NR. 5 VOM AUGUST 1915 [nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 22-29] ZUR INFORMATION PROTEST DER NIEDERRHEINISCHEN PARTEIPRESSE An die Redaktionen der Parteipresse! Werte Kollegen! Die unterzeichneten Parteiredaktionen halten es für nötig, darauf hinzuweisen, dass es ihnen gegenwärtig nicht möglich ist, in dem von ihnen für richtig und notwendig gehaltenen Sinne in die gegenwärtigen Parteidebatten einzugreifen. Im Bezirk des VII. Armeekorps wird gegen die linksstehenden Parteiblätter die Vorzensur mit aller Strenge ausgeübt, die jede Vertretung sozialdemokratischer Grundsätze unmöglich macht. Insbesondere war es trotz aller Mühe nicht zu erzielen, dass zu den Fragen Stellung genommen werden konnte, die im Anschluss an die Veröffentlichung der Genossen Bernstein, Haase und Kautsky, das Zirkular der Parteiminderheit und den Friedensaufruf des Parteivorstandes auftauchten.1 Es würde sonst nicht verfehlt worden sein, namentlich die verwerfliche Hetze gegen den Genossen Haase entschieden zurückzuweisen. Ob unter solchen Umständen die rechtsstehende Parteipresse, die von der Zensur wenig oder nicht behelligt wird, ihre günstigere Lage weiter zur Schaffung eines entstellten Bildes der Parteimeinung ausnützen will, bleibt ihr überlassen. Die unterzeichneten Redaktionen weisen jedenfalls jegliche Verantwortung für die Wirkungen eines derartigen Verhaltens von sich Mit Parteigruß Die Redaktionen der „Freien Presse", Elberfeld, „Arbeiterzeitung", Remscheid, „Bergische Arbeiterstimme", Solingen, „Volkszeitung", Düsseldorf, „Niederrheinische Arbeiter-Zeitung", Duisburg, „Arbeiterzeitung", Essen. EINE DENUNZIATION Im Karlsruher „Volksfreund" erschien am 17. Juni folgende Notiz: „Ein Flugblatt2, welches sich an die Frauen des arbeitenden Volkes wendet und das als Drucker die Schweizerische Societätsdruckerei' nennt, ist gestern Abend und in der Nacht hier verbreitet worden. Dasselbe ergeht sich in allerhand unverantwortlichen Redensarten, mit denen nicht das Geringste bezweckt wird und nur die Gemüter erregt werden. Wir möchten unsere Parteiangehörigen dringend ersuchen, ihre Hand zur weiteren Verbreitung des Machwerks nicht zu bieten, und die Frauen warnen wir, sich ja nicht zu Unbesonnenheiten hinreißen zu lassen. In Berlin sind mehrere Frauen dieserhalb verhaftet worden, die schwer bestraft werden können. Die Partei hat selbstredend nichts mit dem Flugblatte zu tun. Dieselbe wird nichts versäumen, was vernunftgemäß den Frieden zu fördern geeignet ist." Die Wirkung dieser „Warnung" war, dass in den nächsten Tagen mehrere Karlsruher Genossen verhaftet wurden, bisher insgesamt 20, zuletzt auch die Genossin Zetkin. Als bekannt wurde, dass die Verhafteten gefesselt vorgeführt worden sind, verteidigte derselbe Karlsruher „Volksfreund" (Redakteur: Genosse Kolb) noch die badische Justiz. Am 30. Juni erschien nämlich folgende Notiz im „Volksfreund": „,Gefesselte Flugblattverbreiter' Unter diesem Stichwort wird in der ganzen Parteipresse über die Vorführung der in Karlsruhe wegen einer Flugblattverbreitung verhafteten Genossen berichtet. Tatsache ist, dass einige der Verhafteten seiner Zeit mit der Zange an der Hand vorgeführt wurden. Dazu sind die mit dem Auftrag der Vorführung betrauten Schutzleute laut § 60 der Hausordnung für die badischen Kreis- und Amtsgefängnisse verpflichtet, sofern sie von dem vorgesetzten Untersuchungsrichter oder Staatsanwalt von dieser Pflicht nicht entbunden werden. Das letztere ist gegenüber den verhafteten Genossen schon vor längerer Zeit geschehen. Wir freuen uns, diese Tatsache hiermit feststellen zu können. Bei dieser Gelegenheit möchten wir den unsinnigen Gerüchten, die in dieser Sache zu bestimmten