Georgi Plechanow: Grundprobleme des Marxismus [Nach der deutschen Ausgabe Dietz Verlag Berlin 1958. Russischer Originaltitel: Г. Плеханов: Основные вопросы марксизма] Der Marxismus ist eine ganze Weltanschauung. Er ist, kurz gesagt, der moderne Materialismus, die höchste zu gegenwärtiger Zeit erreichte Entwicklungsstufe jener Weltbetrachtung darstellend, deren Grundlagen schon im antiken Griechenland durch Demokrit, zum Teil aber auch durch die Demokrit vorhergegangenen ionischen Denker gelegt worden waren: der sogenannte Hylozoismus ist nichts anderes als ein naiver Materialismus. Das Hauptverdienst an der Ausbildung des modernen Materialismus gehört unstreitig Karl Marx und seinem Freunde Friedrich Engels. Die historische und ökonomische Seite dieser Weltanschauung, d.h. der sogenannte historische Materialismus und das mit ihm eng verknüpfte Ganze der Anschauungen von den Aufgaben, der Methode und den Kategorien der politischen Ökonomie und von der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft, insbesondere aber der kapitalistischen – erscheint in ihren Grundzügen fast ausschließlich als das Werk von Marx und Engels. Was auf diesen Gebieten von ihren Vorläufern beigebracht worden war, kann nur als Vorarbeit betrachtet werden, als Sammlung eines Materials, das zuweilen reich und wertvoll war, aber noch nicht systematisiert, noch nicht erhellt von einem allgemeinen Gedanken, daher noch nicht gewürdigt und nicht ausgenutzt in seiner wahren Bedeutung. Was auf denselben Gebieten von den Nachfolgern Marx' und Engels' in Europa und Amerika geleistet wurde, stellt nur die mehr oder minder gelungene Behandlung von einzelnen, mitunter allerdings höchst wichtigen Problemen dar. So geschieht es denn, dass nicht nur beim „großen Publikum", das sich bis auf den heutigen Tag noch nie zu einem tieferen Verständnis für philosophische Lehren herangebildet hat, sondern selbst bei Leuten, die sich für treue Nachfolger Marx' und Engels’ halten – und dies nicht nur in Russland, sondern in der gesamten zivilisierten Welt –, mit dem Ausdruck „Marxismus" gewöhnlich gerade nur die zwei eben genannten Seiten der modernen materialistischen Weltanschauung bezeichnet werden. Diese ihre zwei Seiten werden in solchem Falle als etwas vom „philosophischen Materialismus" vollkommen Unabhängiges, wo nicht gar ihm Entgegengesetztes betrachtet.A Da aber diese zwei Seiten, willkürlich herausgerissen aus dem gesamten Gefüge der ihnen verwandten und ihre theoretische Begründung darstellenden Anschauungen, nun doch nicht in der Luft hängen können, so entsteht bei den Leuten, die jene Operation des Herausreißens vorgenommen haben, auf die natürlichste Weise von der Welt das Bedürfnis, „den Marxismus" aufs Neue „zu begründen": man vereinigt also – wiederum völlig willkürlich und zumeist unter dem Einfluss der unter den Ideologen der Bourgeoisie zur Zeit herrschenden philosophischen Strömungen – den Marxismus mit dieser oder jener Philosophie, mit Kant, mit Mach, mit Avenarius, mit Ostwald, in jüngster Zeit mit Josef Dietzgen. Die philosophischen Anschauungen Dietzgens sind allerdings ganz unabhängig von bürgerlichen Einflüssen entstanden und der philosophischen Denkweise von Marx und Engels in bedeutendem Maße verwandt. Diese letztere aber verfügt über einen unvergleichlich ebenmäßigeren und reicheren Inhalt und lässt sich schon allein aus diesem Grunde mit Hilfe der Dietzgenschen Lehre nicht ergänzen, zum höchsten vielleicht popularisieren. Bis jetzt ist noch kein Versuch unternommen worden, Marx durch Thomas von Aquino zu „ergänzen". Doch ist es durchaus kein Ding der Unmöglichkeit, dass trotz der neuerlichen päpstlichen Enzyklika wider die Modernisten die katholische Welt eines Tages aus ihrer Mitte einen Denker erstehen lässt, der dieser theoretischen Großtat fähig sein wird. I Man pflegt die Notwendigkeit einer „Ergänzung" des Marxismus durch diese oder jene Philosophie gewöhnlich damit zu begründen, dass Marx und Engels ihre philosophischen Auffassungen nirgends dargestellt hätten. Ein solcher Hinweis ist jedoch wenig überzeugend; selbst wenn dem so wäre, wenn diese Anschauungen in der Tat eine Darstellung überhaupt nicht erhalten hätten: so gäbe dies noch nicht die geringste Begründung dafür, dass man ihre Anschauungen durch die des ersten besten Denkers ersetzte, der, wie dies zumeist der Fall, auf vollkommen anderem Standpunkt steht. Es muss daran erinnert werden, dass wir an literarischem Material genug besitzen, um uns von den philosophischen Anschauungen Marx' und Engels' einen richtigen Begriff zu bilden.B In ihrer endgültig ausgearbeiteten Gestalt sind diese Anschauungen mit hinreichender Vollständigkeit, wenn auch in polemischer Form, im ersten Teil des Engelsschen Werks über „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" dargestellt. In der ausgezeichneten Broschüre desselben Verfassers: „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie"C, sind die Anschauungen, die die philosophische Grundlage des Marxismus ausmachen, bereits in positiver Form dargestellt. Eine gedrängte, aber sehr klare Charakteristik derselben Anschauungen in ihrem Verhältnis zum Agnostizismus gab Engels in der Einleitung zur englischen Übersetzung der Broschüre „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (die Einleitung erschien deutsch unter dem Titel „Über historischen Materialismus" in der „Neuen Zeit", 1892/93, XI/1, Nr. 1 u. 2). Was Marx angeht, so ist für das Verständnis der philosophischen Seite seiner Lehre folgendes höchst wichtig: einmal die Charakteristik, die er selbst von der materialistischen Dialektik – im Unterschied zu der idealistischen Dialektik Hegels – im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes des „Kapitals" gibt, sodann die vielen einzelnen Bemerkungen, die im selben Bande zerstreut zu finden sind. Sehr wesentlich in bestimmter Hinsicht sind auch manche Seiten aus dem „Elend der Philosophie". Schließlich lässt sich der Entwicklungsprozess der philosophischen Anschauungen von Marx und Engels mit hinreichender Klarheit in ihren frühen Schriften verfolgen, die Franz Mehring unter dem Titel: „Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx und Friedrich Engels" (Stuttgart 1902), neu herausgegeben hat. In seiner Dissertation „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie", ebenso in manchen Aufsätzen, die Mehring im ersten Bande der genannten Ausgabe abdruckt, tritt uns der junge Marx noch als waschechter Idealist Hegelscher Schule entgegen; in den Aufsätzen jedoch, die jetzt in denselben Band aufgenommen sind und ursprünglich in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" erschienen waren, steht Marx gleich wie Engels, der an denselben „Jahrbüchern" mitgearbeitet hatte, bereits fest auf dem Standpunkt des Feuerbachschen „Humanismus".D In der 1845 erschienenen Schrift „Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik" (jetzt im zweiten Bande der Mehringschen Ausgabe) sehen wir ihre beiden Autoren, d.h. Marx und Engels, in der weiteren Ausgestaltung der Feuerbachschen Philosophie beträchtliche Fortschritte machen. In welcher Richtung sie diese Ausgestaltung unternommen hatten, geht aus den elf Thesen über Feuerbach hervor, die Marx im Frühjahr 1845 niederschrieb und Engels dann als Beilage zu der oben genannten Broschüre „Ludwig Feuerbach" veröffentlichte. Mit einem Wort, an Material ist hier kein Mangel – man muss es nur zu benützen verstehen, d.h. zum Verständnis dieses Materials vorbereitet sein. Aber die Leser von heute sind nun einmal zu diesem Verständnis nicht vorbereitet, und darum wissen sie auch nichts damit anzufangen. Wie geht das zu? Der Ursachen sind viele. Eine der wichtigsten ist darin zu erblicken, dass heute die Kenntnis der Hegelschen Philosophie sehr wenig verbreitet ist; ohne sie ist aber das Begreifen der Marxschen Methode schwierig. Dasselbe gilt ferner von der Bekanntschaft mit der Geschichte des Materialismus, und dieser Mangel macht es den modernen Lesern unmöglich, sich von der Feuerbachschen Philosophie eine klare Vorstellung zu bilden: Feuerbach aber war der unmittelbare philosophische Vorläufer von Marx und hatte in beträchtlichem Maß die philosophische Grundlage dessen ausgearbeitet, was man die Weltanschauung von Marx und Engels nennen kann. Den „Humanismus" Feuerbachs stellt man sich jetzt gewöhnlich als etwas sehr Unklares und Unbestimmtes vor. Fr. A. Lange, der zur Verbreitung einer vollkommen unrichtigen Anschauung vom Wesen und von der Geschichte des Materialismus im „großen Publikum" und in der gelehrten Welt überhaupt sehr viel beigetragen hat, weigert sich ganz entschieden, den „Humanismus" Feuerbachs als eine materialistische Lehre anzuerkennen. Dem Beispiel Langes folgen in dieser Beziehung nahezu alle, die (innerhalb wie außerhalb Russlands) über Feuerbach geschrieben haben. Diesem Einfluss vermochte sich offensichtlich auch P. A. Berlin nicht zu entziehen, der den Feuerbachschen „Humanismus" als eine Art von nicht ganz „reinem" Materialismus darstellt.E Offen gestanden, es ist uns nicht ganz klar, wie sich zu dieser Frage Franz Mehring stellt – der beste, wenn nicht gar einzige Kenner der Philosophie unter den deutschen Sozialdemokraten. Dafür aber sind wir uns völlig klar darüber, dass Marx und Engels in Feuerbach vor allem einen Materialisten erblickten. Allerdings verweist Engels auf die Inkonsequenz des Feuerbachschen Standpunkts; doch hindert ihn das keineswegs daran, die Grundthesen der Feuerbachschen Philosophie als rein materialistisch anzuerkennen.F Und wer sich einmal die Mühe macht, diese Grundsätze gründlich zu studieren, kann sie in der Tat auch nicht anders auffassen. II Wir wissen sehr wohl, dass wir mit all dem Gesagten ernstlich Gefahr laufen, gar nicht wenige von unseren Lesern in Erstaunen zu setzen. Doch scheuen wir dies nicht, denn der alte Denker hatte recht, als er sagte, Verwunderung sei die Mutter der Philosophie. Um aber unsere Leser sozusagen nicht im Stadium der Verwunderung zu lassen, empfehlen wir ihnen vor allem, sich die Frage zu stellen: was eigentlich Feuerbach sagen wollte, als er in knapper, aber treffender Skizzierung seines philosophischen curriculum vitae schrieb: „Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke". Wir behaupten, diese Frage wird unwiderruflich durch die folgenden hochbedeutsamen Worte desselben Feuerbach beantwortet: „…in dem Streite zwischen Materialismus und Spiritualismus… handelt es sich… um den Kopf des Menschen… Sind wir einmal… mit der Materie des Hirns im Reinen, so werden wir es bald auch mit den andern Materien, mit der Materie überhaupt sein".G An anderer Stelle sagt er, seine „Anthropologie", d. h. sein „Humanismus", bedeute nur dies, dass Gott „nichts anderes als des Menschen eigener Geist", sein eigenes Wesen sei.H Und dieser „anthropologische" Standpunkt ist, wie er dazu noch bemerkt, schon Descartes nicht fremd gewesen.I Was will nun das alles besagen? Nichts anderes, als dass Feuerbach „den Menschen" nur deshalb zum Ausgangspunkt seiner philosophischen Betrachtungen nahm, weil er von diesem Punkte aus rascher zum Ziel zu kommen hoffte; dieses Ziel aber bestand in der Gewinnung einer richtigen Anschauung von der Materie überhaupt und von deren Verhältnis zum „Geist". Wir haben es hier also mit einem methodologischen Verfahren zu tun, dessen Bedeutung bedingt war durch zeitliche und räumliche Umstände, d. h. durch die Denkgewohnheiten der gelehrten und überhaupt der gebildeten Deutschen damaliger ZeitJ, keineswegs aber durch irgendeine Besonderheit der Weltanschauung.K Schon aus den von uns angeführten Worten Feuerbachs über den „Kopf des Menschen" wird sichtbar, dass zu der Zeit, als er diese Worte schrieb, die Frage nach der „Materie des Hirns" von ihm in „rein" materialistischem Sinne entschieden war. Und diese Feuerbachsche Lösung des Problems akzeptierten auch Marx und Engels. Sie lag ihrer eigenen Philosophie zugrunde, wie mit vollster Klarheit aus den bereits mehrfach erwähnten Engelsschen Schriften „Ludwig Feuerbach" und „Anti-Dühring" zu ersehen ist. Wir müssen daher diese Lösung noch näher kennenlernen: indem wir sie untersuchen, werden wir zugleich die philosophische Seite des Marxismus untersuchen. In seinen 1843 erschienenen „Vorläufigen Thesen zur Reform, der Philosophie", die, nach allem zu schließen, auf Marx sehr starken Einfluss ausübten, sagt Feuerbach: „Das wahre Verhältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: das Sein ist Subjekt, das Denken Prädikat. Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken. Sein ist aus sich und durch sich… Sein hat seinen Grund in sich…"L Diese Auffassung vom Verhältnis zwischen Sein und Denken, von Marx und Engels der materialistischen Erklärung der Geschichte zugrunde gelegt, ist das wichtigste Resultat der Kritik des Hegelschen Idealismus, die in den Grundzügen noch durch Feuerbach zu Ende geführt worden war; ihre Ergebnisse lassen sich in wenigen Worten folgendermaßen darstellen. Feuerbach fand, dass die Hegelsche Philosophie die Aufhebung des Widerspruchs von Sein und Denken war, nachdem dieser bei Kant besonders plastischen Ausdruck erhalten hatte. Doch geschah nach Ansicht Feuerbachs die Aufhebung dieses Widerspruchs innerhalb des Widerspruchs, d. h. innerhalb des einen Elements, nämlich des Denkens. Der Gedanke ist bei Hegel das Sein: „…der Gedanke das Subjekt, das Sein das Prädikat"M. Es erweist sich, dass Hegel – wie der Idealismus überhaupt – den Widerspruch nur aufhebt, indem er das eine seiner Grundelemente aufhebt, d. h. das Sein der Materie, der Natur. Aber man löst den Widerspruch durchaus nicht, wenn man eines der Elemente aufhebt, aus denen er besteht. Die Hegelsche Lehre, dass die Natur von der Idee „gesetzt" wird, „ist nur der rationelle Ausdruck von der theologischen Lehre, dass die Natur von Gott, das materielle Wesen von einem immateriellen, d.h. abstrakten Wesen geschaffen ist".N Und dies gilt nicht nur von dem absoluten Idealismus Hegels. Der Kantische transzendentale Idealismus, für den sich die äußere Welt nach dem Verstande, nicht der Verstand nach der äußeren Welt richtet, ist aufs Engste verwandt mit der „theologischen Vorstellung vom göttlichen Verstande, der nicht von den Dingen bestimmt wird, sondern umgekehrt diese bestimmt".O Der Idealismus stellt die Einheit von Sein und Denken nicht her und kann sie nicht herstellen; er zerreißt sie. Der Ausgangspunkt der idealistischen Philosophie – das „Ich" als philosophisches Grundprinzip – ist vollkommen falsch. Der Punkt, von dem die wirkliche Philosophie auszugehen hat, kann nicht das „Ich" sein, sondern nur „Ich" und „Du". Nur von hier aus hat man die Möglichkeit, zum richtigen Verständnis für das Verhältnis von Denken und Sein, von Subjekt und Objekt zu gelangen. Ich bin „Ich" für mich selbst und zugleich „Du" für den anderen. Ich bin Subjekt und zugleich Objekt. Außerdem muss noch vermerkt werden, dass dieses „Ich" nicht jenes abstrakte Wesen ist, mit dem die idealistische Philosophie operiert. Ich bin ein wirkliches Wesen, zu meinem Wesen gehört mein Körper; – und damit nicht genug: mein Körper als Ganzes ist mein „Ich", mein wirkliches Wesen. Es ist nicht ein abstraktes Wesen, das denkt, vielmehr gerade dieses wirkliche Wesen, dieser Körper. Im Gegensatz zu den Versicherungen der Idealisten erweist sich dergestalt das materielle Wesen als das Subjekt, das Denken als das Prädikat. Und hierin liegt auch die einzige mögliche Auflösung jenes Widerspruchs von Sein und Denken, der dem Idealismus soviel Kopfzerbrechen verursacht hatte. Hier wird keines von den Elementen des Widerspruchs aufgeholfen, sie werden beide aufrechterhalten, und zwar so, dass sie ihre wahre Einheit zur Erscheinung bringen. „…was für mich oder subjektiv ein rein geistiger, immaterieller, unsinnlicher Akt, ist an sich oder objektiv ein materieller, sinnlicher."P Wohlgemerkt, hiermit vollzieht Feuerbach eine Annäherung an Spinoza, dessen Philosophie er mit großer Sympathie schon zu einer Zeit darstellte, als seine eigene Abkehr vom Idealismus nur erst andeutungsweise geschah, d.h. als er seine „Geschichte der neueren Philosophie" schrieb.Q In seinen „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft", im Jahre 1843, bemerkte er sehr feinsinnig: der Pantheismus sei der theologische Materialismus, die Negation der Theologie, aber selbst auf dem Standpunkte der Theologie. In dieser Vermischung des Materialismus mit der Theologie sei die Inkonsequenz Spinozas begründet, die ihn jedoch nicht gehindert habe, „den, für seine Zeit wenigstens, wahren philosophischen Ausdruck für die materialistische Tendenz der neueren Zeit" zu finden. Spinoza wird daher von Feuerbach als „der Moses der modernen Freigeister und Materialisten"R betitelt. Im Jahre 1847 fragt Feuerbach: „Was ist denn, bei Lichte besehen, das, was Spinoza logisch oder metaphysisch: Substanz, theologisch: Gott nennt?" Und er gibt darauf die kategorische Antwort: „Nichts andres als die Natur"S Den Hauptmangel des Spinozismus erblickt er darin, dass für ihn „das sinnliche, antitheologische Wesen der Natur nur als abgezogenes metaphysisches, theologisches Wesen" erscheine. Spinoza habe den Dualismus von Gott und Natur aufgehoben, da er die Wirkungen der Natur für Wirkungen Gottes erklärt habe. Aber gerade darum, weil die Wirkungen der Natur in seinen Augen als Wirkungen Gottes erscheinen, bleibt Gott für ihn ein von der Natur abgesondertes, ihr zugrunde liegendes Wesen. Gott stellt sich als das Subjekt dar, die Natur als Prädikat. Sobald sich die Philosophie von den Überlieferungen der Gottesgelahrtheit endgültig emanzipiert hat, muss sie diesen bedeutsamen Mangel der ihrem Wesen nach richtigen Philosophie Spinozas beseitigen. Nieder mit diesem Widerspruch! ruft Feuerbach aus. Nicht deus sive natura, sondern aut deus aut natura ist die Natur der Wahrheit.T So stellt denn der Feuerbachsche „Humanismus" selbst nichts anderes vor als den von seiner theologischen Zutat befreiten Spinozismus. Und eben dieser durch Feuerbach seines theologischen Anhängsels entledigte Spinozismus war es, auf dessen Boden Marx und Engels nach ihrer Abkehr vom Idealismus übertraten. Indes, den Spinozismus seiner theologischen Hülle entkleiden, das hieß seinen wahren, seinen materialistischen Inhalt an den Tag bringen. Der Spinozismus von Marx-Engels war also der jüngste Materialismus.U Weiter. Das Denken ist nicht Ursache des Seins, sondern seine Folge, genauer: seine Eigenschaft. Wie Feuerbach sagt: „Folge und Eigenschaft". Ich empfinde und denke durchaus nicht als ein dem Objekt gegenüberstehendes Subjekt, vielmehr als Subjekt-Objekt, als wirkliches, materielles Wesen. Und das Objekt ist für mich nicht nur der Gegenstand, den ich empfinde, es ist auch Grundlage, notwendige Bedingung meiner Empfindung. Die objektive Welt existiert nicht nur außer mir; sie ist auch in mir selbst, sie steckt auch in meiner eigenen Haut.V Der Mensch ist nur ein Teil der Natur, ein Teil des Seins; daher ist kein Platz für einen Widerspruch zwischen seinem Denken und seinem Sein. Raum und Zeit existieren nicht nur für das Denken. Sie sind auch Formen des Seins. Sie sind Formen meiner Anschauung. Aber sie sind dies einzig und allein darum, „weil ich ein an sich selbst räumliches und zeitliches Wesen bin und nur als ein solches empfinde, anschaue, denke". Überhaupt sind die Gesetze des Seins zugleich auch die Gesetze des Denkens. So sprach Feuerbach.W Und dasselbe, wenn auch zuweilen in anderen Worten, erklärte Engels in seiner Auseinandersetzung mit Dühring.X Schon hieraus wird sichtbar, wie bedeutsam der Teil, der von der Feuerbachschen Philosophie in die von Marx und Engels für immer übernommen wurde. Wenn Marx die Ausarbeitung seiner materialistischen Geschichtserklärung mit der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie begann, so konnte er dies nur darum, weil die Kritik der spekulativen Philosophie Hegels noch durch Feuerbach abgeschlossen worden war. Selbst wo Marx in seinen Thesen Feuerbach kritisiert, sind es nicht selten Feuerbachsche Gedanken, die er entwickelt und vervollständigt. Ein Beispiel aus dem Gebiet der „Erkenntnistheorie". Bei Feuerbach hieß es: Ehe der Mensch über einen Gegenstand nachdenkt, erleidet er dessen Wirkung, erfährt er ihn in der Anschauung, im Gefühl. Marx hat diesen Gedanken Feuerbachs im Auge, wenn er sagt: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus – den Feuerbachschen mit eingerechnet – ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv." Aus diesem Mangel des Materialismus, fährt Marx fort, erklärt sich der Umstand, dass Feuerbach im „Wesen des Christentums" nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche betrachtet.Y Mit anderen Worten lässt sich dies so ausdrücken: Feuerbach verweist darauf, dass unser „Ich" das Objekt nur erkennt, indem es dessen Einwirkung erduldet.Z Marx erwidert: unser „Ich" erkennt das Objekt, indem es seinerseits auf das Objekt einwirkt. Marx hat vollkommen recht; schon Faust sagt: „Im Anfang war die Tat.“ Natürlich lässt sich zugunsten Feuerbachs einwenden, dass wir ja auch im Prozesse unserer Einwirkung auf die Gegenstände ihre Eigenschaften nur erkennen, sofern sie ihrerseits auf uns einwirken. In beiden Fällen geht dem Denken die Empfindung vorher, in beiden Fällen ist es so, dass wir zuerst ihre Eigenschaften empfinden und dann sie erst denken. Aber Marx leugnet dies nicht. Ihm ging es nicht um die unbestreitbare Tatsache, dass das Empfinden dem Denken vorangeht, sondern darum, dass der Mensch in der Hauptsache durch diejenigen Empfindungen zum Nachdenken veranlasst wird, die er im Prozesse seines Wirkens auf die äußere Welt erfährt. Da nun aber diese Einwirkung auf die äußere Welt ihm durch seinen Kampf um seine Existenz vorgeschrieben wird, so ist die Theorie der Erkenntnis bei Marx eng verknüpft mit der materialistischen Anschauung der Kulturgeschichte der Menschheit. Derselbe Denker, der die uns hier interessierende These gegen Feuerbach richtete, schrieb nicht umsonst im ersten Bande seines Werks über „Das Kapital": „Indem er [der Mensch] … auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur."