Julian Marchlewski (Karski): Imperialismus oder Sozialismus? [J. Karski: Imperialismus oder Sozialismus? Sozialdemokratische Flugschriften 12, Berlin 1912, Nachdruck: Berlin 1960. Nach Julian Marchlewski-Karski, Imperialismus oder Sozialismus? Arbeiten über die Entwicklung des Imperialismus und den antimonopolistischen Kampf der Arbeiterklasse 1895 bis 1919. Frankfurt am Main 1978, S. 167-185] 1. Wirtschaftliche und soziale Umgestaltungen In eine neue Sturm- und Drangperiode ist der Kapitalismus seit der Mitte der neunziger Jahre getreten. Bis dahin war die ökonomische Entwicklung seit der Weltkrise im Jahre 1873 vergleichsweise langsam und allmählich verlaufen. Es war eine stetige Ausdehnung kapitalistischer Produktion, wie sie sich in England, dem Weltmarktbeherrscher, entwickelt hatte, über die Staaten des europäischen Festlandes und die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Zugleich bedeutete diese Entwicklung sozial die völlige Verdrängung der handwerklichen Produktion durch die kapitalistische, die Proletarisierung der kleinen Produzenten und die Schaffung der immer zahlreicher werdenden Klasse der Lohnarbeiter. Der intensive wirtschaftliche Aufschwung, der in den neunziger Jahren einsetzte, die rasche Aufeinanderfolge von Zeiten der Hochkonjunktur die nur durch kurze Krisen unterbrochen werden, zeigen das Ende dieser ökonomischen Periode der vornehmlich inneren Durchkapitalisierung der führenden Staaten an und zugleich den Beginn einer anderen Periode, die gekennzeichnet ist durch die stärkste Änderung in dem inneren Aufbau der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse sowie durch eine neue, ungleich intensivere Welteroberung des Kapitals. War die frühere Periode charakterisiert vor allem durch den Kampf kapitalistischer Produktion mit rückständigen Erzeugnisweisen, so führt jetzt das Großkapital seinen siegreichen Kampf gegen das Klein- und Mittelkapital durch und errichtet seine unbedingte Herrschaft über die Wirtschaft. Nicht mehr die Konsumtionsmittelindustrien, die den unmittelbaren Lebensbedarf liefern, haben innerhalb der Industrie die Führung, sondern jene Produktionszweige, die die Rohstoff- und Produktionsmittel liefern. Die nach unseren heutigen Begriffen klein- und mittelkapitalistische Textilindustrie hat ihre einstmals erste Stelle längst an die hochkapitalistischen Zweige der Kohlen- und Eisen-, der Maschinen-, der chemischen und elektrischen Industrie abgeben müssen. Zugleich haben sich die Organisationsformen der Industrie von Grund auf geändert. Der selbständige Kapitalist, dem sein Unternehmen selbst gehört, verschwindet immer mehr; an seine Stelle tritt die Aktiengesellschaft, in der vom Kapital bezahlte Angestellte die Leitung der Produktion führen. Die Form der Aktiengesellschaft erleichtert außerordentlich die Aufbringung auch der größten Kapitalien und macht es so möglich, dass die Unternehmungen auf der größten Stufenleiter, die der Stand der Technik verlangt, geführt werden. Zugleich gibt ihre Gründung Gelegenheit zu außerordentlichen Gründungsgewinnen und wird damit neben der Börsenspekulation der Eingeweihten in den Aktien eine wirksame Förderin der Zusammenballung größter kapitalistischer Vermögen. Zudem erleichtert die Aktiengesellschaft die Vereinigung früher getrennter und selbständiger Unternehmungen zu einer einzigen in außerordentlicher Weise. Und gerade dieses Vereinigungsstreben ist für die moderne große Industrie charakteristisch. Wie der Einzelunternehmer, so verschwindet auch immer mehr das frühere Einzelunternehmen. Man sucht alle aufeinander folgende Stufen der Produktion von der Rohmaterialerzeugung bis zum fertigen Produkt