Zwecken kolportiert werden, entgegentreten. So wurde vor einigen Wochen das Gerücht verbreitet, die verhafteten Genossen seien in Ketten gefesselt. Daran ist kein wahres Wort." (Vom „Volksfreund" selbst unterstrichen.) Diese Notiz (schon die Gänsefüßchen der Überschrift sind bezeichnend) geht in der Verteidigung noch weiter als die amtliche „Karlsruher Zeitung". Kolb sagt, die Beamten waren zur Fesselung verpflichtet; das amtliche Organ sagt nur, sie waren dazu berechtigt. DIE ITALIENISCHE SOZIALDEMOKRATIE UND DIE INTERNATIONALE In seiner Sitzung vom 18. Juni beschäftigte sich der italienische Parteivorstand mit den Maßnahmen zur Wiederherstellung der internationalen Beziehungen und zur Erkämpfung des Friedens. Berichterstatter waren die Genossen Parteisekretär Lazzari und Abgeordneter Morgari. Nach einer lebhaften und ergiebigen Aussprache wurde eine Tagesordnung von Genossen Vella angenommen, deren Inhalt lautet: „Die Parteileitung bestätigt ihre Bologneser Beschlüsse zur Wiederherstellung der internationalen Aktion, das heißt Einberufung einer internationalen Konferenz der auf dem Boden des Klassenkampfes stehenden Organisationen für den Frieden, gegen den Krieg und gegen den Burgfrieden. Die Parteileitung nimmt Bezug auf die letzte Rede des Abgeordneten Ebert im Deutschen Reichstage3 und erklärt mit aller Energie und Bestimmtheit, dass die Haltung der Sozialdemokratie Italiens in keiner Weise von der Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie als Rechtfertigung für ihr Verhalten angerufen werden kann, ein Verhalten, das jeglicher sozialistischen Orientierung vollständig entbehrt. Die Parteileitung wünscht, dass die Mehrheit der deutschen Partei, in voller Übereinstimmung und Harmonie mit der mutigen Haltung des Genossen Karl Liebknecht und der gegen den Krieg bestehenden Opposition, in dieser traurigen Stunde die Kraft zu finden wisse, um eine männliche Aktion durchzuführen zur Wiedererlangung der ganzen sozialistischen Vergangenheit des Proletariats und zur Schaffung einer Zukunft, aus der die Internationale von morgen hervorgehen wird. Die Parteileitung bedauert die fortgesetzte Untätigkeit des Internationalen Sozialistischen Büros und den Widerstand gegenüber den Bemühungen, die die italienische Sozialdemokratie unternommen hat. Die Parteileitung beauftragt das Parteisekretariat und den Genossen Morgari, die Bemühungen bei den sozialistischen Parteien oder Fraktionen von solchen, die dem Ideal der Internationalen treu geblieben sind, fortzusetzen, um die internationalen Beziehungen wieder aufzunehmen, einen außerordentlichen internationalen Kongress einzuberufen, der geeignet ist, eine energische Friedensbedingung einzuleiten mit dem Ziele, den Respekt und die gegenseitige Achtung der Völker herzustellen und ein Regime der Schiedsgerichte und der Entwaffnung herbeizuführen." VERBOT DER PARTEITÄTIGKEIT DURCH EINEN GENERAL Ein Genosse in Düsseldorf empfing folgendes Schreiben: Die Polizeiverwaltung Düsseldorf, den 23. Juli 1915 Der Oberbürgermeister Hiermit setze ich Sie auf Grund der Verfügung des stellvertretenden Generalkommandos des VII. Armeekorps ergebenst davon in Kenntnis, dass Ihnen das Reden in Versammlungen nicht mehr gestattet wird. Ich betone ausdrücklich, dass diese Maßnahme sich nicht gegen die Partei, der Sie angehören, richtet. Es handelt sich lediglich um ein im Interesse der öffentlichen Sicherheit erlassenes Verbot, das seine Ursachen in Ihrem persönlichen Auftreten und Reden in den bisherigen Versammlungen findet. Ich setze voraus, dass Ihnen bekannt ist, dass eine Übertretung dieses im Interesse der öffentlichen Sicherheit erlassenen Verbots gemäß § 9b des Gesetzes über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851 betrachtet werden würde. In Vertretung (Name unleserlich) RESOLUTION DER MINDERHEIT IM PARTEIAUSSCHUSS Der Parteiausschuss erklärt: 1. Der Parteiausschuss ist nach unserem Organisationsstatut nur ein gutachtlicher Beirat des Parteivorstandes, muss dem Parteivorstand allein die Verantwortung für seine Beschlüsse und Handlungen überlassen und will mit seinem Gutachten der Entscheidung des Parteitages nicht vorgreifen. 