NR. 14 VOM 3. FEBRUAR 1916 [nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 110-117] POLITISCHE BRIEFE 3. Februar 1916 W. G.! Wir bitten Sie, zu Ihrer persönlichen Information von folgenden Mitteilungen Kenntnis zu nehmen. Mit Parteigruß Spartacus DIE LEBENSFRAGE DES SOZIALISMUS Nicht von außen, sondern von innen brach die August-Katastrophe über die proletarische Klassenbewegung; nicht als Zufälligkeit, sondern als notwendiges Ergebnis des Zustandes, in dem sie sich beim Kriegsausbruch befand. Voraussetzung aller politischen Macht ist Aktionskraft, Voraussetzung aller Aktionskraft ist Einheitlichkeit des Willens und deren Voraussetzung wiederum: Einmütigkeit über Ziel und Mittel der Aktion. Diese Voraussetzungen bestanden in den sozialistischen Parteien für die Bedürfnisse des Alltags, sie fehlten fast überall für die letzten großen Fragen. In Staat und Wirtschaft, in der inneren und äußeren Politik drängte es vor dem Krieg auch in Deutschland, und dort vor allem, zu großen Entscheidungen. Die deutsche Sozialdemokratie wich ihnen aus; sie fühlte sich schwach, und sie war um so schwächer, je mehr sie ihre Gebresten unter dem pomphaften Mantel gewaltiger Worte und Zahlen verdeckte. Auch die Internationale wich aus: ein halb Dutzend Mal ergoss sie sich in Bannflüchen gegen den drohenden Weltbrand; nicht einmal ward von ihr die Grundfrage eindeutig gestellt, eindeutig beantwortet; nicht einmal fasste sie ein klares Aktionsprogramm gegen den Krieg; und auch sie vermochte es nicht über sich, ihre Mängel schonungslos zu enthüllen und so den einzigen Weg zur Kraft zu beschreiten. Diese innere Unwahrhaftigkeit der offiziellen sozialistischen Politik führte zu dem ungeheuerlichen Ausmaß der Enttäuschung vom August 1914, der Enttäuschung, die gerade, weil sie nur eine Aufklärung war, die Internationale um so rettungsloser dem Gespött überlieferte. Sie hatte jenen Fehler der politischen Rechnung veranlasst, der bis zum August 1914 die proletarische Bewegung falsch einstellte und die dann einsetzende Verwirrung um so heilloser gestaltete. Und die Schwäche der Bewegung selbst war, wechselwirkend und in gegenseitiger Steigerung, dieser inneren Unwahrhaftigkeit, dem von Wort und Zahl genährten Machtwahn, der unter der Flagge der „Einigkeit" betriebenen Vertuschungspolitik mit zu danken. Sie hinderten die prinzipielle und taktische Durchbildung des Proletariats, seine ernsthafte Vorbereitung zu schlagfertiger Aktion im entscheidenden Augenblick, halfen die Massen in den Instanzenkäfig sperren, setzten ohnmächtige Ekstase statt Tatkraft, klappernde Routine statt freier Initiative. Der Krieg legte die Krankheit und die Krankheitsherde bloß. Aus der Enttäuschung ward in immer weiteren Kreisen der Drang nach erbarmungsloser Ausrottung des Krebsschadens geboren. Immer weitere Kreise erkannten, dass Vertuschung der Gegensätze und Einheitsbetrug der Übel größtes sind und die Partei des internationalen und revolutionären Sozialismus, um ihre geschichtliche Aufgabe zu lösen, im Sozialismus, im Internationalismus und in der revolutionären Aktion nicht nur zum Schein, sondern in Wahrheit übereinstimmen muss. Aber schon beginnt ein neues Wort neue Nebel zu verbreiten: „Opposition". Schon beginnt in der „Opposition" das altböse Spiel der „Sammlung": „Einheit, Einheit über alles"; zwar nicht in der Gesamtpartei, aber in der – „Opposition". Was heißt „Opposition"? – Ein neuer Götze statt des eben gestürzten? Was heißt Sammlung? – Eine neue Unwahrheit statt der eben zerfetzten? Was heißt „Einheit"? – Eine neue lähmende „Disziplin" statt der eben durchbrochenen? Dreimal nein! Ja, wenn die „Opposition" eine Gemeinschaft des Geistes und des Willens wäre, einig in Prinzip und Taktik, aktionsfähig und aktionsbereit! Aber sie ist es nicht. Gemeinsame Arbeit, soweit Übereinstimmung herrscht – ja. Sammlung ohne Klärung, ohne Übereinstimmung? – Nein! Sammlung zur Unterwerfung rücksichtsloser Entschlossenheit unter die Botmäßigkeit vorsichtiger Rechnungsträgerei? – Nein! Heute, unter der Militärdiktatur und dem Burgfrieden, in den Tagen der Götterdämmerung und Sintflut, weniger als je. – Sammlung