zusammenzufassen, sie zu kombinieren. So vereinigt ein einziges Unternehmen die Kohlen- und Erzgewinnung, die Herstellung des Roheisens und seine Verwandlung in Stahl mit der Verarbeitung im Walzwerk zu Trägern und Schienen, zu Blechen und Drähten und dem Transport dieser Produkte. Ständig wächst die Größe der einzelnen kapitalistischen Unternehmungen, und ihre Vereinigung lässt die Riesen entstehen, die heute für die so genannte schwere Industrie typisch geworden sind. Zugleich mit dieser enormen Konzentration der Industrie verflechten sich die Beziehungen zwischen Bank- und Industriekapital immer mehr. Die Banken sammeln das momentan unbeschäftigte Geld der Industriellen wie der anderen Klassen der Bevölkerung und stellen es den Unternehmungen zur Verfügung. Und je größer die Unternehmungen, desto wichtiger wird auch im Allgemeinen für sie die Verfügung über den Kredit der Banken, um alle Konjunkturen rasch ausnützen zu können. Und die Form der Aktiengesellschaft stärkt gleichfalls diesen Einfluss der Banken. Die Banken sind es, die die Aktien ausgeben und für ihre Unterbringung sorgen, die den Kursstand an der Börse kontrollieren und schließlich als Eigentümer oder als Vertreter vieler Aktionäre das Stimmrecht ausüben und die Generalversammlung beherrschen. Je größer aber die industriellen Unternehmungen, desto größer muss auch die Bank sein, mit der solche Unternehmungen arbeiten können. Und so sehen wir, dass, parallel mit der Konzentration in der Industrie und sie schließlich noch weit übertreffend, eine Konzentration im Bankwesen platz greift, so dass heute sechs Berliner Großbanken, jede mit mehr als 100 Millionen Mark Kapital, die eigentlichen Beherrscher des deutschen Wirtschaftslebens sind. Das Finanzkapital vereinigt so in sich immer mehr die ökonomische Macht der bürgerlichen Gesellschaft. Je größer die Unternehmungen, desto größer können für sie aber die Gefahren der Konkurrenz werden. Wenn ein kapitalkräftiges, technisch besser ausgerüstetes Werk einem schwächeren und rückständigeren gegenübersteht, dann ist der Ausgang der Konkurrenz nicht zweifelhaft, dann wird das für das größere Werk kein Grund sein, dem Kampfe auszuweichen. Im Gegenteil, nach dem Sieg fällt ihm ja der ehemalige Absatz des Konkurrenten zu. Anders aber, wenn sich einige große, annähernd gleich starke Unternehmungen gegenüberstehen. Dann ist der Ausgang unsicher und nur gewiss, dass der Kampf lang dauern und für alle Beteiligten außerordentlich verlustreich sein wird. So entsteht das Bestreben, die Konkurrenz auszuschalten, den Kampf zu vermeiden und eine Vereinbarung zu treffen, um gemeinsam das Ausmaß der Produktion festzusetzen, die Preise hinauf zu schrauben und den Markt monopolistisch zu beherrschen. Und das Bestreben der Großindustrie erhält die kräftigste Förderung durch die Großbanken. Denn eine Bank, die zum Beispiel einer Reihe von Eisenwerken Kredit gewährt hat, muss fürchten, durch die Schädigungen des Konkurrenzkampfes selbst in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Sie wird daher den großen Einfluss, den sie über die Werke besitzt, dazu benützen, um auch etwaige Widerstrebende der Vereinbarung geneigt zu machen. So sehen wir als das schließliche Resultat des kapitalistischen Konkurrenzkampfes das Bestreben erwachen, die Konkurrenz auszuschalten und an ihre Stelle das kapitalistische Monopol zu setzen. Kartelle und Trusts beherrschen immer mehr das Wirtschaftsleben. Die Zeiten der freien Konkurrenz sind für die entscheidenden Industrien im Innern der kapitalistischen Staaten vorbei. Ungeheure Profite wirft die monopolistische Ausbeutung den Kapitalmagnaten ab. Riesig rasch ist die Konzentration des Kapitals