Der 9. Parteitag der KPR fand in Moskau vom 29. März bis 4. April 1920 statt. An dem Parteitag nahmen 716 Delegierte teil, die 611.987 Parteimitglieder vertraten. Der Parteitag beschäftige sich mit den Fragen des wirtschaftlichen Aufbaues. Die Tagesordnung des Parteitages war folgende: 1. Bericht des Zentralkomitees; 2. Die aktuellen Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaues; 3. Die Gewerkschaftsbewegung; 4. Organisatorische Fragen; 5. Die Aufgaben der Kommunistischen Internationale; 6. Die Stellung zu den Genossenschaften; 7. Der Übergang zum Milizsystem; 8. Wahlen; 9. Verschiedenes. Die Diskussion über den Bericht des ZK war sehr heftig. Der Parteitag nahm folgende Resolution an: „Das Zentralkomitee musste seine Arbeit unter den Verhältnissen des erbitterten Bürgerkrieges, des verstärkten Ausbaues der Sowjets und des außerordentlichen Wachstums der Partei durchführen. Trotz aller Schwierigkeiten, die sich im Laufe der Arbeit des Zentralkomitees ergaben, ist der Parteitag der Auffassung, dass das ZK die politische Linie und die organisatorische Arbeit der Partei im Großen und Ganzen richtig und energisch durchgeführt hat. Der Parteitag billigt die Tätigkeit des Zentralkomitees und geht zur Tagesordnung über.“ Zu den übrigen Fragen, die auf dem Parteitag eine lebhafte Diskussion hervorriefen, gehörte die Frage des wirtschaftlichen Aufbaues (Referent Trotzki) und die Gewerkschaftsfrage (Referent Bucharin), ferner die Frage der Stellung zu den Genossenschaften. Die
vom Parteitag angenommenen Resolutionen über diese Frage siehe
„Dokumente und Materialien“. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 25, Anm. 62] Zur Zeit des IX. Parteitages und der vorliegenden Rede Lenins hatte die Revolution im bewaffneten Kampf gegen die Weißgardisten im Innern des Landes und den internationalen Imperialismus glänzende Siege davongetragen. Die wichtigsten Kriegsfronten, auch die Koltschak- und die Denikin-Front, waren liquidiert. Es bestand noch die Gefahr einer Fortführung des Krieges durch Polen, und in der Krim hatte sich Wrangel verschanzt. Nach der Liquidierung der Koltschak- und der Denikin-Front war es der Entente noch nicht gelungen, die neue Offensive Polens sowie Wrangels gegen die Sowjetrepublik zu organisieren. Das geschah später. Zur Zeit des IX. Parteitages befand sich somit die Sowjetrepublik nicht im Kriegszustand, hatte aber auch keine friedlichen Beziehungen zum internationalen Imperialismus, sondern machte eine halb kriegerische, halb friedliche Atempause durch. Angesichts einer derartigen außenpolitischen Lage stand vor dem IX. Parteitag die Aufgabe, die Hauptaufmerksamkeit und die Hauptkräfte des Sowjetstaates auf die Wirtschaftsfront zu konzentrieren. Der innere ökonomische Zustand der Sowjetrepubliken war infolge des imperialistischen Krieges von 1914–1917 sowie des erbitterten Bürgerkrieges ein äußerst schwerer. In der Industrie und im Transportwesen wurde gegen Ende des Jahres 1919 der Brennstoffbedarf zu mehr als vier Fünfteln (zu 82,9 Prozent) durch Holz gedeckt. Infolge des Mangels an Rohstoffen, Brennstoffen und Lebensmitteln arbeitete die Industrie nur zu 26 Prozent ihrer Kapazität und versorgte vorwiegend die Rote Armee. Um sich vor dem Hunger zu retten, strömten die Arbeiter in die Dörfer. Krankheiten und Hunger hatten massenhaftes Fernbleiben von der Arbeit zur Folge, das bis zu einem Viertel, ja selbst bis zu zwei Fünfteln der Arbeitstage anwuchs. Die Arbeitsintensivität sank außerordentlich. Die Landwirtschaft geriet in Verfall. In den Jahren 1918 und 1919 sank die Saatfläche auf drei Fünftel des Vorkriegsstandes. Der Ernteertrag des Getreidee ging zurück, die gewerblichen Nutzpflanzen wurden vom Getreide verdrängt. Das Transportwesen war zerrüttet. Die Zahl der kranken Lokomotiven belief sich auf 55,4 Prozent, ja selbst auf 60 Prozent der Gesamtzahl. Die durch das Heldentum der Arbeiter und Bauern an den Fronten erzielte Säuberung der an der Peripherie gelegenen Sowjetrepubliken von den weißen Armeen setzte die Sowjetmacht wieder in den Besitz der Kohlen-, Getreide- und Rohstoffgebiete. Das