2. In der als Flugblatt verbreiteten Eingabe der Genossen Agnes, Albrecht usw. an Parteivorstand und Vorstand der Reichstagsfraktion erblicken wir keinen Versuch der Parteizerrüttung, sondern ein durchaus zulässiges Unternehmen, im Rahmen der Parteiorganisation für eine von der Parteivorstandsmehrheit abweichende Meinung zu wirken. 3. Wir billigen, ohne uns mit allen Einzelheiten des Flugblattes einverstanden zu erklären, den wesentlichen Kern dieses Flugblattes, nämlich: die Forderung der Abkehr von der bisherigen Stellungnahme des Parteivorstandes und der Reichstagsfraktion zum Kriege, Aufsagung des von der andern Seite der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gegenüber oftmals nicht gehaltenen Burgfriedens, Verweigerung weiterer Kriegskredite, da, nach den klaren Kundgebungen von Vertretern aller bürgerlichen Parteien und von Regierungsvertretern, der Krieg, ganz gleich, wie er anfänglich zu beurteilen war, unzweifelhaft jetzt zu Eroberungszwecken Deutschlands weitergeführt wird. 4. Wir verwerfen nach wie vor alle Pläne auf gewaltsame, politische, militärische oder wirtschaftliche Angliederung fremder Gebiete an das Deutsche Reich. 5. Wir billigen völlig die Erklärung4 der Genossen Bernstein, Haase und Kautsky und sind der Meinung, dass Genosse Haase Recht und Pflicht hatte, nachdem seine wiederholten Bemühungen gescheitert waren, Parteivorstand und Reichstagsfraktion für seine Absichten zu gewinnen, seine abweichende Meinung den Parteigenossen vorzutragen. 6. Wir verwahren uns gegen jeden Versuch, das elementare Recht der freien Meinungsäußerung durch Wort und Schrift den Parteigenossen zu beschränken, auch wenn ihre Meinung noch so schroff abweicht von der des Parteivorstandes. Gottschalk, Fleißner, Lipinski, Hennig, Antrick, Dißmann, Horn GROSSE RESOLUTION DER BERLINER FRAUENKONFERENZ „Die nach einem Jahre des furchtbaren Weltkrieges am 1. August 1915 tagende Frauenkonferenz Groß-Berlins erklärt sich mit der von der internationalen Sekretärin einberufenen Frauenkonferenz in Bern einverstanden. Sie betrachtet sie als einen Beweis unerschütterlicher Treue zum internationalen Sozialismus und begrüßt daher die Teilnahme der deutschen Genossinnen. Die Konferenz fordert vom Parteivorstand ein energisches Eintreten für den Frieden im Sinne des Aufrufs ,Das Gebot der Stunde' der Genossen Bernstein, Haase, Kautsky." Diese Resolution wurde nach einem Referat des Parteivorstandsmitgliedes Molkenbuhr (über „Was hat die Partei für den Frieden getan?") eingebracht. Alle (etwa 10) Diskussionsrednerinnen griffen Molkenbuhr sehr scharf an. Die Abstimmung über die Resolution wurde trotz stürmischen Verlangens der Konferenzteilnehmerinnen von dem Leiter der Versammlung, Genossen Eugen Ernst, nicht zugelassen. Zum Protest gegen diese Bevormundung verließ die Hälfte der Versammlung den Versammlungsraum. Wie eine Genossin ohne Widerspruch feststellte, blieben die übrigen 100 Teilnehmerinnen nur im Saal, um die zweite Referentin, die über das „weibliche Dienstjahr" sprechen wollte, nicht zu kränken. EINE ERKLÄRUNG Die aus den Genossen Westmeyer, Engelhardt, Hoschka bestehende Sozialistische Vereinigung des württembergischen Landtages hat ihre Zustimmung zum Budget mit folgender