fortgeschritten. Drei Dutzend Männer beherrschen in den Vereinigten Staaten die ungeheure Produktion des Riesenreiches; 300 Männer, die sich alle untereinander kennen, sind nach dem sachverständigen Zeugnis Rathenaus die Beherrscher des europäischen Wirtschaftslebens. Und in ganz wenigen Organisationen ist diese Herrschaft zusammengefasst. Hinter den mächtigen Kartellen, die vor allem die Produktionsmittel der heutigen Gesellschaft liefern und damit auch alle anderen Zweige der Industrie immer mehr in ihre Abhängigkeit bringen, stehen die modernen Großbanken, und die Chefdirektoren der Berliner Großbanken, die sind es heute in erster Linie, die das deutsche Wirtschaftsleben und damit zum guten Teil das deutsche Volk beherrschen. Wenn die 300 Kapitalmagnaten ersetzt würden durch Vertrauensmänner des Proletariats, dann könnte die Produktion ohne weiteres anstatt im Interesse des Kapitals, im Interesse der arbeitenden Klassen geleitet und der Übergang zur sozialistischen Organisation der Volkswirtschaft begonnen werden. So weit ist heute schon die kapitalistische Vorarbeit gediehen. 2. Die Wirtschaftspolitik des Imperialismus Die tiefgehenden ökonomischen Änderungen, von denen wir eben gesprochen haben, sind natürlich für die Wirtschaftspolitik der kapitalistischen Staaten von größtem Einfluss. Sie bestimmen vor allem den Charakter der modernen Handelspolitik. Noch zu Anfang der siebziger Jahre schien die Freihandelspolitik, bei der die ältere englische Industrie, die keine Konkurrenz zu fürchten brauchte, vorzüglich ihre Rechnung fand, in stetigem Vordringen begriffen. Aber immer mehr wuchs der Widerstand der festländischen Kapitalisten gegen den Freihandel, der ihre mit den Anfangsschwierigkeiten kämpfende Industrie der weitaus mächtigeren englischen schutzlos preisgab. Die europäischen Industriellen hatten keine Lust, die Kosten dieser englischen Konkurrenz selbst zu tragen. Mit Hilfe des Schutzzolls wollten sie diese auf die Masse der inländischen Konsumenten abwälzen. Eine Schutzzollmauer sollte auch die zurückgebliebene deutsche Industrie vor dem übermächtigen Rivalen schützen, bis sie stark genug wäre, um ohne staatliche Fürsorge in den Kampf um den Weltmarkt eintreten zu können. Es sollten Erziehungszölle sein, die die Übergangszeit erleichterten. Die schwere Krise, die 1873 über die kapitalistische Welt hinwegfegte, stärkte die schutzzöllnerische Strömung in der Industrie. Und bald fand diese an den Agrariern mächtige Bundesgenossen. Deutschland war aus einem Getreideexportland ein Getreideimportland geworden, und schon kündigte sich die überseeische Konkurrenz an, die für lange Jahre hinaus eine sinkende Tendenz der Getreidepreise verursachte. Die Großgrundbesitzer verwandelten sich aus begeisterten Freihändlern in immer dringender werdende Befürworter des Schutzzolls. Dazu kam noch das fiskalische Interesse an der Erschließung neuer Einnahmequellen. 1879 wurde die Wandlung vollzogen, und Bismarck begann die so genannte nationale Wirtschaftspolitik. Der Freihandel, der eine Zeitlang die Welt zu erobern schien, hatte eine entscheidende Niederlage erfahren. Die weitere Entfaltung des Kapitalismus änderte allmählich den Sinn der industriellen Schutzzollpolitik. Die deutsche Industrie war mächtig erstarkt und vom ökonomisch-technischen Standpunkt aus durchaus befähigt, jeder anderen Industrie auf dem Weltmarkt die Spitze zu bieten. Eine Zeitlang schien es, als würde damit auch die Schutzzollpolitik allmählich aufgegeben werden müssen und an ihre Stelle eine Politik, wenn nicht des Freihandels, so doch langfristiger Handelsverträge mit niedrigen Zollsätzen treten. Caprivi machte sich zum Träger dieser