Ä Dieser Satz offenbart seinen ganzen tiefen Sinn erst im Lichte der Marxschen Erkenntnistheorie. Wir werden noch sehen, wie sehr diese Theorie durch die Entwicklungsgeschichte der Kultur und – unter anderem – selbst durch die Sprachwissenschaft bekräftigt wird. Dennoch muss anerkannt werden, dass die Marxsche Erkenntnistheorie in gerader Linie von der Feuerbachschen abstammt oder dass sie – wenn man so will – eigentlich die Erkenntnistheorie Feuerbachs ist, nur vertieft durch die geniale Korrektur, die Marx an ihr vornahm. Fügen wir noch beiläufig hinzu: diese geniale Verbesserung war ihm eingegeben durch den „Geist der Zeit". In diesem Bestreben, die Wechselwirkung zwischen Objekt und Subjekt gerade von der Seite ins Auge zu fassen, von der das Subjekt in aktiver Rolle hervortritt äußerte sich die gesellschaftliche Strömung der Epoche, in der die Weltanschauung von Marx-Engels sich formierte.Ö Die Revolution von 1848 stand bereits vor der Tür… III Die Lehre von der Einheit des Subjekts und des Objekts, des Denkens und des Seins war Feuerbach wie Marx und Engels in gleichem Maße eigentümlich; sie fand sich auch bereits bei den hervorragendsten Materialisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Wie wir an anderer Stellea gezeigt haben, waren Lamettrie und Diderot – wenn auch, muss hinzugefügt werden, auf verschiedenen Wegen – beide zu einer Weltanschauung gelangt, die nichts anderes als „eine Art von Spinozismus" darstellte – einen Spinozismus, heißt das, der befreit war von dem theologischen Anhängsel, das seinen wahren Inhalt entstellt hatte; es wäre leicht zu zeigen, dass auch Hobbes, soweit es sich um die Einheit von Subjekt und Objekt handelt, Spinoza sehr nahe stand. Das würde uns jedoch zu weit führen. Ohnedies liegt ja auch kein dringendes Bedürfnis danach vor. Vermutlich wird es für den Leser von weit höherem Interesse sein, zu erfahren, dass in unserer Zeit jeder Naturforscher, sobald er sich auch nur ein wenig mit dem Problem des Verhältnisses von Denken und Sein befasst, zu derselben Lehre von der Einheit der beiden kommt, die wir bei Feuerbach kennengelernt haben. Huxley schrieb: „In unseren Tagen wird keiner, der auf der Höhe der modernen Wissenschaft steht und die Tatsachen kennt, daran zweifeln, dass die Grundlagen der Psychologie in der Physiologie des Nervensystems zu suchen sind. Das, was man Tätigkeit des Geistes nennt, ist die Gesamtheit der Hirnfunktionen…"b Er meinte damit genau dasselbe, was Feuerbach gesagt hatte, nur dass er mit diesen Worten eine viel weniger klare Einsicht verband; und gerade weil die in diesen Worten ausgedrückten Begriffe bei ihm viel mehr der Klarheit ermangelten, konnte Huxley auf den Versuch verfallen, die eben bezeichnete Anschauung mit dem philosophischen Skeptizismus Humes zu verkoppeln.c Genauso ist der Haeckelsche „Monismus", der soviel Staub aufgewirbelt hat, nichts anderes als eine rein materialistische – der Feuerbachschen Auffassung im Wesentlichen nahe verwandte – Lehre von der Einheit des Subjekts und Objekts. Haeckel ist aber mit der Geschichte des Materialismus sehr wenig vertraut, und darum glaubt er die „Einseitigkeit" des Materialismus bekämpfen zu müssen. Er hätte lieber sich die Mühe machen sollen, die materialistische Erkenntnistheorie zu studieren – in der Fassung, die sie bei Feuerbach und Marx erhalten hatte: das hätte ihm selbst viele Missgriffe und Einseitigkeiten erspart, die nur seinen Gegnern den Kampf mit ihm auf dem Boden der Philosophie erleichterten. Dem modernen, von Feuerbach, Marx und Engels vertretenen Materialismus kommt August Forel in seinen verschiedenen Werken ganz nahe; so z. B. in seinem Vortrag „Gehirn und Seele", den er auf dem 66. Kongress Deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien (am 26. September 1894) hielt.d Hier drückt Forel nicht nur stellenweise Gedanken aus, die mit denen Feuerbachs große Ähnlichkeit haben, sondern führt – es ist geradezu auffallend – seine Argumentation genau in der Weise, wie dies Feuerbach getan hatte. Nach Forel bringt uns jeder neue Tag neue überzeugende Beweise dafür, dass die Psychologie und die Physiologie des Gehirns lediglich zwei verschiedene Betrachtungsweisen für „ein und dasselbe Ding" darstellen. Der Leser erinnert sich der oben angeführten und dieselbe Frage betreffenden identischen Auffassung Feuerbachs. Es kann hier zur Ergänzung noch der folgende Gedanke zitiert werden: „… Psychologisches Objekt bin ich mir selbst, aber physiologisches bin ich einem andern"e Schließlich und endlich läuft Forels Hauptgedanke auf den Satz hinaus, dass das Bewusstsein der „innere Reflex… Gehirntätigkeit"f ist. Aber dies ist schon eine rein materialistische Anschauung. Die Idealisten und Kantianer von der verschiedensten Art und Spielart versteifen sich in der Auseinandersetzung mit den Materialisten darauf, dass uns bei den Erscheinungen, von denen bei Forel und bei Feuerbach die Rede ist, unmittelbar eben nur ihre psychologische Seite gegeben sei. Dieser Einwand hatte eine außerordentlich prägnante Formulierung in Schellings Erklärung erhalten: der Geist werde stets eine Insel bleiben, auf die man aus dem Reich der Materie ohne einen Sprung nicht gelangen könne. Forel weiß das sehr wohl, aber er weist überzeugend nach, dass die Wissenschaft schlechthin unmöglich wäre, wenn wir den ernsthaften Entschluss fassen wollten, die Grenzen dieser Insel nicht zu überschreiten. „Jeder Mensch", sagt Forel, „hätte nur die Psychologie seines Subjektivismus" und „müsste nachgerade die Existenz der Außenwelt samt seiner Mitmenschen in Zweifel ziehen."g Aber ein solcher Zweifel ist Unsinn.h „Die Analogieschlüsse, die naturwissenschaftliche Induktion, die Vergleichung der Erfahrungen unserer fünf Sinne beweisen uns… die Existenz der Außenwelt, unserer Mitmenschen und der Psychologie der letzteren. Ebenso beweisen sie uns, dass es eine vergleichende Psychologie, eine Psychologie der Tiere gibt. Endlich ist unsere Psychologie, ohne Rücksichtnahme auf unsere Gehirntätigkeit ein unverständliches, von Widersprüchen wimmelndes Stückwerk, das vor allem dem Gesetz der Erhaltung der Energie zu widersprechen scheint."i Feuerbach deckt nicht nur die Widersprüche auf, in die unvermeidlich jeder gerät, der den materialistischen Standpunkt verwirft, sondern zeigt auch, auf welchem Weg die Idealisten auf ihre „Insel" gelangen. Er sagt: „Ich bin Ich – für mich – und zugleich Du – für Anderes. Das bin ich aber nur als sinnliches (d. h. materielles. G. P.) Wesen. Der abstrakte Verstand jedoch isoliert dieses Fürsichsein als Substanz, Atom, Ich, Gott – er kann daher nur willkürlich das Sein für Anderes damit verbinden… Was ich ohne Sinnlichkeit denke, denke ich ohne und außer alle Verbindung."j Mit diesem höchst wichtigen Gedankengang geht bei ihm Hand in Hand die Analyse jenes Abstraktionsprozesses, der zur Entstehung der Hegelschen Logik als einer ontologischen Lehre geführt hatte.k Hätte Feuerbach schon die von der modernen Ethnologie mitgeteilten Tatsachen gekannt, so hätte er hinzufügen können, dass der philosophische Idealismus historisch vom Animismus abstammt, der den primitiven Völkern eigentümlich ist. Schon E. Tylor hat auf diesen Punkt aufmerksam gemacht,l und der eine oder der andere Historiker der Philosophie beginnt dies auch schon in Betracht zu ziehen – einstweilen allerdings mehr noch als Kuriosität denn als Tatsache von gewaltiger erkenntnistheoretischer Bedeutung.m Alle diese Gedankengänge und Argumente Feuerbachs waren Marx und Engels nicht nur wohlbekannt, wurden von ihnen nicht nur reiflich durchdacht, sondern wirkten zweifellos in sehr bedeutendem Maß auf die Entwicklung ihrer eigenen Weltanschauung ein. Wenn sich Engels in der Folge über die deutsche Philosophie nach Feuerbach mit der größten Verachtung ausließ, so darum, weil diese nach seiner Ansicht nur die alten, bereits von Feuerbach aufgedeckten Fehler wieder auffrischte. Dies war in der Tat auch der Fall. Kein einziger von den jüngsten Kritikern des Materialismus wusste auch nur ein einziges Argument vorzubringen, das nicht längst widerlegt wäre – sei es von Feuerbach selbst, sei es, noch früher, von den französischen Materialisten.n Allein den „Marx-Kritikern" – E. Bernstein, K. Schmidt, B. Croce usw. usw. – dünkt die „eklektische Bettelsuppe" des allerneuesten deutschen Philosophierens ein gänzlich neuartiges Gericht: sie kosteten wacker davon, und da sie sahen, dass Engels sich damit zu befassen nicht für notwendig erachtete, so dachten sie in ihrem Sinn, er gehe der Untersuchung jener Argumentation „aus dem Wege", die doch längst schon von ihm untersucht und als ganz und gar wertlos verworfen war. Eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu. Die Ratten werden nie den Glauben fahren lassen, dass die Katze viel stärker sei als der Löwe. Wenn wir die frappante Ähnlichkeit, ja teilweise sogar Identität der Feuerbachschen und der Forelschen Anschauungen konstatiert haben, so müssen wir doch noch eine Bemerkung hinzufügen. Wenn Forel über einen weit größeren Reichtum an naturwissenschaftlicher Bildung verfügt, so hatte Feuerbach vor ihm den Vorrang einer umfassenden Kenntnis der Philosophie. Es finden sich daher bei Forel Missgriffe, die wir bei Feuerbach nicht antreffen. Forel bezeichnet seine Theorie als psycho-physiologische Identitätstheorie.o Dagegen ist im Wesentlichen nichts einzuwenden, weil jede Terminologie auf Konvention beruht. Da aber die Identitätstheorie einst Grundlage einer ganz bestimmten idealistischen Philosophie war, so hätte Forel besser daran getan, seine Lehre ohne Umschweife und Bedenken schlechtweg für eine materialistische zu erklären. Er hegte aber offenbar gegen den Materialismus noch manches Vorurteil und wählte deshalb eine andere Bezeichnung. Wir glauben daher besonders vermerken zu müssen, dass Identität im Sinne Forels mit Identität im idealistischen Sinne nicht das Mindeste gemein hat. Die „Marx-Kritiker" wissen aber auch das nicht. In einer Polemik wider uns schreibt Konrad Schmidt den Materialisten ohne weiteres die idealistische Lehre von der Identität zu. Was der Materialismus vertritt, ist in der Tat die Einheit und keineswegs die Identität von Subjekt und Objekt. Und dies hat wiederum niemand anders als Feuerbach sehr gut auseinandergesetzt. Nach Feuerbach hat die Einheit von Subjekt und Objekt, Denken und Sein nur dann einen Sinn, wenn der Mensch als Grundlage dieser Einheit gefasst wird. Das klingt wieder nach einer besonders „humanistischen" Tonart; die Mehrzahl derer, die sich mit