bis zu den Anhängern der Politik des 4. August, die sich heute von ungefähr zur „Opposition" rechnen? – Was da hieße: Sammlung auf dem Boden dieser Politik? – Nein! Auch nicht Zusammenschluss auf jener mittleren Linie, auf jener breiten und krummen Kompromissstraße des „marxistischen Zentrums". Keine andere Sammlung als auf der schnurgeraden Bahn, die die Grundsätze des internationalen revolutionären Sozialismus weisen, und von der nicht um Fußes Breite abgewichen werden darf, soll nicht die Zukunft eine noch traurigere Kopie der traurigen Vergangenheit und Gegenwart sein. Nicht „Einheit", sondern Klarheit über alles. Keine milde Duldsamkeit – auch nicht in der „Opposition" –, sondern ätzende Kritik bis in die letzte Faser, peinliche Abrechnung auf Heller und Pfennig. Durch unerbittliche Aufdeckung und Austragung der Differenzen zur prinzipiellen und taktischen Einmütigkeit und damit zur Aktionsfähigkeit und damit zur Einheit, so geht der Weg. Nicht den Beginn des Gärungsprozesses, den die sozialistischen Parteien und auch noch die „Opposition" durchläuft, erst seinen Abschluss darf die „Einheit" bilden. Und die reinigende Auseinandersetzung wird auch in der „Opposition" fortzusetzen sein, bis der Internationalismus, bis der absolute Vorrang des internationalen Klassenkampfes als leitendes Prinzip der proletarischen Bewegung anerkannt und in revolutionärer Aktionsbereitschaft Fleisch und Bein geworden ist. Oder soll an der Schwelle der neuen Internationale neue Vertuschung, neue Grenzverwischung stehen? Soll sie den „ärgsten", ältesten der Flüche erben, an dem die alte Internationale zugrunde ging? Dann lieber gleich zurück zum alten Sumpf, er ist nicht tiefer als der neue. Der Selbstverständigung, der Klärung, dem Kampfe für den unbedingten Internationalismus sollen diese Briefe dienen. Aufgabe des ersten war, wichtige Gegensätze innerhalb der „Opposition" anzuzeigen und damit die Legitimation für unser Vorhaben zu erbringen. Die folgenden Leitsätze sind eine Zusammenfassung der wesentlichen Gesichtspunkte, von denen wir unsere Aufgabe betrachten. Eine größere Anzahl von Genossen aus allen Teilen Deutschlands hat die folgenden Leitsätze angenommen, die eine Anwendung des Erfurter Programms auf die gegenwärtigen Probleme des internationalen Sozialismus darstellen. 1. Der Weltkrieg hat die Resultate der 40jährigen Arbeit des europäischen Sozialismus zunichte gemacht, indem er die Bedeutung der revolutionären Arbeiterklasse als eines politischen Machtfaktors und das moralische Prestige des Sozialismus vernichtet, die proletarische Internationale gesprengt, ihre Sektionen zum Brudermord gegeneinander geführt und die Wünsche und Hoffnungen der Volksmassen in den wichtigsten Ländern der kapitalistischen Entwicklung an das Schiff des Imperialismus gekettet hat. 2. Durch die Zustimmung zu den Kriegskrediten und die Proklamation des Burgfriedens haben die offiziellen Führer der sozialistischen Parteien in Deutschland, Frankreich und England (mit Ausnahme der Unabhängigen Arbeiterpartei) dem Imperialismus den Rücken gestärkt, die Volksmassen zum geduldigen Ertragen des Elends und der Schrecken des Krieges veranlasst und so zur zügellosen Entfesselung der imperialistischen Raserei, zur Verlängerung des Gemetzels und zur Vermehrung seiner Opfer beigetragen, die Verantwortung für den Krieg und seine Folgen mit übernommen. 3. Diese Taktik der offiziellen Parteiinstanzen der kriegführenden Länder, in allererster Linie in Deutschland, dem bisherigen führenden Lande der Internationale, bedeutet einen Verrat an den elementarsten Grundsätzen des internationalen Sozialismus, an den Lebensinteressen der Arbeiterklasse, an allen demokratischen Interessen der Völker. Dadurch ist die sozialistische Politik auch in jenen Ländern zur Ohnmacht verurteilt worden, wo die Parteiführer ihren Pflichten treu geblieben sind: in Russland, Serbien, Italien und – mit einer Ausnahme – Bulgarien. 4. Indem die offizielle Sozialdemokratie der führenden Länder den Klassenkampf im Kriege preisgab und auf die Zeit nach dem Kriege verschob, hat sie den herrschenden Klassen in allen Ländern Frist gewährt, ihre Positionen auf Kosten des Proletariats wirtschaftlich, politisch und moralisch ungeheuer zu stärken. 