Politik, deren Grundsätzen die Handelsverträge von 1893 entsprachen. Doch alsbald erhob sich gegen diese Politik wachsender Widerstand. Zwar hatte die überseeische Konkurrenz ihre Heftigkeit verloren, aber die Getreidepreise blieben auf einem relativ mäßigen Niveau. Die Herabsetzung der landwirtschaftlichen Zölle hatte eine Ermäßigung der Bodenpreise bewirkt, und die Agrarier fühlten sich in ihren wichtigsten Interessen getroffen. Erhöhung der landwirtschaftlichen Zölle war der Kampfruf, durch den die Großgrundbesitzer alle Schichten des platten Landes um ihren Bund der Landwirte sammelten. Und wieder kam ihnen die Industrie zu Hilfe. Es waren gerade die Vertreter der stärksten und entwickeltsten Industrien, die nun für den Hochschutzzoll ins Feld rückten. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass der Schutzzoll, indem er die ausländische Konkurrenz fernhält, ein ausgezeichnetes Mittel ist, um die Kartellierung zu erleichtern. Die Kartelle konnten jetzt das Verhältnis von Angebot und Nachfrage für den inländischen Markt bequem so einrichten, dass der Preis der zollgeschützten Waren ständig um den Betrag des Zolls über den Weltmarktpreis gehalten wurde. Der Schutzzoll war als Erziehungszoll für die längst erstarkte Industrie überflüssig geworden, aber er war ein Bereicherungszoll geworden, das beste Mittel, die Kartellbildung treibhausmäßig zu fördern und den monopolistischen Industrien zu gestatten, in der Höhe des Zolls eine indirekte Steuer auf ihre Waren von allen Verbrauchern zu erheben. Ein solcher Bereicherungszoll musste die Kartellmagnaten mit den agrarischen Grundrentnern vereinigen. Aus dieser Vereinigung entstand jener Wucherzolltarif, dessen Folgen angesichts der enormen Verteuerung der Lebenshaltung keinem mehr verborgen sind. Die Schutzzollpolitik zerriss, was der Freihandel zu einen hoffte. Sie zerteilte den Weltmarkt in lauter einzelne Wirtschaftsgebiete und steigerte zugleich die Gegensätze, die das kapitalistische Ausdehnungsbestreben zur Folge hatte. Die Monopolisierung durch den Schutzzoll war für das nationale Kapital ein zu bequemes Mittel, als dass es so leicht seine Anwendung auf das nationale Wirtschaftsgebiet beschränkt hätte. Immer mehr suchten die Schutzzoll-Länder Stücke des Weltmarktes für sich allein zu reservieren. Das Streben aller kapitalistischen Länder ging so immer mehr darauf aus, neue Kolonien zu erwerben und sie durch Zollmauern gegen fremde Konkurrenten abzuschließen. 3. Der kapitalistische Ausdehnungsdrang Die Sturm- und Drangperiode, in der sich der Kapitalismus befindet, bedeutet aber zugleich eine ungeheure Steigerung der Produktion, die des Absatzes bedarf. Eine Vorstellung davon geben die Ziffern der Kohlen- und Eisenproduktion von 1890 bis 1910, Kohlenproduktion in 1.000 metrischen Tonnen:
Roheisenproduktion in 1.000 metrischen Tonnen:
Diese riesig zunehmende Produktion bedeutet zugleich eine riesige Reichtumsansammlung in den Händen des konzentrierten Großkapitals, der Kartelle und Trusts. Der Absatz auf dem inländischen Markt ist aber beschränkt. Denn das Kapital hält die Masse der Bevölkerung unter seinem lastenden Druck. Es sucht die Arbeiter auf das zur Erhaltung ihres Lebens Notwendige zu beschränken. Die sozialistische Gesellschaft würde alle die ungeheuren Produktionsmittel sofort dazu benützen, um das für die Volksgenossen im Innern der Staaten Notwendige zu produzieren. Die Kapitalisten aber suchen nach neuen Märkten, neuen Absatz- und Ausbeutungsgebieten im Ausland, um ihre Produkte mit möglichst hohem Profit loszuschlagen. Dieses Expansionsstreben beherrschte von jeher die kapitalistische Politik. Es wird aber jetzt weit intensiver. Die