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Der einzige Weg 19380100 Das Eis beginnt zu brechen!

Das Eis beginnt zu brechen!

Die Erklärungen Barmins und Krivitskys

[Nach Der einzige Weg, Zeitschrift für die Vierte Internationale, Nr. 2 (Januar 1938), S. 35 f.]

Das Ende des vergangenen Jahres brachte eine Reihe erfreulicher Tatsachen, die geeignet sind, der Sache der sozialen Revolution, und das heißt der Sache der 4. Internationale große Dienste zu leisten und unsern Kampfwillen zu steigern. An erster Stelle steht die Bekanntgabe des sachkundigen und autoritativen Urteils der amerikanischen Untersuchungskommission, gefällt auf Grund einer umfassenden und gründlichen, wissenschaftlicher Methode vergleichbaren Prüfung des Falles Leo Trotzki. Jedes einzelne Wort der verleumderischen Anklagen Moskaus zerrann zu Nichts. Übrig blieb eine ungeheuerliche Anhäufung von Lüge. Fälschung und Verbrechen. In dem Maße wie die Wahrheit über den Stalinismus um sich greift, wenden sich dessen Schandtaten gegen den Urheber. Reiss war ein Symptom und Signal. Sein leider tragisches Ende offenbarte Stalins Furcht vor den vielen unbekannten Reiss’ seines Apparats. Die terroristische Einschüchterung verhinderte indessen weder die Enthüllungen des ermordeten Genossen, noch die Rückkehr seiner Gesinnungsfreunde vom Thermidor zum Oktober. Vor kurzem brachen zwei hohe Sowjetfunktionäre öffentlich mit Stalin und bekannten sich wieder zum wirklichen Lenin. Die wichtigsten Stellen ihrer Erklärungen, die sie in der Folge noch ergänzten, sind hier abgedruckt. Die angeführten Tatsachen bestätigen die trotzkistischen Aussagen; denn weder die Mitglieder der amerikanischen Untersuchungskommission noch Barmin und Krivitzky sind Trotzkisten. Man kann einwenden, dass eine Schwalbe noch keinen Sommer macht – aber der ersten Schwalbe folgen bald die andern. Ende des verflossenen Jahres erschienen ferner Trotzkis Buch «Stalins Verbrechen» und erstmals in deutscher Sprache seine «Verratene Revolution». Aber auch der «Einzige Weg» wird von nun an Seite an Seite mit allen andern Publikationen der 4. Internationale an der Verbreitung, Vertiefung und Verwirklichung ihres Gedankenguts mitwirken. Es kracht im Gebälk des Stalinismus nicht minder als in jenem des Weltkapitals. Umso zuversichtlicher und lauter klingt unser Ruf ins neue Jahr: Auf zum Gefecht für den Sieg der 4. Internationale!

Der Geschäftsträger der USSR in Athen und ein General der Roten Armee erklären sich öffentlich gegen Stalin und für die Politik Lenins.

Die wichtigsten Stellen der beiden Erklärungen lauten:

Soeben aus dem Dienst der Sowjetregierung ausgeschieden, halte ich es für meine Pflicht, die nachfolgenden Tatsachen zu Ihrer Kenntnis zu bringen und tief empört zu protestieren gegen die Verbrechen, deren Zahl mit jedem Tage wächst.

Erster Sekretär der Gesandtschaft der USSR in Athen seit Dezember 1935, dann ab März 1937 Geschäftsträger der USSR in Athen, stand ich 19 Jahre lang im Dienste der Sowjetregierung, gehörte 19 Jahre hindurch der russischen Kommunistischen Partei an, habe für das Sowjetregime gekämpft und meine ganze Kraft dem Arbeiterstaat gewidmet.

Die Moskauer Prozesse, die vor einiger Zeit stattfanden, riefen in mir Bestürzung und Entsetzen hervor. Es war mir unmöglich die Hinrichtung der alten Führer der Revolution gutzuheißen, trotz den Geständnissen, mit denen sie nicht sparten: jenen Geständnissen, die einerseits nur meine Gewissenszweifel verstärkten, andererseits aber meine letzten Illusionen verlängerten.

Meine innige Verbundenheit mit der Arbeiterklasse und dem Volk der Sowjetunion und der Umstand, dass es mir schwer fiel, an die Möglichkeit solcher Verbrechen ihrer Leiter zu glauben, veranlassten mich zunächst in aller Aufrichtigkeit mir Gewalt anzutun und mich mit den Tatsachen abzufinden. Ich hoffte dadurch, dass ich mich hierzu zwang, noch der Sache des Sozialismus zu dienen. Allein die Ereignisse der letzten Monate (der Monate, die ich zwecks Erholung in Frankreich zubrachte) lassen keinen Raum mehr für Illusionen. Aufsehenerregende Prozesse haben die massenweise Vernichtung der alten Kader der Kommunistischen Partei der USSR vorbereitet, d.h. der Männer, die den Kampf in der Illegalität geführt, die Revolution und den Bürgerkrieg gemacht und schließlich den Sieg des ersten Arbeiterstaats gesichert hatten … und die heute mit Schmutz beworfen und dem Henker ausgeliefert werden. Da wurde mir klar, dass in meinem Lande eine reaktionäre Diktatur im Entstehen ist. …

Ich möchte an die öffentliche Meinung den dringendsten und verzweifeltsten Appell richten, einen Appell wenigstens zugunsten derjenigen, die vielleicht noch am Leben sind, und gegen die falschen und nichtswürdigen Beschuldigungen. Ich denke an meine Freunde, die in den anderen Ländern Europas, Asiens oder Amerikas auf ihren Posten geblieben, die tagtäglich von einem ähnlichen Schicksal bedroht und vor das tragische Dilemma gestellt sind: heimkehren, dem sicheren Tod entgegen, oder darauf verzichten, das Vaterland wiederzusehen, und sich den Kugeln der Agenten der Geheimpolizei im Ausland aussetzen, jener Agenten, die noch bis in die allerletzte Zeit hinein mich auf Schritt und Tritt verfolgten.