Feuerbach beschäftigt haben, hat es nie für notwendig gehalten, sich etwas mehr in das Problem hineinzudenken: in welcher Weise denn der Mensch für die Einheit der genannten Gegensatzmomente die Grundlage darstellt. Feuerbach begreift dies in Wirklichkeit so: „…nur wo das Denken nicht Subjekt für sich selbst, sondern Prädikat eines wirklichen (d. h. materialistischen. G. P.) Wesens ist, nur da ist auch der Gedanke nicht vom Sein getrennt."p Nun fragt es sich: wo denn, in welchen philosophischen Systemen ist das Denken „Subjekt für sich selbst", d. h. ein von dem körperlichen Dasein des denkenden Individuums unabhängiges Etwas? Die Antwort ist klar: in den idealistischen Systemen. Die Idealisten verwandeln zunächst das Denken in ein selbständiges, vom Menschen unabhängiges Wesen (in ein „Subjekt für sich selbst") und verkünden dann, in ihm, in diesem Wesen, löse sich der Widerspruch zwischen Sein und Denken gerade darum, weil ihm, dem von der Materie unabhängigen Wesen, ein besonderes, unabhängiges Sein zukomme.q Und er löst sich wirklich in ihm – denn was ist es denn, dieses Wesen? Das Denken. Und dieses Denken existiert – ist da – unabhängig von etwas anderem. Aber diese Lösung des Widerspruchs ist eine rein formale Lösung. Sie wird nur dadurch erreicht, dass, wie wir schon oben gesagt haben, das eine Widerspruchselement beseitigt wird, nämlich: das vom Denken unabhängige Sein. Das Sein offenbart sich als einfache Eigenschaft des Denkens, und wenn wir sagen, dass ein gegebener Gegenstand existiert, so heißt das nur, dass er im Denken existiert. So fasste zum Beispiel Schelling die Sache auf. Für ihn war das Denken das absolute Prinzip, aus dem mit Notwendigkeit die wirkliche Welt, d. h. die Natur und der „endliche" Geist, hervorging. Wie aber geschah dies Hervorgehen? Was bedeutete die Existenz der wirklichen Welt? Nichts anderes als die Existenz im Denken. Für Schelling war das Weltall nur die Selbstanschauung des absoluten Geistes. Das Nämliche sehen wir bei Hegel. Feuerbach aber gab sich mit einer solchen rein formalen Auflösung des Widerspruchs zwischen Denken und Sein nicht zufrieden. Er wies darauf hin, dass es ein vom Menschen, d. h. von einem wirklichen, materiellen Wesen unabhängiges Denken nicht geben kann. Das Denken ist Gehirntätigkeit. „Das Hirn ist aber nur so lange Denkorgan, als es mit einem menschlichen Kopf und Leibe verbunden ist."r Nun sehen wir, in welchem Sinne bei Feuerbach der Mensch als die Grundlage der Einheit von Sein und Denken erscheint. Er ist sie in dem Sinne, dass er selbst nichts anderes ist als ein mit der Fähigkeit zum Denken ausgestattetes materielles Wesen. Wenn er aber ein solches Wesen ist, so erhellt, dass in ihm keines von den Elementen des Widerspruchs beseitigt wird: weder Sein noch Denken, weder „Materie" noch „Geist", weder Subjekt noch Objekt. Sie vereinigen sich in ihm gerade, als im Subjekt-Objekt. „Ich bin und denke… nur als Subjekt-Objekt"', sagt Feuerbach.s Sein – heißt nicht im Gedanken existieren. In dieser Hinsicht ist die Feuerbachsche Philosophie weitaus klarer als die von Josef Dietzgen entwickelte. „Der Beweis, dass Etwas ist", bemerkt Feuerbach, „hat keinen andern Sinn, als dass Etwas nicht nur Gedachtes ist."t Und dies ist vollkommen richtig. Der Sinn dieses Satzes ist aber doch wohl der, dass Einheit von Denken und Sein durchaus nicht Identität von Denken und Sein bedeutet, noch bedeuten könnte. Hier sehen wir eines von den wichtigsten Momenten hervortreten, die den Materialismus vom Idealismus unterscheiden. IV Wenn man sagt, Marx und Engels seien eine Zeitlang Anhänger Feuerbachs gewesen, so will man damit nicht selten ausdrücken, dass nach Ablauf dieser Zeit die Denkweise von Marx und Engels sich wesentlich geändert und in eine von der Feuerbachschen ganz unterschiedene Weltanschauung verwandelt habe. So stellt sich die Sache offenbar für Karl Diehl dar, wenn er findet, dass Feuerbachs Einfluss auf Marx gewöhnlich „weit überschätzt" werde.u Das ist ein gewaltiger Irrtum. Als Marx und Engels Feuerbachanhänger zu sein aufhörten, hörten sie damit keineswegs auf, zu sehr bedeutendem Teil seine eigentlich philosophischen Anschauungen zu teilen. Das beweisen am besten jene Thesen, in denen Marx den Standpunkt Feuerbachs der Kritik unterzog. Diese Thesen heben die Grundsätze der Feuerbachschen Philosophie nicht auf, sie verbessern diese Grundsätze nur; und was die Hauptsache ist: sie fordern eine – im Vergleich zum Feuerbachschen Verfahren – konsequentere Anwendung dieser Grundsätze auf die Erklärung der den Menschen umgebenden Wirklichkeit, insbesondere aber auf des Menschen eigene Tätigkeit. Nicht das Sein wird durch das Denken bestimmt, sondern das Denken durch das Sein. Dieser Gedanke ist die unterste der Grundlagen, auf denen die ganze Philosophie Feuerbachs beruht. Und es ist derselbe Gedanke, den Marx und Engels zur Grundlage der materialistischen Geschichtserklärung machen. Der Materialismus in der Fassung von Marx und Engels stellt eine viel höher entwickelte Lehre dar, als er es in der Feuerbachschen Fassung gewesen war. Allein es war dieselbe, durch die innere Logik der Feuerbachschen Philosophie angegebene Richtung, in der sich die materialistischen Anschauungen von Marx und Engels entwickelten. Darum werden diese Anschauungen – zumal nach ihrer philosophischen Seite – dem nie vollständig klar sein, der sich nicht bemüht zu verstehen, welcher bestimmte Teil der genannten Philosophie als Grundelement in die Weltanschauung der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus überging. Und wenn der Leser jemandem begegnen sollte, der mit geschäftigem Eifer nach einer „philosophischen Begründung“ für den historischen Materialismus sucht, so mag er überzeugt sein, dass dieser tiefsinnige Sterbliche in der eben erwähnten Beziehung sehr auf dem Holzweg ist. Überlassen wir aber die Neunmalweisen ihrer Weisheit. Schon in der dritten These über Feuerbach macht sich Marx stracks an die schwierigste von all den Fragen, die er in der Sphäre der historischen „Praxis“ des gesellschaftlichen Menschen mit Hilfe des von Feuerbach entwickelten richtigen Begriffs von der Einheit des Subjekts und Objekts zu lösen hatte. Diese These lautet: „Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung… sind, vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss.“ Dies Problem einmal gelöst - und das „Geheimnis" der materialistischen Geschichtsauffassung ist enthüllt. Feuerbach war dazu nicht imstande. Auf dem Gebiet der Geschichte blieb er Idealistv – ähnlich den französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts, mit denen er überhaupt vieles Gemeinsame hat. Hier hatten Marx und Engels auf neuem Grund zu bauen; zur Benutzung lag ihnen das theoretische Material vor, das zu jener Zeit von der Gesellschaftswissenschaft, vorzugsweise aber von den französischen Historikern der Restaurationsepoche zusammengetragen worden war. Aber auch hier gab ihnen die Feuerbachsche Philosophie immerhin manchen wertvollen Fingerzeig. Feuerbach sagt: „Kunst, Religion, Philosophie oder Wissenschaft sind nur die Erscheinungen oder Offenbarungen des wahren menschlichen Wesens."w Daraus folgt, dass das „menschliche Wesen" über alle Ideologien Aufschluss gibt, d.h., dass die Entwicklung dieser Ideologien durch die Entwicklung des „menschlichen Wesens" bedingt wird. Was ist aber dieses „menschliche Wesen"? Feuerbach antwortet: „Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten…"x Das ist sehr unbestimmt. Und hier haben wir die Grenzlinie vor uns, die Feuerbach nicht überschritt.y Jenseits dieser Grenze beginnt aber eben das Gebiet der durch Marx und Engels entwickelten materialistischen Erklärung der Geschichte: sie gibt uns gerade die Ursachen an, die im Verlauf der menschlichen Entwicklung die „Gemeinschaft", die „Einheit des Menschen mit dem Menschen" bestimmen, d.h. die wechselseitigen Beziehungen, die die Menschen untereinander eingehen. Diese Grenze scheidet nicht nur Marx von Feuerbach – sie bezeugt auch das nahe Verhältnis, in dem beide zu einander stehen. In der sechsten These über Feuerbach heißt es, dass das menschliche Wesen das Ensemble aller gesellschaftlichen Verhältnisse sei. Das ist viel bestimmter, als was Feuerbach selbst gesagt hatte; aber hier tritt auch weit klarer als wohl sonst irgendwo der enge genetische Zusammenhang der Marxschen Weltanschauung mit der Philosophie Feuerbachs in Erscheinung. Als Marx diese These niederschrieb, war er sich nicht nur über die Richtung, in der er die Lösung des Problems zu suchen hatte, sondern auch über die Lösung selbst bereits im Klaren. Die von ihm unternommene „kritische Revision der Hegelschen Rechtsphilosophie" hatte ihm gezeigt, dass die gesellschaftlichen Wechselbeziehungen, „Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft’ zusammenfasst, dass aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei".z Jetzt galt es nur noch Entstehung und Entwicklung der Ökonomie zu erklären, um die vollständige Lösung jenes Problems auf der Hand zu haben, mit welchem der Materialismus im Verlauf ganzer Jahrhunderte nicht hatte fertig werden können. Und Marx und Engels lieferten diese Erklärung. Es versteht sich: wenn wir von der vollständigen Lösung des großen Problems sprechen, so meinen wir damit nur seine allgemeine algebraische Lösung, die der Materialismus im Lauf ganzer Jahrhunderte nicht hatte finden können. Es versteht sich: wenn wir von vollständiger Lösung reden, so meinen wir nicht die Arithmetik der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern ihre Algebra; nicht die Angabe der Ursachen für die Einzelerscheinungen, vielmehr den Nachweis: welches Verfahren man zur Enthüllung dieser Ursachen einzuschlagen hat. Dies besagt aber, dass die materialistische Erklärung der Geschichte vor allem methodologische Bedeutung hat. Engels begriff das sehr wohl, als er schrieb: „…es sind nicht die nackten Resultate, die wir so sehr bedürfen, als vielmehr das Studium; die Resultate sind nichts ohne die Entwicklung, die zu ihnen geführt hat…"ä Das verstehen aber mitunter gar nicht die „Kritiker" Marx', denen, wie man zu sagen pflegt, Gott selbst verzeihen möge, ebenso wenig aber auch manche von den „Anhängern" Marx', was weit schlimmer ist. Michelangelo sprach von sich: „Meine Erkenntnisse werden viele Ignoranten erzeugen". Und diese Prophezeiung ist leider manches Mal in Erfüllung gegangen. Heutzutage sind es die Marxschen Erkenntnisse, die Ignoranten erzeugen. Die Schuld daran ist natürlich nicht Marx zuzuschreiben, sondern denen, die in seinem Namen Unsinn reden. Wenn man aber den Unsinn vermeiden will, so muss man eben die methodologische Bedeutung des historischen Materialismus begreifen. V Als eines der schlechthin größten Verdienste, die sich Marx und Engels um den Materialismus erworben haben, erscheint die Ausarbeitung einer richtigen Methode. Indem Feuerbach seine Kräfte auf den Kampf wider das spekulative Element der Hegelschen Philosophie konzentrierte, würdigte und nutzte er sehr wenig ihr dialektisches Element. Er sagt: „Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du."A Aber erstens hatte die Dialektik auch bei Hegel nicht die Bedeutung eines „Monologs des einsamen Denkers mit sich selbst", und zweitens ist in Feuerbachs Bemerkung wohl der Ausgangspunkt der Philosophie richtig bestimmt, nicht aber ihre Methode. Diese Lücke wurde dann durch Marx und Engels ausgefüllt. Sie begriffen, dass es falsch gewesen wäre, über dem Kampf mit der spekulativen Philosophie Hegels die Dialektik dieser Philosophie zu ignorieren. Manche Kritiker haben behauptet, auch Marx habe in der ersten Zeit nach seinem Bruch mit dem Idealismus der Dialektik sehr gleichgültig gegenübergestanden. Diese Ansicht, dem Scheine nach nicht ganz unbegründet, wird indes durch die bereits oben angeführte Tatsache widerlegt, dass Engels schon in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" von der Methode als von der Seele des neuen Systems spricht.