Kapitalisten begnügen sich nicht mehr damit, ihre Produkte, zum Beispiel Kattun, an die Bewohner Indiens oder Südamerikas als Waren zu verkaufen. Sie exportieren vielmehr ihre Waren als Kapital. Sie verpflanzen den Kapitalismus selbst in die bisher verschlossenen Erdteile, bauen dort Eisenbahnen und Telegraphen, betreiben dort Bergwerke, gründen Fabriken größten Stils und statten sie mit den modernsten Produktionsmitteln aus. Es ist diese Durchkapitalisierung der ganzen Welt, die für die ungeheuer gestiegene Produktion der alten kapitalistischen Staaten den nötigen Absatz schafft. Und mit der kapitalistischen Produktion zugleich schafft das Kapital alle alten, überlieferten Verhältnisse um, vernichtet die rückständigen Produktionsweisen, ruiniert und proletarisiert ihre Träger, wälzt alle sozialen Beziehungen von Grund auf um und schafft mit der ökonomischen zugleich die Bedingungen der politischen Umwälzung in den Ländern, in die sein Siegeszug führt. Der Kapitalexport ist so das wichtigste ökonomische Mittel der Welteroberung des Kapitals geworden. 4. Das imperialistische Ideal Während so das Kapital die ganze Erde zu seinem Ausbeutungsfeld zu machen, die Welt immer mehr in ein einheitliches Wirtschaftsgebiet zu verwandeln strebt, zerreißt die Schutzzollpolitik dieses Gebiet wieder in einzelne Stücke, deren Ausbeutung als Monopol der besonderen nationalen Kapitalistenklasse vorbehalten bleiben soll. Und zum Bestreben jeder Kapitalistenklasse wird es, das ihr gehörige Stück möglichst zu vergrößern. Die schutzzöllnerische Wirtschaftspolitik steigert so den Gegensatz der Staaten untereinander. Da jeder den anderen aus dem Weltmarkt auszusperren sucht, so sucht jeder mit Gewalt sich einen möglichst großen Teil des Weltmarktes anzueignen. So wird die kapitalistische Expansionspolitik im Verein mit der Schutzzollpolitik zur kolonialen Eroberungspolitik. Es entsteht das Ideal der Kapitalisten, ihr Reich auf Kosten aller anderen zu einem Weltreich, zu einem Imperium zu machen, das so umfassend ist, dass alle wirtschaftlichen Bedürfnisse des Kapitals in seinen Grenzen befriedigt werden können. Und da die Kapitalisten in ihrer immer straffer werdenden ökonomischen und politischen Organisation die Staatsmacht immer unbedingter beherrschen, da Bürokratie und Militär bei einer solchen Politik ihre Interessen gewahrt sehen und ihre Macht vermehren, wird die imperialistische Politik immer mehr zu der alle kapitalistischen Staaten beherrschenden. Die Idee vom ewigen Frieden, die die englischen Freihändler einst der kapitalistischen Welt zu erfüllen versprachen, wird verhöhnt und verspottet. An ihre Stelle tritt die Verherrlichung des Krieges und der Gewalt, und die Eroberung von Kolonien wird der Hauptinhalt der auswärtigen Politik. Das Ziel dieser Kolonialpolitik ist aber nicht mehr die Erwerbung von Siedlungskolonien, wohin die überschüssige Bevölkerung abfließen könnte, wie solche im 18. Jahrhundert etwa die heutigen Vereinigten Staaten von Amerika für England gewesen sind. Denn eine solche Überschussbevölkerung existiert in den entwickelten Industriestaaten nicht mehr. Die kapitalistische Entwicklung führt immer mehr zu dem Resultat, die Bevölkerungsvermehrung zum Stillstand zu bringen, diesen wichtigen Antrieb des Kulturfortschritts still zu setzen, In allen Industriestaaten sehen wir eine rasche Abnahme der Geburtenzahl, und nur der Rückgang der Sterblichkeitsziffern verhütet bis jetzt, dass die Bevölkerung dieser Staaten zum Stillstand kommt. Und dies in einer Zeit, wo die rasche Ausdehnung der Produktion auch immer neue Scharen von Arbeitern erfordert. Dies hat bewirkt, dass Deutschlands Auswanderung völlig geringfügig