erleichterte die Überwindung der wirtschaftlichen Zerrüttung und der Hungersnot. Doch war dazu die außerordentliche Anspannung sämtlicher Kräfte bei der Wiederherstellung der Wirtschaft des Landes erforderlich, wobei die wichtigste Bedingung dieser Wiederherstellung die strikteste Zentralisierung und Durchführung des Prinzips der alleinigen Befehlsgewalt in der Verwaltung, die Disziplin, „die Festigkeit und Einheit des Willens des Proletariats“ und schließlich ein ebenso aufopferndes Heldentum an der Arbeitsfront wie an der Kriegsfront während des Bürgerkrieges waren. Die Begründung dieser Losungen bildet den Hauptinhalt der Leninschen Rede auf dem IX. Parteitag, der sich in der Hauptsache mit Fragen des wirtschaftlichen Aufbaus und der Organisierung der Arbeit befasste. Die staatliche Zwangsmobilisierung des Industrieproletariats für die Arbeit in der Industrie, die allgemeine Pflichtarbeit zur Brennstoffbeschaffung, zur Freilegung der Eisenbahnstrecken usw., die Überführung ganzer Militärtruppenteile in den Zustand von Arbeitsarmeen sowie die Organisierung einer Massenbewegung zur unentgeltlichen freiwilligen Arbeit in der Form von Subbotniks und schließlich die staatliche Lebensmittelverteilung auf Grund der Zwangsumlage, der Requirierung der Lebensmittel an Stelle des Kaufs und Verkaufs – das war das System der wirtschaftlichen Maßnahmen, das sich zur Zeit des IX. Parteitages in der Praxis herausgebildet hatte und durch die Beschlüsse dieses Parteitages auf der Basis des dort angenommenen Generalplans der Wiederherstellung und sozialistischen Umgestaltung der Volkswirtschaft bestätigt wurde. Die Schaffung einer einheitlichen Arbeitsfront zwecks raschester Rettung der Revolution vor dem durch die wirtschaftliche Zerrüttung drohenden Untergang verpflichtete die Partei zur strikten Durchführung des Prinzips der alleinigen Befehlsgewalt in der Verwaltung. Zu diesem Zweck musste die Partei unter der Führung Lenins auf dem IX. Parteitag die rechtsopportunistische Abweichung in dieser Frage überwinden, die durch die sogenannte „Gruppe des demokratischen Zentralismus“ sowie durch Gruppen von Wirtschaftsleitern und Gewerkschaftern auf dem Parteitag vertreten wurde. Diese Gruppen, die in verschwindender Minderheit waren, kämpften nichtsdestoweniger hartnäckig gegen die Stellung Lenins und des Zentralkomitees der Partei in dieser Frage. Die „Gruppe des demokratischen Zentralismus“, die sich zur Zeit des IX. Parteitages zu einer besonderen oppositionellen Gruppierung entwickelt hatte, wurde von Ossinski, Sapronow und Maximowski geführt, die noch vor kurzem (1918) „linke" Kommunisten gewesen waren. Der „demokratische Zentralismus“ dieser Gruppe hatte nichts mit dem bolschewistischen demokratischen Zentralismus gemein. Er war nichts anderes als ein Rückfall in den bürgerlichen Demokratismus und wollte in Wirklichkeit derartige Reformen und Reförmchen an der Struktur der Partei und der Sowjetmacht vornehmen, die den proletarischen Zentralismus der einen wie der anderen lediglich untergraben konnten, die die proletarische Diktatur schwächen mussten und die dadurch – insbesondere in den Verhältnissen der Jahre 1919-1920 – den Klassenfeinden des Proletariats recht gelegen kommen mussten. Objektiv diente der Kampf dieser Gruppe gegen das Prinzip der alleinigen Befehlsgewalt, der bloß ein Ausdruck ihrer kleinbürgerlichen „demokratischen“ Bestrebungen war, demselben Zweck. Eine parteifeindliche Haltung nahm auch eine Gruppe von Wirtschaftsleitern mit Rykow und Miljutin an der Spitze sowie eine Gruppe von Gewerkschaftern mit Tomski an der Spitze ein, die sich auf dem Parteitag ebenfalls gegen das Prinzip der alleinigen Befehlsgewalt wandten. Lenin
stellte die Losung der alleinigen Befehlsgewalt in der Verwaltung
noch zur Zeit der ersten „Atempause“ im Frühjahr 1918 auf (siehe
„Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“, Kapitel „.Straffe
Organisation' und Diktatur“) und wies schon damals die absolute
Notwendigkeit dieses Prinzips und seine vollständige Vereinbarkeit
mit der proletarischen, der Sowjetdemokratie nach. Auch auf dem IX.