Β Und auf jeden Fall lässt der zweite Teil des „Elends der Philosophie" keinen Raum mehr für einen Zweifel daran, dass Marx in der Epoche seiner Auseinandersetzung mit Proudhon die Bedeutung der dialektischen Methode vorzüglich begriff und sich ihrer wohl zu bedienen wusste. Marx' Sieg in diesem Streit mit Proudhon war der Sieg eines Mannes, der dialektisch zu denken verstand, über einen Mann, der sich die Natur der Dialektik nicht klarzumachen wusste und doch ihre Methode auf die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft anzuwenden versuchte. Und wie derselbe zweite Teil des „Elends der Philosophie" zeigt, war die Dialektik, die bei Hegel rein idealistischen Charakter gehabt und auch bei Proudhon – soweit er sich die Dialektik überhaupt zu eigen gemacht – diesen Charakter bewahrt hatte, von Marx zu dieser Zeit bereits auf materialistische Grundlage gestellt.Γ In der Folge schrieb dann Marx zur Charakteristik seiner materialistischen Dialektik folgendes: „Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle."Δ Diese Charakteristik hat zur Voraussetzung eine vollkommene Übereinstimmung mit Feuerbach: einmal in der Ansicht über die Hegelsche „Idee", zum zweiten in der Auffassung vom Verhältnis des Denkens zum Sein. Die Hegelsche Dialektik „auf die Füße zu stellen" vermochte nur ein Mensch, der von der Richtigkeit der Grundthese der Feuerbachschen Philosophie überzeugt war. Das Sein wird nicht durch das Denken bedingt, sondern das Denken durch das Sein. Viele verwechseln die Dialektik mit der Lehre von der Entwicklung – und sie ist in der Tat eine Entwicklungstheorie. Allein die Dialektik unterscheidet sich wesentlich von der vulgären „Evolutionstheorie", die sich ganz auf dem Prinzip aufbaut, dass weder die Natur noch die Geschichte Sprünge macht und dass alle Veränderungen in der Welt sich nur allmählich vollziehen. Schon Hegel hat gezeigt, dass die Entwicklungslehre, so gefasst, eine lächerliche und unhaltbare Sache ist. „die gewöhnliche Vorstellung", schreibt er im ersten Bande seiner „Logik", „wenn sie ein Entstehen oder Vergehen begreifen soll, meint… es damit begriffen zu haben, dass sie es als ein allmähliches Hervorgehen oder Verschwinden vorstellt. Es hat sich aber gezeigt, dass die Veränderungen des Seins überhaupt nicht nur das Übergehen einer Größe in eine andere Größe, sondern Übergang vom Qualitativen in das Quantitative und umgekehrt sind, ein Anderswerden, das ein Abbrechen des Allmählichen und ein qualitativ Anderes gegen das vorhergehende Dasein ist."Ε Und jedes Mal, wenn ein Abbrechen des Allmählichen erfolgt, findet ein Sprung statt. Hegel zeigt des weiteren an Hand einer ganzen Reihe von Beispielen, wie häufig in der Natur wie in der Geschichte Sprünge stattfinden, und enthüllt damit den der vulgären „Evolutionstheorie" zugrunde liegenden lächerlichen logischen Fehler. „Bei der Allmählichkeit des Entstehens", sagt er, „liegt die Vorstellung zugrunde, dass das Entstehende schon sinnlich oder überhaupt wirklich vorhanden, nur wegen seiner Kleinheit noch nicht wahrnehmbar, so wie bei der Allmählichkeit des Verschwindens, dass das Nichtsein oder das Andere, an seine Stelle Tretende gleichfalls vorhanden, nur noch nicht bemerkbar sei… Es wird damit das Entstehen und Vergehen überhaupt aufgehoben… Das Begreiflichmachen eines Entstehens oder Vergehens aus der Allmählichkeit der Veränderung hat die der Tautologie eigene Langweiligkeit; es hat das Entstehende oder Vergehende schon vorher ganz fertig…" (d.h., es wird als bereits Entstandenes oder Vergangenes vorgestellt. G. P.)Ζ Diese dialektische Ansicht Hegels über die Unvermeidlichkeit von Sprüngen im Prozesse der Entwicklung machten sich Marx und Engels voll und ganz zu eigen. Engels entwickelt diese Auffassung sehr ausführlich in seiner Polemik mit Dühring, er stellt dabei die Dialektik „auf die Füße", d. h. auf die materialistische Basis. So stellt er dar, dass der Übergang von einer Form der Energie zur anderen nicht anders als sprunghaft geschehen kann.Η So sucht er in der modernen Chemie eine Bestätigung für den dialektischen Satz vom Umschlagen der Quantität in die Qualität. Überhaupt sieht er die Rechtmäßigkeit des dialektischen Denkens in den dialektischen Eigenschaften des Seins bestätigt. Auch hier wird das Denken durch das Sein bedingt. Ohne auf eine ausführlichere Charakteristik der materialistischen Dialektik hier weiter einzugehen (über ihr Verhältnis zu dem, was man in Parallele zur niederen Mathematik die niedere Logik nennen könnte, sehe man unser Vorwort zu unserer Übersetzung der Broschüre „Ludwig Feuerbach" nach) – verweisen wir den Leser noch auf den folgenden Punkt. Im Laufe der zwei letzten Jahrzehnte begann die Theorie, die im Entwicklungsprozess lediglich allmähliche Veränderungen gelten lässt, selbst in der Biologie den Boden unter den Füßen zu verlieren, in der sie bis dahin so ziemlich allgemeine Anerkennung genossen hatte. In dieser Hinsicht kommt den Arbeiten von Armand Gautier und Hugo de Vries offenbar epochemachende Bedeutung zu. Es genügt hier zu erwähnen, dass die von de Vries geschaffene Theorie der Mutationen nichts anderes darstellt als eine Lehre von der sprunghaften Entwicklung der Arten. (Siehe de Vries' zweibändiges Werk: „Die Mutationstheorie", Leipzig 1901-1903; ferner seinen Vortrag: „Die Mutationen und die Mutationsperioden bei der Entstehung der Arten", Leipzig 1901, und seine an der Kalifornischen Universität gehaltenen Vorlesungen, deutsch unter dem Titel: „Arten und Varietäten und ihre Entstehung durch Mutation", Berlin 1906).1 Nach der Ansicht dieses hervorragenden Naturforschers besteht die schwache Seite der Darwinschen Entwicklungstheorie eben darin, dass diese die Entstehung der Arten durch allmähliche Veränderungen erklärt wissen will.Θ Interessant und sehr treffend ist auch die Bemerkung von de Vries, dass die Herrschaft der Theorie von den allmählichen Veränderungen in der Lehre von der Arten-Entstehung auf die experimentelle Untersuchung der hierher gehörigen Probleme ungünstig zurückgewirkt habe.Ι Es wird nicht unnütz sein, hier noch einen weiteren Punkt beizufügen. Mit ziemlicher Geschwindigkeit verbreitet sich in der modernen Naturwissenschaft, vorzugsweise unter den Neo-Lamarckisten, die Lehre von der sogenannten Beseeltheit der Materie, d. h. die Anschauung, dass die Materie überhaupt, in Sonderheit aber jede organisierte Materie einen bestimmten Grad von Empfindlichkeit besitze. Diese Lehre wird nun von manchen als der gerade Gegensatz zum Materialismus aufgefasst (man nehme z. B. das Werk von R. H. France: „Der heutige Stand der Darwinschen Frage", Leipzig 1907); in Wirklichkeit ist sie jedoch, richtig begriffen, nur die Übersetzung der materialistischen Theorie Feuerbachs von der Einheit des Seins und Denkens, des Objekts und Subjekts, in die Sprache der modernsten Naturwissenschaft.Κ Man kann mit voller Überzeugung erklären: Marx und Engels, die diese Theorie zu der ihrigen gemacht haben, hätten auch der erwähnten – einstweilen allerdings noch ganz ungenügend entwickelten – Richtung in der Naturwissenschaft das lebhafteste Interesse entgegengebracht. Alexander Herzen hatte sehr recht, als er sagte: die Hegelsche Philosophie, von vielen für vorzugsweise konservativ gehalten, sei die wahre Algebra der Revolution.Λ Allein bei Hegel war diese Algebra ohne jede Anwendung auf die brennenden Fragen des praktischen Lebens geblieben. Das spekulative Element hatte in die Philosophie des großen absoluten Idealisten mit Notwendigkeit den Geist des Konservativismus hineingebracht. Ganz anders ist es um die materialistische Philosophie von Marx bestellt. Die revolutionäre „Algebra" tritt hier mit der ganzen unüberwindlichen Macht ihrer dialektischen Methode hervor. Marx erklärt: „In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Gräuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffasst, sich durch nichts imponieren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist."Μ Betrachtet man das Problem der materialistischen Dialektik vom Standpunkt der russischen Literaturgeschichte, so kann man sagen: sie erst lieferte die notwendige und hinreichende Methode zur Lösung des Problems, mit dem sich unser genialer Bjelinski so qualvoll herumgeschlagen hatte – wir meinen die Frage nach der Vernünftigkeit alles Wirklichen. Nur erst die dialektische Methode von Marx, angewandt auf die russische Realität, zeigte uns, was darin wirklich war und was nur wirklich schien. VI Unternimmt man es, die Geschichte materialistisch zu erklären, so stößt man, wie schon gesagt, zuallererst auf das Problem: wo liegen die wirklichen Ursachen für die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse? Wir wissen bereits, dass die „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft" durch ihre Ökonomie bestimmt wird. Wodurch wird nun diese letztere bestimmt? Marx antwortet darauf folgendermaßen: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt…"Ν In dieser Marxschen Antwort wird also die ganze Frage nach der Entwicklung der Ökonomie auf die andere reduziert: welche Ursachen bedingen die Entwicklung der Produktivkräfte, über welche die Gesellschaft verfügt? In dieser ihrer letzteren Fassung erhält die Frage ihre Lösung vor allem durch den Verweis auf die Beschaffenheit der geographischen Verhältnisse. Schon Hegel vermerkt in seiner „Philosophie der Geschichte" die wichtige Rolle der „geographischen Grundlage der Weltgeschichte". Da bei ihm aber als die Ursache jeder Entwicklung in letzter Instanz die Idee erscheint und er nur beiläufig und nur in Fällen von minderer Bedeutung, gleichsam gegen seine eigene Absicht, zur materialistischen Erklärung der Erscheinungen seine Zuflucht nimmt, so konnte ihn diese durchaus richtige, von ihm selbst ausgesprochene Anschauung von der großen historischen Bedeutung der geographischen Verhältnisse nicht zu all den fruchtbaren Schlussfolgerungen hinführen, die sich aus dieser Anschauung ergeben müssen. Es war erst der Materialist Marx, der diese Schlüsse in restloser Vollständigkeit zog.