geworden ist. Im Jahre 1910 waren es im ganzen rund 25.000 Personen, die Deutschland verließen, und diesen stehen die 1½ Millionen Ausländer gegenüber, die das deutsche Kapital alljährlich als billige Arbeitskräfte seinen Ausbeutungsbedingungen unterwirft. Und wie die Auswanderung aber schon gar nichts mit moderner Kolonialpolitik zu tun hat, beweist die Tatsache, dass die Auswanderer sich wohl hüten, deutsche Kolonien aufzusuchen. Gingen ja zum Beispiel 1910 nicht weniger als 22.773 in die Vereinigten Staaten. In dem ganzen letzten Jahrzehnt sind im Ganzen gerade 596 Deutsche nach Asien oder Afrika ausgewandert! Es ist also ein frecher demagogischer Schwindel, wenn gesagt wird, dass die Kolonialpolitik dazu dienen soll, deutschen Arbeitern und Bauern neue Heimstätten zu schaffen. Es sind ganz andere, rein kapitalistische Ziele, die die Kolonialpolitik in Wirklichkeit verfolgt. Der große wirtschaftliche Aufschwung seit Mitte der neunziger Jahre hat den Preis der industriellen Rohstoffe, der Metalle und der Baumwolle besonders, stark in die Höhe getrieben, und Kartelle und Trusts einerseits, Börsenmanöver andererseits haben die Verteuerung weiter gesteigert. In den Kolonien suchen die Kapitalisten neue Bezugsquellen zu erschließen. Es gilt, Stätten zu finden, wo die Erzschätze zum Monopol großer kapitalistischer Gesellschaften gemacht oder wo Handelspflanzen, vor allem Baumwolle, von den versklavten Eingeborenen für den Weltmarkt produziert werden könnten. Nicht Siedlungs-, sondern Ausbeutungskolonien heißt die Losung. Zugleich bietet die Erschließung der Kolonien dem Großkapital den gewünschten Absatz für seine Produkte. Eisenbahnen werden gebaut, deren Erträgnis die Steuerzahler den Unternehmern garantieren müssen, Häfen angelegt, neue Schifffahrtslinien eingerichtet und vom Staate reich subventioniert, Bergwerke werden gegründet, das Land den Eingeborenen abgenommen, um Plantagen anzulegen, eine wilde Land- und Börsenspekulation schließt sich an. Resultat: eine kleine Zahl von Kapitalmagnaten verfügt über neue Reichtümer. Um aber die Kolonien möglichst auszubeuten, muss das Kapital völlig frei schalten können. Es braucht vor allem möglichst freie Verfügung über das Land und über die Arbeitskraft der Eingeborenen. Deswegen werden die Eingeborenen ihrer Rechte beraubt; das Land wird ihnen abgenommen, sie werden rasch und plötzlich proletarisiert und gezwungen, als Besitzlose sich widerstandslos den härtesten Ausbeutungsbedingungen des Kapitals zu unterwerfen. Und wenn sie sich nicht gutwillig fügen, wenn sie, zur Verzweiflung getrieben, sich zur Wehr setzen wollen, dann greift die Staatsmacht ein, und die europäischen Arbeiter müssen als Soldaten den „Aufstand“ niederwerfen und als Steuerzahler die Kosten für die glorreichen Kolonialkriege bezahlen. Diese gewaltsamen Methoden gehören zum Wesen der Kolonialpolitik, die ohne diese ihren kapitalistischen Sinn verlieren würde. Die Einbildung, Kolonialpolitik treiben, aber ihre gewaltsamen Methoden beseitigen zu können, ist nicht ernst zu nehmen. Das ist ebenso wenig möglich, wie das Proletariat abzuschaffen, jedoch den Kapitalismus erhalten zu wollen. Ihre Kolonien sucht die Kapitalistenklasse jedes Landes sich selbst vorzubehalten und fremde Kapitalisten auszuschließen. Der Freihandelsgrundsatz der offenen Tür wird immer mehr aufgegeben und auch die Kolonien in das durch Schutzzollmauern abgeschlossene Gebiet einbezogen. So weckt jeder Kolonialerwerb der einen Macht den Neid und Widerstand der anderen. Damit wird die Kolonialpolitik, das notwendige Ergebnis der schutzzöllnerischen Wirtschaftspolitik, zu einer ständig wirksamen Ursache kriegerischer Verwicklungen zwischen den großen kapitalistischen Staaten. 