrieben ist: „Die Aufgaben der revolutionären proletarischen Staatsordnung“, begann Lenin am 8. April (26. März), am Tage der Abreise aus der Schweiz, zu schreiben. Der Brief wurde nicht beendet. Lenin konnte noch in diesem Brief den Inhalt der vorhergegangenen vier Briefe kurz zusammenfassen und ihren Gedankengang in Thesenform als ein kurzes „Programm“ der Revolution wiedergeben. Wir führen hier diese Zusammenfassung an, um dem Leser eine Vorstellung von dem Inhalt aller fünf Briefe im Ganzen zu geben. „In den früheren Briefen“ – schreibt Lenin – „wurden die gegenwärtigen Aufgaben des revolutionären Proletariats in Russland folgendermaßen skizziert: das Proletariat muss (1) den sichersten Weg zur nächsten Etappe der Revolution bzw. zur zweiten Revolution finden, die (2) die Staatsmacht den Händen der Großgrundbesitzer- und Kapitalistenregierung (der Gutschkow, Lwow, Miljukow, Kerenski) entreißen und sie der Regierung der Arbeiter und der armen Bauern übergeben wird. Diese muss (3) nach dem Muster der Arbeiter- und Bauerndeputiertenräte organisiert werden, nämlich (4) die alte, für alle bürgerlichen Staaten charakteristische Staatsmaschine, die Armee, die Polizei, die Bürokratie (das Beamtentum), zerschlagen und völlig beseitigen, indem sie (5) diese Maschine durch eine Organisation des bewaffneten Volkes ersetzt, die nicht nur große Massen, sondern durchweg das gesamte Volk umfasst. (6) Nur eine solche Regierung, eine ,solche' ihrer Klassenzusammensetzung (,revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft') und ihren Verwaltungsorganen (,proletarische Miliz') nach, ist imstande, die außerordentlich schwierige, unaufschiebbare, dringende und wichtigste Aufgabe der Gegenwart erfolgreich zu lösen, nämlich den Frieden herbeizuführen, und zwar keinen imperialistischen Frieden, keine Abmachung imperialistischer Mächte über die Teilung der von den Kapitalisten und ihren Regierungen geraubten Beute, sondern einen wirklich dauerhaften demokratischen Frieden, der ohne die proletarische Revolution in einer Reihe von Ländern nicht erreicht werden kann. (7) In Russland ist der Sieg des Proletariats in der allernächsten Zeit nur unter der Bedingung zu verwirklichen, dass sein erster Schritt sein wird die Unterstützung der gewaltigen Mehrheit der Bauernschaft in ihrem Kampfe um die Enteignung des gesamten gutsherrlichen Grundbesitzes (und um die Nationalisierung des gesamten Bodens, wenn man annimmt, dass das Agrarprogramm der ,104' seinem Wesen nach das Agrarprogramm der Bauernschaft geblieben ist). (8) Im Zusammenhang und auf der Grundlage einer solchen Bauernrevolution kann und muss das Proletariat im Bunde mit dem ärmsten Teil der Bauernschaft weitere Schritte unternehmen, die auf die Kontrolle der Produktion und der Verteilung der wichtigsten Produkte, auf die Einführung der ,allgemeinen Arbeitspflicht' usw. gerichtet sind. Diese Schritte werden von den Verhältnissen, die der Krieg geschaffen hat und die sich in der Nachkriegszeit sogar in mancher Beziehung zuspitzen werden, mit gebieterischer Notwendigkeit vorgeschrieben; und in ihrer Gesamtheit und ihrer Entwicklung würden sie den Übergang zum Sozialismus bedeuten, der unmittelbar, mit einem Schlag, ohne Übergangsmaßnahmen in Russland nicht verwirklicht werden kann, aber als Ergebnis derartiger Übergangsmaßnahmen durchaus realisierbar und dringend notwendig ist. (9) Eine besonders dringende Aufgabe ist hierbei die sofortige Schaffung von besonderen Arbeiterdeputiertenräten auf dem Lande, d. h. von Räten der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter, die von den Räten der übrigen Bauerndeputierten getrennt sein müssen. Das ist in kurzen Worten das von uns skizzierte Programm, das beruht auf einer Analyse der Klassenkräfte der russischen und der Weltrevolution, sowie auf den Erfahrungen von 1871 und 1905.“ Aus dem Inhalt des ersten „Briefes aus der Ferne“, der hier vollständig abgedruckt wird, und aus der kurzen Wiedergabe des Inhalts aller vier zu Ende geschriebenen Briefe durch Lenin gehen die folgenden Momente mit höchster Klarheit hervor.

1. In der Hauptsache geht Lenin hier von jenen Ansichten über die Perspektiven der bürgerlich-demokratischen Revolution und ihres Hinüberwachsens in eine proletarische Revolution aus, die er schon in den Jahren 1905-1907 entwickelt hatte (siehe die Thesen über die „Etappen, Richtung und Aussichten der Revolution“ sowie die Anmerkungen hierzu).

2. Lenin brachte diese Perspektiven mit den Besonderheiten der Lage (der russische und der Weltimperialismus, der imperialistische Krieg, die revolutionäre Situation in Europa, der Sturz des Absolutismus in Russland, das Bestehen – neben der bürgerlichen Provisorischen Regierung – des Keims der Arbeiterregierung in der Gestalt des Arbeiterdeputiertenrates) in Verbindung und begründete auf diese Weise sein „Programm“ der Revolution auf diesem „außergewöhnlichen Zusammentreffen“ (im Vergleich mit 1905-1907) der Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland mit den Aufgaben der proletarischen Revolution im Westen und in Russland, von welchem Zusammentreffen er 1915 in seinen Artikeln „Die Niederlage Russlands und die revolutionäre Krise“, „Einige Thesen“, „Über zwei Linien der Revolution“ gesprochen hatte.

3. Von diesem außergewöhnlichen Zusammentreffen zweier Revolutionen ausgehend und ohne auch nur eine Minute die Notwendigkeit aus dem Auge zu lassen, gemeinsam mit der gesamten Bauernschaft die bürgerlich-demokratische Revolution durch den „vollen Sieg über die Großgrundbesitzer“ zur Vollendung zu bringen, stellte Lenin entsprechend den Bedingungen des Augenblicks als Hauptaufgabe die (im Bündnis mit dem Proletariat des Westens durchzuführende) Aufgabe des Übergangs von der ersten, bürgerlichen Etappe der Revolution zur zweiten, proletarischen auf. Dazu war der Anschluss der halbproletarischen Massen des flachen Landes, der Dorfarmut, an das Proletariat erforderlich. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 6, Anm. 1]

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