Ξ Die Beschaffenheit der geographischen Bedingungen bestimmt wie die Art der Naturgegenstände, die dem Menschen zur Befriedigung seiner Bedürfnisse dienen, so auch den Charakter der Produkte, die der Mensch selbst zum selben Zwecke erzeugt. Da, wo es keine Metalle gab, konnten die im Lande sitzenden Stämme aus eigener Kraft die Schranken des Steinzeitalters, wie wir es nennen, nicht überspringen. Ebenso war für den Übergang der ursprünglichen Fischer und Jäger zu Viehzucht und Ackerbau eine entsprechende Beschaffenheit der geographischen Verhältnisse, in diesem Fall eine entsprechende Fauna und Flora, erforderlich. L. H. Morgan bemerkt: „Das Nichtvorhandensein zähmbarer Tiere in der westlichen Hemisphäre… und die spezifische Verschiedenheit zwischen den Zerealien beider Hemisphären übte einen mächtigen Einfluss auf die entsprechende Entwicklung ihrer Bewohner aus."Ο Waitz schreibt von den Rothäuten Nordamerikas: „Sie besitzen keine Haustiere. Es ist dies von großer Wichtigkeit; denn in diesem Umstand liegt der Hauptgrund, weshalb sie genötigt sind, auf einer niederen Stufe der Kultur stehen zu bleiben."Π Schweinfurth berichtet: Wenn in Afrika eine bestimmte Gegend übervölkert ist, so verlegt ein Teil ihrer Bewohner seine Sitze in eine andere Gegend, wobei er zuweilen seine Lebensweise in Abhängigkeit von den geographischen Verhältnissen ändert, „indem Hirtenvölker zu Ackerbauern oder Ackerbauer zu Hirtenvölkern sich umgestalten" können.Ρ Von den Bewohnern des eisenreichen Gebiets, das einen beträchtlichen Teil von Zentralafrika umfasst, heißt es bei ihm, dass „das Schmiedehandwerk unter ihren Kunstfertigkeiten eine hervorragende Stellung einnimmt."Σ Das ist indes noch nicht alles. Schon auf den niedrigsten Entwicklungsstufen treten die menschlichen Stämme in gegenseitige Beziehungen, indem sie manche ihrer Produkte untereinander austauschen. Hierdurch werden die Grenzen der geographischen Bedingungen, die bei jedem von diesen Stämmen auf die Entwicklung der Produktivkräfte einwirkten, weiter hinausgeschoben, und der Gang dieser Entwicklung wird beschleunigt. Es begreift sich aber, dass die größere oder geringere Leichtigkeit der Entstehung und Aufrechterhaltung solcher Beziehungen gleichfalls von der Beschaffenheit der geographischen Umstände abhängt: schon Hegel hat erklärt, dass Flüsse und Meere die Menschen vereinigen, während Gebirge sie trennen. Allerdings bringt das Meer die Menschen nur auf verhältnismäßig hohen Entwicklungsstufen der Produktivkräfte einander näher; bei niedrigeren pflegt das Meer – nach Ratzels richtiger Bemerkung – Beziehungen zwischen den von ihm getrennten Stämmen in sehr hohem Maße zu erschweren.Τ Wie dem aber auch sei: unzweifelhaft sind die geographischen Bedingungen umso günstiger für die Entwicklung der Produktivkräfte, je mannigfaltiger die Beschaffenheit dieser Bedingungen. „Es ist nicht die absolute Fruchtbarkeit des Bodens", sagt Marx, „sondern seine Differenzierung, die Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Produkte, welche die Naturgrundlage der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bildet und den Menschen durch den Wechsel der Naturumstände, innerhalb deren er haust, zur Vermannigfachung seiner eignen Bedürfnisse, Fähigkeiten, Arbeitsmittel und Arbeitsweisen spornt."Υ Und fast mit den Marxschen Worten erklärt Ratzel: „… worauf es hier ankommt, ist nicht der möglichst leichte Erwerb der Nahrung, sondern die Weckung bestimmter Neigungen, Gewohnheiten und endlich Bedürfnisse im Menschen selbst."Φ Die Beschaffenheit der geographischen Umstände bedingt so die Entwicklung der Produktivkräfte, die Entwicklung dieser letzteren aber bedingt die Entwicklung der ökonomischen und weiter aller übrigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Marx erläutert dies in folgenden Worten: „Je nach dem Charakter der Produktionsmittel werden natürlich diese gesellschaftlichen Verhältnisse, worin die Produzenten zueinander treten, die Bedingungen, unter welchen sie ihre Tätigkeit austauschen und an dem Gesamtakt der Produktion teilnehmen, verschieden sein. Mit der Erfindung eines neuen Kriegsinstruments, des Feuergewehrs, änderte sich notwendig die ganze innere Organisation der Armee, verwandelten sich die Verhältnisse, innerhalb deren Individuen eine Armee bilden und als Armee wirken können, änderte sich auch das Verhältnis verschiedener Armeen zueinander."Χ Um dieser Erklärung noch größere Anschaulichkeit zu verleihen, führen wir ein Beispiel an. „Hirtenvölker", sagt Ratzel, „welche von Herden einer bestimmten Größe leben und weder Arbeit noch Nahrung genug für Sklaven haben, töten ihre Gefangenen, wie z. B. die Massai in Ostafrika. Ihre Nachbarn, die Ackerbau und Handel treibenden Wakamba, können Sklaven gebrauchen, töten sie also nicht."Ψ Die Entstehung der Sklaverei hat also zur Voraussetzung, dass eine bestimmte Entwicklungsstufe der gesellschaftlichen Kräfte erreicht ist, die Ausbeutung von Sklavenarbeit erlaubt. Die Sklaverei ist aber ein Produktionsverhältnis, mit dessen Erscheinen die Klassenscheidung der Gesellschaft einsetzt, die vordem nur eine Scheidung entsprechend den beiden Geschlechtern und den Altersstufen gekannt hat. Erreicht die Sklaverei ihre volle Ausbildung, so drückt sie der ganzen Ökonomie der Gesellschaft, auf dem Weg über diese aber allen übrigen Gesellschaftsverhältnissen und vor allem der politischen Struktur ihren Stempel auf. Wie sehr sich die antiken Staaten nach ihrer politischen Konstruktion voneinander unterscheiden mochten: ihr vorherrschender Charakter bestand darin, dass jeder eine politische Organisation darstellte, die allein die Interessen der Freien zum Ausdruck brachte und zu beschützen hatte. VII Wir wissen nun, dass die Entwicklung der Produktivkräfte, die in letzter Instanz die Entwicklung aller gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt, selbst wieder durch die Beschaffenheit der geographischen Naturbedingungen bestimmt wird. Einmal entstanden, wirken aber die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse selbst sehr stark auf die Entwicklung der Produktivkräfte zurück. So wird, was ursprünglich Folge, nun selbst wieder zur Ursache; zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Ordnung tritt eine Wechselwirkung ein, die in den verschiedenen Epochen die verschiedenartigsten Formen annimmt. Man muss weiter bedenken: wenn die in einer gegebenen Gesellschaft bestehenden inneren Verhältnisse durch den gegebenen Stand der Produktivkräfte bedingt werden, so sind schließlich und endlich auch ihre äußeren Verhältnisse oder Beziehungen von eben diesem Stand abhängig. Jeder gegebenen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte entspricht ein bestimmter Charakter der Bewaffnung, der Kriegskunst und schließlich der Rechtsverhältnisse, die zwischen verschiedenen Völkern, genauer: zwischen verschiedenen Gesellschaften, d. h. unter anderem auch zwischen verschiedenen Stämmen, bestehen. Jägerstämme sind zur Schaffung großer politischer Organisationen nicht imstande – aus keinem anderen Grunde, als weil die niedrige Stufe ihrer Produktivkräfte sie zwingt, nach allen Himmelsrichtungen aus einander zu streben (wenn ich mich dieses plastischen Ausdrucks bedienen darf), um in kleinen gesellschaftlichen Gruppen auf die Suche nach Subsistenzmitteln zu gehen. Je mehr aber diese gesellschaftlichen Gruppen „auseinander streben", desto unvermeidlicher nimmt die Entscheidung von Streitigkeiten die Form des mehr oder minder blutigen Kampfes an, selbst bei solchen Streitpunkten, die in einer zivilisierten Gesellschaft sehr leicht vor dem Friedensrichter erledigt werden könnten. Eyre sagt: Wenn sich einige australische Stämme dann und wann einmal zu bestimmten Zwecken an einem bestimmten Platze versammeln, so ist dies Zusammenleben niemals ein dauerndes; noch ehe der Nahrungsmangel oder die Notwendigkeit, einen Jagdzug zu unternehmen, sie wieder zum Auseinandergehen zwingt, pflegt es bereits zu feindlichen Zusammenstößen zwischen ihnen zu kommen, die bekanntlich sehr schnell zu kriegerischen Kämpfen führen können.Ω Jeder begreift, dass es zu solchen Zusammenstößen aus den verschiedenartigsten Anlässen kommen kann. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Mehrheit der Reisenden sie auf ökonomische Ursachen zurückführt. Als Stanley an einige Eingeborene in Äquatorialafrika die Frage richtete, wie ihre Kriege mit den Nachbarstämmen entständen, gaben sie ihm zur Antwort: Unsere Leute ziehen auf die Jagd; die Nachbarn versuchen, sie zu verjagen; da überfallen wir die Nachbarn, und sie uns, und wir schlagen uns, bis wir dessen überdrüssig sind oder bis eine von den Parteien sich besiegt gibt.α Ähnlich erklärt Burton: Alle Kriege werden in Afrika lediglich durch zwei Ursachen hervorgerufen: durch Viehraub oder durch Menschenfang.β Ratzel hält es für wahrscheinlich, dass die Kriege zwischen den Eingeborenen Neuseelands nicht selten dem einfachen Wunsch entspringen, sich an Menschenfleisch gütlich zu tun.γ Der starke Hang zur Menschenfresserei selbst aber erklärt sich bei diesen Eingeborenen aus der Armut der dortigen Tierwelt. Jeder weiß, wie sehr der Ausgang eines Krieges von der Bewaffnung jeder der kriegführenden Parteien abhängt. Aber diese ihre Bewaffnung wird durch den Stand ihrer Produktivkräfte bestimmt, durch den Charakter ihrer Ökonomie und der auf dieser ökonomischen Basis erwachsenen Gesellschaftsverhältnisse.δ Wenn man sagt, dieses oder jenes Volk, dieser oder jener Stamm sei durch ein anderes Volk unterworfen worden, so gibt man damit noch keinerlei Erklärung dafür: warum die sozialen Folgen dieser Unterwerfung gerade diese bestimmten und keine anderen waren. Die Eroberung Galliens durch die Römer hatte völlig andere soziale Folgen als die Eroberung desselben Landes durch die Germanen. Die sozialen Wirkungen, die sich aus der Eroberung Englands durch die Normannen ergaben, waren ganz anderer Natur als die aus der Eroberung Russlands durch die Mongolen. In allen diesen Fällen war der Unterschied in letzter Instanz bedingt durch den Unterschied der ökonomischen Struktur der Gesellschaft bei dem unterworfenen Volk einerseits, wie bei dem Eroberervolk andererseits. Je mehr sich die Produktivkräfte eines Stammes oder Volkes entwickeln, desto größer zumindest die Möglichkeit für diesen Stamm oder dieses Volk, sich für den Kampf ums Dasein eine bessere Ausrüstung zu beschaffen. Diese allgemeine Regel lässt jedoch viele Ausnahmen zu, die beachtet zu werden verdienen. Auf den untersten Entwicklungsstufen der Produktivkräfte kann der Unterschied in der Bewaffnung von Stämmen, die sich auf sehr verschiedenen ökonomischen Entwicklungsstufen befinden – z. B. bei nomadisierenden Hirten und sesshaften Ackerbauern –, nicht so groß sein, wie er es später wird. Außerdem kann der Fortschritt in der ökonomischen Entwicklung mit seiner wesentlichen Wirkung auf den Charakter des betreffenden Volkes dessen kriegerische Fähigkeit so sehr herabsetzen, dass es nicht mehr imstande ist, einem ökonomisch rückständigeren, dafür kriegsgewohnteren Gegner die Stirn zu bieten. Es geschieht daher nicht selten, dass friedliche Ackerbau treibende Stämme von kriegerischen Völkern unterworfen werden. Ratzel bemerkt, dass die festesten Staatsbildungen sich bei den „Halbkulturvölkern" finden, wo sie aus der gewaltsamen Vereinigung dieser beiden Elemente: der Ackerbauer- und der Hirtenorganisation, hervorgegangen sind.