Parteitag trat er mit aller Schärfe für das Prinzip der alleinigen
Befehlsgewalt ein, [...] Deshalb konzentrierte der IX. Parteitag unter der unmittelbaren Führung Lenins die Aufmerksamkeit der Partei, der Sowjetmacht und der Arbeiterklasse auf den Kampf gegen die wirtschaftliche Zerrüttung, auf die Wiederherstellung der Wirtschaft und verharrte bei der Annahme eines umfangreichen Wiederherstellungsplans im Großen und Ganzen auf der Linie der Wirtschaftspolitik der Periode des Kriegskommunismus. Alle Beschlüsse dieses Parteitages, die das Schwergewicht auf die Wirtschaftsfront legen, sind auf dieser Politik aufgebaut und verwerfen damit alle Versuche sowohl der „Gruppe des demokratischen Zentralismus“ und ihrer Verbündeten unter den Wirtschaftlern und Gewerkschaftern [...], diese Grundlage in einer Situation zu untergraben, wo dies die Stellung des Proletariats im Kampf um die Aufrechterhaltung seiner Diktatur lediglich schwächen kannte. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 8, Anm. 77] Der IX. Parteitag fand im März-April 1920 statt. Koltschak und Denikin waren zu jener Zeit schon vernichtend geschlagen. In dem Bestreben, einen Krieg mit dem weißen Polen zu verhüten, machte die Sowjetregierung Polen eine Reihe von Friedensangeboten, in denen sie sich zu großen Zugeständnissen bereit erklärte. Die Partei machte die größten Anstrengungen, um den wirtschaftlichen Aufbau zu entfalten. Die wirtschaftlichen Fragen bildeten die Kernfragen des Parteitages. Auf dem Parteitag wurde der später zur Annahme gelangte Plan der Wiederherstellung und des Ausbaus der Volkswirtschaft beraten und angenommen: „Die grundlegende Voraussetzung für die wirtschaftliche Wiedergeburt des Landes“ – heißt es in dem Beschluss des Parteitages – „ist die strengste Durchführung eines für den nächsten Zeitabschnitt berechneten einheitlichen Wirtschaftsplans“. Ganz besonders wurde vom Parteitag die Wichtigkeit der Elektrifizierung hervorgehoben: „Bei der Durchführung dieses Plans müssen wir uns auf die neuesten technischen Errungenschaften stützen. Die technische Seite der Sache müssen wir derart anpacken, dass wir die großzügige Ausnutzung der elektrischen Kraft an die Spitze stellen“ (ebenda). Der Parteitag wies auf die Notwendigkeit hin, einen Plan zur Elektrifizierung der Volkswirtschaft und zur Verwirklichung des Minimalprogramms der Elektrifizierung auszuarbeiten. Der auf dem IX. Parteitag angenommene Plan zur Wiederherstellung der Volkswirtschaft des Landes, der unter den Bedingungen des Kriegskommunismus zustande kam, fasste die Anwendung solcher Methoden des Wirtschaftsaufbaus ins Auge, wie Arbeitsarmeen, allgemeine Arbeitspflicht usw. Der
bald nach dem Parteitag ausgebrochene Krieg gegen das weiße Polen
und gegen Wrangel
brachte den Versuch der Sowjetmacht, zum friedlichen wirtschaftlichen
Aufbau überzugehen, zum Scheitern. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 9, Anm 52]
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