5. Imperialistische Gewaltpolitik Wir haben gesehen, wie der Kapitalexport das ökonomische Mittel der Welteroberung geworden ist. Sehen wir jetzt zu, wie die Politik in den Dienst des Kapitals gestellt wird. Während die bürgerlichen Parteien der entwickelten kapitalistischen Nationen sich gegen den Ansturm der Arbeiterklasse immer mehr zusammenschließen, während sie immer lauter ihren Abscheu vor der Revolution bekunden und am liebsten aus ihren Geschichtsbüchern jede Erinnerung an die große revolutionäre Epoche des Bürgertums tilgen möchten, ist der Kapitalismus selbst wieder einmal zum großen Revolutionär geworden, und die Gewalt wird zur Geburtshelferin neuer Entwicklungen. In doppelter Gestalt wirkt die Gewalt: als Revolution und als Krieg. Der Kapitalismus dringt immer tiefer ein in die alten Agrarstaaten des Orients, er zersetzt alle alten sozialen Verhältnisse, schafft eine moderne bürgerliche Klasse, und diese wird die Trägerin revolutionärer Umgestaltungen, sei es, dass diese sich wie in Japan, der Türkei, Persien und China gegen die alte Staatsmacht richtet, sei es, dass sie wie in Indien oder Ägypten als nationale Bewegung gegen die Fremdherrschaft auftritt. Zugleich bilden die Wirren, die die Revolution unvermeidlich nach sich ziehen, für die großen kapitalistischen Staaten die Gelegenheit, um die vorübergehende Schwäche zur Beraubung oder völligen Einverleibung solcher Staaten auszunutzen. Bei den tiefen Gegensätzen innerhalb der kapitalistischen Welt bilden diese revolutionierten Staaten so neue Krisenherde, verschärfen die Kriegsgefahr oder führen selbst zu großen Kriegen. Und in der Tat ist die Periode ökonomischer Umwälzung zugleich im größten Maße eine Kriegsperiode. Das Jahr 1894 kündet der Welt in dem chinesisch-japanischen Krieg das Erwachen Asiens an, zeigt, dass der Kapitalismus dort im fernsten Osten bei der verachteten gelben Rasse einen neuen Staat hat entstehen lassen, einen Nationalstaat nach europäischem Muster, mit der Technik der europäischen Industrie, mit der Mordtechnik der europäischen Waffen und mit allen Übertreibungen des europäischen Nationalismus und Chauvinismus. 1898 führen die Vereinigten Staaten, das Land des jüngsten und konzentriertesten Kapitals, ihren ersten großen Kolonialkrieg und rauben Spanien den wertvollsten Teil seines Kolonialbesitzes. Der Besitz der Philippinen macht sie zu Interessenten bei allen Entscheidungen im fernen Osten Asiens. In diplomatischen Verhandlungen zwingen sie England den Verzicht auf den Bau des Panamakanals ab, bemächtigen sich des von ihm durchzogenen Gebietes und gehen mit fieberhaftem Eifer an die Fertigstellung, um durch die Verbindung des Atlantischen mit dem Stillen Ozean ihre Kriegsflotte, die rasch vergrößert wird, instand zu setzen, bei allen großen Entscheidungen im Atlantischen und Stillen Ozean mitbestimmend aufzutreten. Zugleich macht das amerikanische Trustkapital sich an die wirtschaftliche Eroberung Mittel- und Südamerikas und wirft jeden Widerstand gegen sein Eindringen nieder, indem es in den widerstrebenden Staaten „Revolutionen“ finanziert, die es dann nach seinen Bedürfnissen ausnutzt. Dem Beispiel der jüngsten kapitalistischen Macht folgt die alte Großmacht des Kapitalismus, England: es begann 1899 den Burenkrieg um der Gold- und Diamantenfelder willen und gestaltete Südafrika zu einem englischen Kolonialreich. Ganz Europa wird vom kolonialen Eroberungsfieber geschüttelt. Japan hat nicht nur die eigene Stärke, sondern auch Chinas Schwäche enthüllt; der Traum von der Aufteilung Chinas entsteht: Deutschland, England, Russland, Frankreich, Japan besetzen Stücke des