ε So richtig im Allgemeinen diese Bemerkung, ist doch festzuhalten, dass auch in solchen Fällen – ein gutes Beispiel dafür haben wir an China – die ökonomisch rückständigen Eroberer allmählich dem Einfluss des ökonomisch höher entwickelten unterworfenen Volkes restlos unterliegen. Die geographischen Verhältnisse üben nicht nur auf primitive Stämme, sondern auch auf die sogenannten Kulturvölker einen großen Einfluss aus. „Die Notwendigkeit", sagt Marx, „eine Naturkraft gesellschaftlich zu kontrollieren, damit hauszuhalten, sie durch Werke von Menschenhand auf großem Maßstab erst anzueignen oder zu zähmen, spielt die entscheidendste Rolle in der Geschichte der Industrie. So z. B. die Wasserreglung in Ägypten, Lombardei, Holland usw. Oder in Indien, Persien usw., wo die Überrieslung durch künstliche Kanäle dem Boden nicht nur das unentbehrliche Wasser, sondern mit dessen Geschlämme zugleich den Mineraldünger von den Bergen zuführt. Das Geheimnis der Industrieblüte von Spanien und Sizilien unter arabischer Herrschaft war die Kanalisation."ζ Die Theorie von dem Einfluss der geographischen Bedingungen auf die geschichtliche Entwicklung der Menschheit tauchte häufig in der Fassung auf, dass eine unmittelbare Einwirkung des „Klimas" auf den gesellschaftlichen Menschen behauptet wurde: man nahm an, dass unter dem Einfluss des „Klimas" die eine „Rasse" freiheitsliebend geworden sei, die andere geneigt zu geduldiger Unterwerfung unter die Macht eines mehr oder minder despotischen Monarchen, die dritte abergläubisch, daher von einer Priesterschaft abhängig, usw. Diese Ansicht ist z. B. noch bei Buckle die vorherrschende.η Nach Marx wird die Einwirkung der geographischen Naturbedingungen vermittelt durch die Produktionsverhältnisse, die an einem gegebenen Ort auf Grundlage der gegebenen Produktivkräfte entstehen, deren erste Entwicklungsbedingung die natürliche Beschaffenheit dieses Ortes darstellt. Die moderne Ethnologie akzeptiert immer klarer diesen Standpunkt. Dementsprechend misst sie auch der „Rasse" eine immer geringere „kulturgeschichtliche" Bedeutung bei. „Die Rasse – erklärt Ratzel – hat mit dem Kulturbesitz an sich nichts zu tun."θ Ein bestimmter Zustand der „Kultur" aber einmal erreicht, wirkt dieser zweifellos auch auf die physischen und psychischen Eigenschaften der „Rasse" ein.ι Der Einfluss, den die geographische Umwelt auf den gesellschaftlichen Menschen ausübt, stellt eine veränderliche Größe dar. Die durch den Charakter dieser Umwelt bedingte Entwicklung der Produktivkräfte erhöht die Macht des Menschen über die Natur und bringt ihn eben dadurch in ein neues Verhältnis zu der ihn umgebenden geographischen Umwelt; die heutigen Engländer reagieren auf diese Umwelt durchaus nicht in derselben Weise, wie die Stämme, die England zur Zeit Julius Casars bewohnt haben. Damit ist jener Einwand endgültig widerlegt, dass der Charakter der Bevölkerung eines Landstrichs sich wesentlich ändern könne, obwohl dessen geographische Beschaffenheit unverändert bleibe. VIII Die auf der Basis einer bestimmten ökonomischen Struktur sich erhebenden juristischen und politischen Verhältnisseκ wirken in entscheidender Weise auf die ganze Psychologie des gesellschaftlichen Menschen.λ Marx sagt: „Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen."μ Das Sein bestimmt das Denken. Und man kann sagen: jeder neue Schritt, den die Wissenschaft in der Erhellung des historischen Entwicklungsprozesses vorwärts macht, erbringt einen neuen Beweisgrund für diesen Grundsatz des modernen Materialismus. Schon im Jahre 1877 schrieb Ludwig Noire: „Es war die auf einen gemeinsamen Zweck gerichtete gemeinsame Tätigkeit, es war die urälteste Arbeit unserer Stammeltern, aus welcher Sprache und Vernunftleben hervorquoll."ν Indem Noire diesen bedeutsamen Gedanken weiterführt, gibt er an, dass „die Sprache in ihrem Ursprung die Dinge der objektiven Welt nicht als Gestalten, sondern als gestaltete, nicht als Wirkung ausübende, tätige Wesen, sondern als Wirkung erfahrende, leidende bezeichnet".ξ Und er erläutert dies durch die richtige Erwägung: „Alle Dinge treten… in den menschlichen Gesichtskreis, d. h., sie werden erst zu Dingen in dem Maße, als sie menschliche Tätigkeit erleiden, und danach erhalten sie ihre Bezeichnungen, ihre Namen."ο Kurz, die „eigene menschliche Wirksamkeit" ist Noire zufolge „letzter Inhalt der ursprünglichen Sprachwurzeln".π Es ist von Interesse, dass Noire den ersten Keim zu seiner Theorie in dem Gedanken Feuerbachs fand, dass das Wesen des Menschen nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten sei. Marx war ihm augenscheinlich unbekannt geblieben, sonst hätte er gesehen, dass seine Auffassung von der Bedeutung der Tätigkeit für die Ausbildung der Sprache der Anschauung von Marx näher steht: dieser hatte ja seiner Erkenntnistheorie gerade die menschliche Tätigkeit zugrunde gelegt, während Feuerbach vorzugsweise von der „Anschauung" gesprochen hatte. Es braucht gelegentlich der Noireschen Theorie wohl kaum mehr daran erinnert zu werden, dass der Charakter der menschlichen Tätigkeit im Produktionsprozess durch den Stand der Produktivkräfte bestimmt wird. Dies leuchtet ohne weiteres ein. Es wird eher angebracht sein, den Umstand noch hervorzuheben, dass die entscheidende Einwirkung des Seins auf das Denken mit besonderer Klarheit bei den primitiven Völkern zu beobachten ist, bei denen das gesellschaftliche und geistige Leben unvergleichlich einfacherer Natur ist als bei den zivilisierten Völkern. Von den Steinen schreibt über die Eingeborenen Zentral-Brasiliens: Wir können diese Menschen nur verstehen, wenn wir sie als das Erzeugnis des Jägertums betrachten. Er fährt fort: „Den Hauptstock ihrer Erfahrungen sammelten sie an Tieren, und mit diesen Erfahrungen… erklärten sie sich vorwiegend die Natur, bildeten sie sich ihre Weltanschauung."ρ Die Bedingungen des Jägerlebens bestimmten nicht nur die Weltanschauung dieser Völker, sondern auch ihre moralischen Begriffe, ihre Gefühle und – wie der Autor noch vermerkt – selbst ihre „künstlerischen Motive". Und genau dasselbe beobachten wir bei den Hirtenvölkern. Bei „einseitigen Hirtenvölkern", wie Ratzel sie bezeichnet, „bilden das Vieh, seine Herstammung, seine Gewohnheiten, Vorzüge und Fehler den Gegenstand von wenigstens 99 Prozent aller Gespräche".ς Solche „einseitige Hirtenvölker" waren z. B. die unglücklichen Hereros, die von den „zivilisierten" Deutschen unlängst mit so bestialischer Grausamkeit „beruhigt" worden sind.τ Wenn für den primitiven Jäger die Tiere die Hauptquelle seiner Erfahrung darstellten und wenn seine ganze Weltanschauung auf dieser Erfahrung aufgebaut war, so kann es nicht wundernehmen, dass bei den Jägervölkern auch die ganze Mythologie – die auf dieser Entwicklungsstufe gleicherweise die Philosophie, die Ideologie und die Wissenschaft repräsentiert – ihren Inhalt aus derselben Quelle schöpft. Was die Mythologie der Buschmänner besonders charakterisiert, sagt A. Lang, ist die Tatsache, dass darin fast nur von Tieren die Rede ist. Mit Ausnahme eines alten Weibes, das hie und da in den Sagen auftritt, kommt in ihren Mythen kaum ein Mensch vor.υ Nach Br. Smith sind die Götter der Australier, die gleich den Buschmännern das Jägerstadium noch nicht überschritten haben, vorwiegend Vögel und Tiere.φ Die Religion der primitiven Völker ist bislang noch nicht zur Genüge erforscht. Das aber, was wir heute schon darüber wissen, bestätigt ganz unzweifelhaft den kurzen Satz von Feuerbach und Marx: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen." Tylor sagt: „Unter den Religionen der niederen Rassen findet sich eine bemerkenswerte Gruppe von Systemen, die … uns ein himmlisches Pantheon enthüllen, das nach dem Vorbild einer irdischen politischen Konstitution gestaltet ist und in dem das gemeine Volk durch eine große Zahl von menschlichen Seelen und anderen Arten von weltdurchdringenden Geistern gebildet wird, während die großen polytheistischen Götter der Aristokratie entsprechen und der König die höchste Gottheit selbst ist."χ Das ist unstreitig bereits eine materialistische Auffassung der Religion: Wie man weiß, vertrat noch Saint-Simon die entgegen gesetzte Anschauung, er erklärte die gesellschaftliche und politische Ordnung der alten Griechen aus ihren religiösen Vorstellungen. Noch weit wichtiger aber ist, dass die Wissenschaft bereits den ursächlichen Zusammenhang aufzudecken beginnt, der bei den primitiven Völkern zwischen der Entwicklung ihrer Technik und ihrer Weltanschauung besteht.ψ In dieser Hinsicht stehen ihr augenscheinlich noch recht reiche Entdeckungen bevor.ω Von der Ideologie der Urgesellschaft ist heute am besten die Kunst erforscht. Auf diesem Felde ist sehr reichhaltiges Material gesammelt, das in der unzweideutigsten und überzeugendsten Weise die Richtigkeit und, um es so auszudrücken, die Unumgänglichkeit der materialistischen Erklärung der Geschichte bezeugt. Dieses Material ist derart umfangreich, dass wir an dieser Stelle nur die wichtigsten der hierher gehörigen Werke aufzählen können: Schweinfurth, „Artes Africanae", Leipzig 1875; R. Andree, „Ethnographische Parallelen" (Abhandlung: „Das Zeichnen bei den Naturvölkern"); von den Steinen, „Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens", Berlin 1894; G. Mallery, "Picture Writing of the American Indians" ("Annual Report of the Bureau of Ethnology", Washington 1893 – die Berichte anderer Jahrgänge enthalten wertvolle Angaben über den Einfluss der Technik, hauptsächlich der Webkunst auf die Ornamentik); Hoernes, „Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa", Wien 1898; Ernst Grosse, „Die Anfänge der Kunst"; ders., „Kunstwissenschaftliche Studien", Tübingen 1900; Iriö Hirn, „Der Ursprung der Kunst", Leipzig 1904; Karl Bücher, „Arbeit und Rhythmus", 3. Aufl. 1902; Gabriel et Ard. de Mortillet, «Le Prehistorique», Paris 1900 (S. 217-230); Hoernes, „Der diluviale Mensch in Europa", Braunschweig 1903; So-phus Müller, «L'Europe prehistorique», trad. du danois par E. Phi-lipot, Paris 1907; Richard Wallaschek, „Anfänge der Tonkunst", Leipzig 1903. Zu welchen Schlussfolgerungen über den Ursprung der Kunst die zeitgenössische Wissenschaft gelangt ist, werden die folgenden Sätze aus den Werken der aufgezählten Autoren zeigen. Hoernes sagt: „Die Ornamentik kann sich nur an der industriellen Tätigkeit entwickeln, die ihre stoffliche Voraussetzung bildet; … Völker ohne alle Industrie… haben gar keine Ornamentik und können keine solche haben."