Im Dienste der Regierung Stalins verbleiben, das hätte für mich da Versinken in die tiefste Demoralisation bedeutet, das hätte mich für meinen Teil mitverantwortlich gemacht für die Verbrechen, die Tag für Tag an dem Volk meines Landes begangen werden. Es wäre Verrat an der Sache des Sozialismus gewesen, der ich mein ganzes Leben geweiht habe.

Ich gehorche meinen Gewissen und breche mit dieser Regierung. Ich bin mir im Klaren über die Gefahren, denen ich mich damit aussetze. Ich unterzeichne mein eigenes Todesurteil und setze mich den Anschlägen der gedungenen Mörder aus. Diese Vorstellung vermag in keiner Weise die Linie meines Handelns zu ändern. …

Ich gehorche meinem Gewissen in der Überzeugung, dadurch mehr denn je den Ideen Treue zu erzeigen, denen ich mein ganzes Leben hindurch gedient habe.

Möge meine Stimme beitragen, die öffentliche Meinung aufzuklären über ein Regime, das tatsächlich jeden Sozialismus und jede Menschlichkeit verleugnet.

Mit vorzüglicher Hochachtung,

Alexander Barmin (Graff).

I. XII. 1937.


Achtzehn Jahre lang habe ich der russischen kommunistischen Partei und der Sowjetmacht treu gedient, fest überzeugt, damit der Sache der Oktoberrevolution und der Arbeiterklasse zu nützen. Mitglied der russischen kommunistischen Partei seit 1919, gehörte ich lange Jahre hindurch den leitenden Kadern der Roten Armee an, war dann Leiter des Kriegsindustrieinstituts und führte in den letzten zweieinhalb Jahren im Ausland besondere Aufträge aus. Die leitenden Stellen der Partei und der Sowjets haben mir stets Vertrauen geschenkt. Ich wurde mit dem Orden der Roten Fahne ausgezeichnet und erhielt einen sog. «Ehren»-Degen.

In den letzten Jahren beobachtete ich mit steigender Beklemmung die Politik der Sowjetregierung. Doch über meine Besorgnis stellte ich die Verteidigung der mir rechtmäßig erscheinenden Interessen der Sowjetunion, da ich mir bewusst war, dass meine Arbeit ihr nützte und somit für die Sache des Sozialismus notwendig war. Jedoch der weitere Verlauf der Ereignisse überzeugte mich davon, dass die Politik der Stalinregierung zu den Interessen nicht nur der Sowjetunion, sondern auch der Arbeiterbewegung überhaupt immer mehr in Gegensatz geriet. …

Mit Methoden, die man schließlich doch erfahren wird (z.B. das Verhör Smirnows und Mratschkowskis) und die im Westen schier unglaublich scheinen, pressen Stalin und der GPU-Chef Jeschow ihren Opfern «Geständnisse» ab und inszenieren sie abscheuliche Prozesse.

Jeder neue Prozess, jede Erschießung erschütterte mein Vertrauen immer mehr. Ich besaß genug Anhaltspunkte um zu wissen, wie diese Prozesse zustande kamen, und zu begreifen, dass da Unschuldige in den Tod gingen. Doch lange versuchte ich, mein Entsetzen, meine Empörung und Beklemmung zurückzudrängen, mir einzureden, dass ich die wichtige mir anvertraute Arbeit fortsetzen müsse. Es hatdas muss ich zugebeneine außerordentliche Anstrengung gekostet, mich zum Bruch mit Moskau zu entscheiden und im Ausland zu bleiben.

Dadurch, dass ich im Ausland bleibe, wird es mir hoffentlich möglich sein, zur Rehabilitierung der zehntausenden von angeblichen Spionen und «Gestapoagenten» beizutragen, die in Wahrheit der Arbeitersache treu ergebene Kämpfer sind. Sie werden verhaftet, verbannt, erschossen, dahin gemordet von den heutigen Herren eines Regimes, das sie unter Lenins Leitung selbst schufen und nach seinem Tode weiter festigen halfen.

Ich weißund ich habe Beweise dafür,dass auf meinem Kopf ein Preis steht. Ich weiß, dass die GPU nichts spart, um mich durch Ermordung zum Schweigen zu bringen, dass Dutzende von zu allem bereiten Leuten in Jeschows Diensten mir zu diesem Zweck auf den Fersen sind. Ich halte es als revolutionärer Kämpfer für meine Pflicht, die internationale Arbeiteröffentlichkeit von all dem in Kenntnis zu setzen.

W. Krivitzky (Walter).

5. Dezember 1937.

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