5. Der Weltkrieg dient weder der nationalen Verteidigung noch den wirtschaftlichen oder politischen Interessen irgendwelcher Volksmassen, er ist lediglich eine Ausgeburt imperialistischer Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Klassen verschiedener Länder um die Weltherrschaft und um das Monopol in der Aussaugung und Unterdrückung der noch nicht vom Kapital beherrschten Gebiete. In der Ära dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben. Die nationalen Interessen dienen nur als Täuschungsmittel, um die arbeitenden Volksmassen ihrem Todfeind, dem Imperialismus, dienstbar zu machen. 6. Aus der Politik der imperialistischen Staaten und aus dem imperialistischen Kriege kann für keine unterdrückte Nation Freiheit und Unabhängigkeit hervorsprießen. Die kleinen Nationen, deren herrschende Klassen Anhängsel und Mitschuldige ihrer Klassengenossen in den Großstaaten sind, bilden nur Schachfiguren in dem imperialistischen Spiel der Großmächte und werden ebenso wie deren arbeitende Massen während des Krieges als Werkzeug missbraucht, um nach dem Kriege den kapitalistischen Interessen geopfert zu werden. 7. Der heutige Weltkrieg bedeutet unter diesen Umständen bei jeder Niederlage und bei jedem Sieg eine Niederlage des Sozialismus und der Demokratie. Er treibt bei jedem Ausgang – ausgenommen die revolutionäre Intervention des internationalen Proletariats – zur Stärkung des Militarismus, der internationalen Gegensätze, der weltwirtschaftlichen Rivalitäten. Er steigert die kapitalistische Ausbeutung und die innerpolitische Reaktion, schwächt die öffentliche Kontrolle und drückt die Parlamente zu immer gehorsameren Werkzeugen des Militarismus herab. Der heutige Weltkrieg entwickelt so zugleich alle Voraussetzungen neuer Kriege. 8. Der Weltfriede kann nicht gesichert werden durch utopische oder im Grunde reaktionäre Pläne wie internationale Schiedsgerichte kapitalistischer Diplomaten, diplomatische Abmachungen über „Abrüstung", „Freiheit der Meere", Abschaffung des Seebeuterechts, „europäische Staatenbünde", „mitteleuropäische Zollvereine", nationale Pufferstaaten und dergl. Imperialismus, Militarismus und Kriege sind nicht zu beseitigen oder einzudämmen, solange die kapitalistischen Klassen unbestritten ihre Klassenherrschaft ausüben. Das einzige Mittel, ihnen erfolgreich Widerstand zu leisten, und die einzige Sicherung des Weltfriedens ist die politische Aktionsfähigkeit und der revolutionäre Wille des internationalen Proletariats, seine Macht in die Waagschale zu werfen. 9. Der Imperialismus als letzte Lebensphase und höchste Entfaltung der politischen Weltherrschaft des Kapitals ist der gemeinsame Todfeind des Proletariats aller Länder. Aber er teilt auch mit den früheren Phasen des Kapitalismus das Schicksal, die Kräfte seines Todfeindes in demselben Umfange zu stärken, wie er sich selbst entfaltet. Er beschleunigt die Konzentration des Kapitals, die Zermürbung des Mittelstandes, die Vermehrung des Proletariats, weckt den wachsenden Widerstand der Massen und führt so zur intensiven Verschärfung der Klassengegensätze. Gegen den Imperialismus muss der proletarische Klassenkampf im Frieden wie im Krieg in erster Reihe konzentriert werden. Der Kampf gegen ihn ist für das internationale Proletariat zugleich der Kampf um die politische Macht im Staate, die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Das sozialistische Endziel wird von dem internationalen Proletariat nur verwirklicht, indem es gegen den Imperialismus auf der ganzen Linie Front macht und die Losung „Krieg dem Kriege" unter Aufbietung der vollen Kraft und des äußersten Opfermutes zur Richtschnur seiner praktischen Politik erhebt. 