Erklärung verweigert: „Die Unterzeichneten lehnen den Hauptfinanzetat und das Finanzgesetz für 1915 ab, entsprechend ihrer Überzeugung, die mit den sozialistischen Grundsätzen und den Beschlüssen der Parteitage der Sozialdemokratie Deutschlands übereinstimmt. Nach dieser unserer Überzeugung ist der Staat die Herrschaftsorganisation der besitzenden Klassen. Dieser Organisation müssen wir die Mittel zu ihrer Betätigung, dem Regierungsausschuss der herrschenden Klassen jede Vertrauenskundgebung grundsätzlich verweigern. Schärfer denn je hat der Krieg mit seinen imperialistischen Zielen den Klassencharakter des Staates beleuchtet. Wenn etwas geeignet war, uns in unserer Überzeugung zu festigen und unsere ablehnende Haltung als den Interessen des arbeitenden Volkes entsprechend zu begründen, so die dem Charakter des Staates entspringende Unfähigkeit, der durch den Krieg verursachten Not der weitesten Bevölkerungskreise wirksam zu begegnen und das allgemeine Wohl dem Profitinteresse der Besitzenden überzuordnen. Hinzu kommt die Wehrlosmachung des arbeitenden Volkes im Kampfe gegen seine Ausbeuter durch die Beseitigung des gesetzmäßigen Zustandes auf dem Gebiet des Vereins-, Versammlungs- und Pressewesens, die Aufhebung des durch die Verfassung gewährleisteten wichtigen Rechts jedes Staatsbürgers. Die von sämtlichen Parteien des Hauses beliebte Art der Erledigung des Etats widerspricht zudem der Verantwortung, die wir unserer Überzeugung nach mit der Annahme des Mandats dem Volke gegenüber übernommen haben." Sämtliche Parteien mit Einschluss der sozialdemokratischen Fraktion stimmten dem Etat zu. DIE GESPENSTERHAFTE ZEITUNG Die schweizerische Parteipresse meldet nach dem „Temps": „Die deutschen Behörden in Belgien setzen ihre eifrigsten Nachforschungen nach dem Redakteur und Verleger der „Libre Belgique" (Freies Belgien) fort, jenem mysteriösen Blatte, das mitten im besetzten Belgien erscheint und den Unterdrückern grausame Wahrheiten sagt. Der Gouverneur von Belgien erhält jede Nummer des Blattes. Er hat eine Prämie von 15.000 Franken auf den Kopf des Redakteurs ausgesetzt, aber alle Bemühungen, seiner habhaft zu werden, blieben nutzlos. Wenn Nachforschungen und Haussuchungen in Brüssel vorgenommen werden, erscheint das Blatt plötzlich in Lüttich; sucht man es in Lüttich, erscheint es auf einmal in Antwerpen; ist man ihm hier auf der Spur, kommt es plötzlich in Gent heraus, und wenn man schon meint, es hier fassen zu können, verlegt es seine Herausgabe nach Namur oder Mons." 1Gemeint sind folgende Dokumente: Das Gebot der Stunde. In: Leipziger Volkszeitung Nr. 139 vom 19. Juni 1915. Protestschreiben oppositioneller Sozialdemokraten vom 9. Juni 1915 an den Vorstand der SPD und den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gegen die Burgfriedenspolitik. In: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe II, Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1958, Dok. Nr. 64. Sozialdemokratie und Frieden. Aufruf des SPD-Vorstandes vom 23. Juni 1915. In: Vorwärts Nr. 174 vom 26. Juni 1915, 1. Beilage. 2 Manifest der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Bern vom 26. bis 28. März 1915. In: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe II, Bd. 1, Berlin 1958, Dok. Nr. 55. 3 Gemeint ist die Rede vom 29. Mai 1915, in der Ebert die These vom Verteidigungskrieg, den Deutschland führe, wiederholte. Demgegenüber führe Italien einen Angriffs- und Eroberungskrieg. In dieser Beziehung seien sich die italienischen mit den deutschen Sozialdemokraten einig. 4 Gemeint ist die Erklärung: Das Gebot der Stunde. In: Leipziger Volkszeitung Nr. 139 vom 19. Juni 1915. |
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