А K. von den Steinen ist der Ansicht, dass das Zeichnen sich aus den Zeichen für Gegenstände zu praktischen Zwecken entwickelt hat. Bücher kam zu der Schlussfolgerung, dass „Arbeit, Musik und Dichtung auf der primitiven Stufe ihrer Entwicklung in eins verschmolzen gewesen sein müssen, dass aber das Grundelement dieser Dreieinheit die Arbeit gebildet hat, während die beiden anderen nur akzessorische Bedeutung haben".Б Nach seiner Ansicht „ist es die energische rhythmische Körperbewegung, die zur Entstehung der Poesie geführt hat, insbesondere diejenige Bewegung, welche wir Arbeit nennen". Er vermerkt, dass keine Sprache für sich ihre Wörter und Sätze rhythmisch baue. Es sei darum sehr unwahrscheinlich, dass auf dem Wege bloßer Sprachbeobachtung die Menschen dazu gelangt seien, die Wörter und Silben nach Quantität oder Tonstärke zu nennen und zu zählen, Hebungen und Senkungen in gleichem Abstand zu ordnen, kurz nach einem bestimmten rhythmischen Gesetz die Rede zu gestalten.В Wie nun die Entstehung der gegliederten rhythmischen Rede erklären? Bücher nimmt an, dass „rhythmisch gegliederte Körperbewegungen der bildsamen Rede das Gesetz ihres Verlaufs mitgeteilt" haben. Das ist um so wahrscheinlicher, als auf den untersten Entwicklungsstufen diese rhythmischen Bewegungen mit dem Gesang regelmäßig verbunden sind.Г Woraus aber erklärt sich die rhythmische Gliederung der Körperbewegungen? Aus dem Charakter der Produktionsprozesse. Das „Rätselhafte" des Versbaues liegt also in der produktiven Tätigkeit.Д Wallaschek formuliert seine Ansicht über den Ursprung der szenischen Vorstellungen bei den primitiven Völkern folgendermaßen: „Der Gegenstand dieser Spiele war: 1. Jagd, Krieg, Fischerei, Rudern (Jägervölker, Nomaden), das Leben und die Gewohnheiten der Tiere; Tierpantomimen; Masken.Е 2. Leben und Gewohnheiten der Viehherde (Viehzüchter). 3. Arbeit (Ackerbauer), Reisstampfen, Getreidemahlen, Dreschen, Ernte, Weinlese." „Die Darstellung erfolgt durch den ganzen Stamm (Chor), der singt und darstellt. Gesungen werden bedeutungslose Worte (kein Text), den Inhalt der Gesänge bildet eben die szenische Darstellung (Pantomime). Ausgeführt werden nur Tatsachen des täglichen Lebens, deren Durchführung im Kampfe ums Dasein absolut notwendig ist." Wie Wallaschek sagt, zeigt sich bei solchen Aufführungen nicht selten bei manchen Naturvölkern die Teilung des Gesamtchors in zwei einander gegenüberstehende Chöre. „Das ist", fügt er hinzu, „auch das Urbild des griechischen Dramas, das ebenfalls ursprünglich eine Tierpantomime war. Das Tier, das im wirtschaftlichen Leben der Griechen die größte Rolle spielte und dessen Gewohnheiten nachgeahmt werden sollten, war der Bock (tragos, daher Tragödie)."Ж Schwerlich ließe sich eine glänzendere Illustration zu dem Satz ausdenken, dass nicht das Sein durch das Denken, sondern das Denken durch das Sein bestimmt wird!
A Mein Freund Viktor Adler hatte sehr recht, als er in seinem am Beerdigungstag von Engels veröffentlichten Artikel erklärte, dass der Sozialismus, wie ihn Marx und Engels verstanden haben, nicht bloß eine ökonomische, vielmehr eine universale Lehre sei (ich zitiere nach der italienischen Ausgabe: Frederigo Engels, «Economia politica. Con introduzione e notizie bio-bibliografiche di Filippo Turati, Vittorio Adler e Carlo Kautsky e con appendice», prima edizione italiana, publicata in occasione della morte dell' autore, Milano 1895, p. 12-17 [Friedrich Engels, Politische Ökonomie. Mit Einführung und bio-bibliographischen Notizen von Filippo Turati, Viktor Adler und Karl Kautsky und mit Anhang, erste italienische Ausgabe, veröffentlicht aus Anlass des Todes des Autors, Mailand 1895. S. 12–17]). Je richtiger aber diese Charakteristik des Sozialismus, „wie ihn Marx und Engels verstanden haben", um so befremdender wirkt es, wenn Viktor Adler die Möglichkeit einräumt, dass die materialistische Grundlage dieser „universalen Lehre" durch die Kantische ersetzt werden könne. Was soll man von einer universalen Lehre denken, deren philosophische Grundlage in keinem Zusammenhang mit ihrem ganzen Aufbau steht? Engels schrieb: „Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die aus der deutschen idealistischen Philosophie die bewusste Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte hinüber gerettet hatten." (Siehe Vorwort zum „Anti-Dühring".) Daraus geht ganz klar hervor, dass die Väter des wissenschaftlichen Sozialismus, einigen ihrer heutigen Anhänger zum Trotz, nicht nur auf dem Gebiet der Geschichte, sondern auch auf dem der Naturwissenschaft bewusste Materialisten waren. B Die Philosophie von Marx und Engels behandelt das Werk des Herrn Weryho: „Marx als Philosoph" (Bern und Leipzig 1894). Indes kann man sich kaum etwas vorstellen, das weniger befriedigend wäre als diese Schrift. C Von uns ins Russische übersetzt und mit Vorwort und erläuternden Anmerkungen versehen. D Von hohem Interesse für die Analyse der Entwicklung, die Marx in seinen philosophischen Anschauungen durchmachte, ist Marxens Brief vom 50. Oktober 1845 an Feuerbach; indem er diesen auffordert, gegen Schelling aufzutreten, schreibt er: „Sie sind gerade dazu der Mann, weil Sie der umgekehrte Schelling sind. Der – wir dürfen das Gute von unserem Gegner glauben – der aufrichtige Jugendgedanke Schellings, zu dessen Verwirklichung er indessen kein Zeug hatte als die Imagination, keine Energie als die Eitelkeit, keinen Treiber als das Opium, kein Organ als die Irritabilität eines weiblichen Rezeptionsvermögens, dieser aufrichtige Jugendgedanke Schellings, der bei ihm ein phantastischer Jugendtraum geblieben ist, er ist Ihnen zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zu männlichem Ernst geworden. Schelling ist daher Ihr antizipiertes Zerrbild, und sobald die Wirklichkeit dem Zerrbilde gegenübertritt, muss es in Dunst, in Nebel zerfließen. Ich halte Sie daher für den notwendigen, natürlichen, also durch Ihre Majestäten, die Natur und die Geschichte, berufenen Gegner Schellings. Ihr Kampf mit ihm ist der Kampf der Imagination von der Philosophie mit der Philosophie selbst…" (Karl Grün, „Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlass", I. Bd., Leipzig 1874, S. 561 [Karl Marx/Friedrich Engels, Historisch-kritische Gesamtausgabe (MEGA), Erste Abteilung, Bd. 1, 2. Halbbd., Berlin 1929, S. 516/17].) Demnach verstand Marx den „Jugendgedanken Schellings" im Sinne eines materialistischen Monismus. Feuerbach teilte jedoch diese Marxsche Ansicht nicht, wie aus seiner Antwort an Marx ersichtlich. Er ist der Ansicht, Schelling habe schon in seinen ersten Werken „nur den Idealismus des Gedankens in den Idealismus der Imagination verwandelt, den Dingen ebenso wenig Realität eingeräumt als dem Ich, nur dass es einen anderen Schein hatte, weil er statt des bestimmten Ich das unbestimmte Absolute setzte und dem Idealismus einen pantheistischen Anstrich gab" (ebenda, S. 402 [MEGA, Erste Abteilung, Bd. 1, 2. Halbbd., S. 517/18]). E Siehe sein interessantes Buch «Гермаия накануне революции 1848г.», St. Petersburg 1906, S. 228/29. F Engels schrieb: „Der Entwicklungsgang Feuerbachs ist der eines – freilich nie ganz orthodoxen – Hegelianers zum Materialismus hin, eine Entwicklung, die auf einer bestimmten Stufe einen totalen Bruch mit dem idealistischen System seines Vorgängers bedingt. Mit unwiderstehlicher Gewalt drängt sich ihm schließlich die Einsicht auf, dass die Hegelsche vorweltliche Existenz der ,absoluten Idee', die ,Präexistenz der logischen Kategorien', ehe denn die Welt war, weiter nichts ist als ein phantastischer Überrest des Glaubens an einen außerweltlichen Schöpfer; dass die stoffliche, sinnlich wahrnehmbare Welt, zu der wir selbst gehören, das einzig Wirkliche, und dass unser Bewusstsein und Denken, so übersinnlich es scheint, das Erzeugnis eines stofflichen, körperlichen Organs, des Gehirns ist. Die Materie ist nicht ein Erzeugnis des Geistes, sondern der Geist ist selbst nur das höchste Produkt der Materie. Dies ist natürlich reiner Materialismus." („Ludwig Feuerbach", Stuttgart 1907, S. 17/18 .) G „Über Spiritualismus und Materialismus". [Ludwig] Feuerbachs sämtliche Werke (Leipzig 1846-1866), Bd. X, S. 129. H Sämtliche Werke, Bd. IV, S. 249. I Ebenda. J Feuerbach selbst sagt sehr schön, dass der Anfang jeder Philosophie sich durch den Zustand des vorhergegangenen philosophischen Denkens bestimmt. [Ludwig Feuerbachs sämtliche Werke, Bd. II, S. 193.] K Friedrich Albert Lange behauptet: „Der echte Materialist wird stets geneigt sein, seinen Blick auf das große Ganze der äußeren Natur zu richten und den Menschen als eine Welle im Ozean ewiger Stoffbewegung zu betrachten. Die Natur des Menschen ist für den Materialisten nur ein Spezialfall der allgemeinen Physiologie, wie das Denken nur ein Spezialfall in der Kette physischer Lebensprozesse." (Friedrich Albert Lange, „Geschichte des Materialismus", 6. Aufl., Leipzig 1902, Bd. II, S. 74.) Aber Theodore Dézamy geht in seinem «Code de la Communauté» (Paris 1843) gleichfalls von der menschlichen Natur (dem „menschlichen Organismus") aus, und trotzdem wird niemand bezweifeln, dass er die Anschauungen des französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts geteilt hat. Übrigens wird Dézamy von F. A. Lange überhaupt nicht erwähnt, während Marx ihn zu den französischen Kommunisten zählt, bei denen der Kommunismus in höherem Maße wissenschaftlich war als zum Beispiel bei Cabet. „…Dézamy, Gay etc. entwickeln, wie Owen, die Lehre des Materialismus als die Lehre des realen Humanismus und als die logische Basis des Kommunismus." („Heilige Familie".) Zu der Zeit, als Marx und Engels die hier zitierte Schrift verfassten, gingen sie in der Beurteilung der Feuerbachschen Philosophie noch auseinander. Marx nannte sie den „mit dem Humanismus zusammenfallenden Materialismus“. („Wie aber Feuerbach auf theoretischem Gebiete, stellte der französische und englische Sozialismus und Kommunismus auf praktischem Gebiete den mit dem Humanismus zusammenfallenden Materialismus dar".) Überhaupt betrachtete Marx den Materialismus als die notwendige theoretische Grundlage des Kommunismus und Sozialismus. Engels dagegen vertrat die Ansicht, dass der alte Gegensatz des Spiritualismus und Materialismus von Feuerbach ein für allemal überwunden worden sei („Heilige Familie"). Später dann, wie wir gesehen haben, konstatiert er gleichfalls in der Entwicklung Feuerbachs die Evolution vom Idealismus zum Materialismus. L [Ludwig Feuerbachs] sämtliche Werke, Bd. II, S. |
Georgi Plechanow >