10. Zu diesem Zwecke richtet sich die Hauptaufgabe des Sozialismus heute darauf, das Proletariat aller Länder zu einer lebendigen revolutionären Macht zusammenzufassen, es durch eine starke internationale Organisation mit einheitlicher Auffassung seiner Interessen und Aufgaben, mit einheitlicher Taktik und politischer Aktionsfähigkeit im Frieden wie im Kriege zu dem entscheidenden Faktor des politischen Lebens zu machen, wozu es durch die Geschichte berufen ist. 11. Die II. Internationale ist durch den Krieg gesprengt. Ihre Unzulänglichkeit hat sich erwiesen durch ihre Unfähigkeit, einen wirksamen Damm gegen die nationale Zersplitterung im Kriege aufzurichten und eine gemeinsame Taktik und Aktion des Proletariats in allen Ländern durchzuführen. 12. Angesichts des Verrats der offiziellen Vertretungen der sozialistischen Parteien der führenden Länder an den Zielen und Interessen der Arbeiterklasse, angesichts ihrer Abschwenkung vom Boden der proletarischen Internationale auf den Boden der bürgerlich-imperialistischen Politik ist es eine Lebensnotwendigkeit für den Sozialismus, eine neue Arbeiter-Internationale zu schaffen, welche die Leitung und Zusammenfassung des revolutionären Klassenkampfes gegen den Imperialismus in allen Ländern übernimmt. Sie muss, um ihre historische Aufgabe zu lösen, auf folgenden Grundlagen beruhen: 1. Der Klassenkampf im Innern der bürgerlichen Staaten gegen die herrschenden Klassen und die internationale Solidarität der Proletarier aller Länder sind zwei unzertrennliche Lebensregeln der Arbeiterklasse in ihrem welthistorischen Befreiungskampfe. Es gibt keinen Sozialismus außerhalb der internationalen Solidarität des Proletariats, und es gibt keinen Sozialismus außerhalb des Klassenkampfes. Das sozialistische Proletariat kann weder im Frieden noch im Kriege auf Klassenkampf und auf internationale Solidarität verzichten, ohne Selbstmord zu begehen. 2. Die Klassenaktion des Proletariats aller Länder muss im Frieden wie im Kriege auf die Bekämpfung des Imperialismus und Verhinderung der Kriege als auf ihr Hauptziel gerichtet werden. Die parlamentarische Aktion, die gewerkschaftliche Aktion wie die gesamte Tätigkeit der Arbeiterbewegung muss dem Zweck untergeordnet werden, das Proletariat in jedem Lande aufs schärfste der nationalen Bourgeoisie entgegenzustellen, den politischen und geistigen Gegensatz zwischen beiden auf Schritt und Tritt hervorzukehren sowie gleichzeitig die internationale Zusammengehörigkeit der Proletarier aller Länder in den Vordergrund zu schieben und zu betätigen. 3. In der Internationale liegt der Schwerpunkt der Klassenorganisation des Proletariats. Die Internationale entscheidet im Frieden über die Taktik der nationalen Sektionen in Fragen des Militarismus, der Kolonialpolitik, der Handelspolitik, der Maifeier, ferner über die gesamte im Kriege einzuhaltende Taktik. 4. Die Pflicht zur Ausführung der Beschlüsse der Internationale geht allen anderen Organisationspflichten voran. Nationale Sektionen, die ihren Beschlüssen zuwiderhandeln, stellen sich außerhalb der Internationale. 5. In den Kämpfen gegen den Imperialismus und den Krieg kann die entscheidende Macht nur von den kompakten Massen des Proletariats aller Länder eingesetzt werden. Das Hauptaugenmerk der Taktik der nationalen Sektionen ist somit darauf zu richten, die breiten Massen zur politischen Aktionsfähigkeit und zur entschlossenen Initiative zu erziehen, den internationalen Zusammenhang der Massenaktion zu sichern, die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen so auszubauen, dass durch ihre Vermittlung jederzeit das rasche und tatkräftige Zusammenwirken aller Sektionen gewährleistet und der Wille der Internationale so zur Tat der breitesten Arbeitermassen aller Länder wird. 6. Die nächste Aufgabe des Sozialismus ist die geistige Befreiung des Proletariats von der Vormundschaft der Bourgeoisie, die sich in dem Einfluss der nationalistischen Ideologie äußert. Die nationalen Sektionen haben ihre Agitation in den Parlamenten wie in der Presse dahin zu richten, die überlieferte Phraseologie des Nationalismus als bürgerliches Herrschaftsinstrument zu denunzieren. Die einzige Verteidigung aller wirklichen nationalen Freiheit ist heute der revolutionäre Klassenkampf gegen den Imperialismus. Das Vaterland der Proletarier, dessen Verteidigung alles andere untergeordnet werden muss, ist die sozialistische Internationale. |
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