chinesischen Reiches und denken an die Einteilung Chinas in jene Interessensphären, die die künftige Aufteilung vorbereiten. Dieses Vorgehen weckt in China nationalen Widerstand. Die Boxerunruhen zeigen den Eindringlingen die Gefahr. Der berüchtigte Hunnenzug wird unternommen. Die Truppen der europäischen Großmächte, Japans und der Vereinigten Staaten rücken in Peking ein, an ihrer Spitze der „Weltmarschall“ Graf Waldersee; ihr Wüten macht den gedemütigten Chinesen die Gefahren klar, die sie bedrohen; die Reformbewegung, das Streben, China nach dem Beispiel Japans in einen modernen Militärstaat umzuwandeln, nimmt rasch zu und schlägt schließlich in die Revolution um. Der europäische Kapitalismus hat eine neue revolutionäre Großtat verrichtet; der älteste und konservativste Staat der Welt, der seit Jahrtausenden kaum eine Entwicklung gekannt hat, tritt in die Weltgeschichte ein und wird zu einem neuen Faktor des historischen Geschehens auch für die europäische Menschheit. Der andere Staat Ostasiens, Japan, aber hat unterdessen in die europäische Geschichte bereits entscheidend eingegriffen. In dem gewaltigsten Kriege der neueren Zeit setzt es dem Vordringen Russlands in Ostasien Halt. Es wirft die angestaunte russische Militärmacht nieder, vernichtet die russische Flotte. Und für Russland erfüllt sich jetzt das Gesetz, das da heißt: Auf den Krieg folgt die soziale Revolution! Was die Japaner an staatlichen Machtmitteln noch haben stehen lassen, das geht jetzt in dem langen und grausamen Bürgerkrieg verloren. Nochmals siegt der russische Despotismus, aber er siegt um den Preis der Ohnmacht des Landes, und sein Fundament ist vermorscht. War Japans Sieg das Zeugnis von der erwachten Kraft Asiens, so rüttelte er fortwirkend in den übrigen, dem europäischen Vordringen preisgegebenen Nationen neue Kräfte auf. Aus Ostasien zurückgeworfen, suchte Russland sich dort zu entschädigen, wo es den geringsten Widerstand erwarten durfte. Im Bunde mit England begann es gegen die Türkei vorzugehen. Die Antwort war die türkische Revolution. Der asiatische Despotismus Abdul Hamids hatte sich ohnmächtig erwiesen, dem europäischen Andringen Widerstand zu leisten. Die Offiziere der Armee, die das alte Reich nach außen stark machen wollten, setzten sich selbst an die Spitze der Revolution. Die Konstitution wurde erzwungen, der Sultan entthront und gefangen gesetzt. Und dem tückischen Beispiel folgten die Perser nach. 6. England und Deutschland Wir sehen, die kriegerischen Ereignisse und die revolutionären Verwicklungen rücken von der Peripherie des Weltgeschehens immer näher dem europäischen Zentrum, und wir wissen, seit Jahren stehen die großen europäischen Staaten unter dem zunehmenden Druck der Kriegsgefahr. Ihre unmittelbare und am stärksten wirkende Ursache ist der Gegensalz zwischen Deutschland und England. England, lange Zeit der unumschränkte Beherrscher des Weltmarkts, ist zugleich die größte Kolonialmacht. Deutschland hat seit Herstellung des Reiches mit Riesenschritten den englischen ökonomischen Vorsprung nachgeholt; seine Industrie steht heute — nicht zuletzt infolge der Höhe seiner Wissenschaft und der Intelligenz seiner von der Sozialdemokratie geschulten, zu höherem geistigem Leben erweckten Arbeiterschaft — keiner anderen nach. Aber als eines der jüngsten kapitalistischen Länder, das in der Zeit, als die Entscheidungen über die Welt fielen, politisch ohnmächtig war, hat Deutschland keinen nennenswerten Kolonialbesitz. Und nicht nur von England und Frankreich, auch von kleineren Staaten wie Belgien, Holland, Portugal und Spanien wird Deutschland an Kolonialbesitz bei weitem übertroffen. Wir wissen aber bereits, dass das Kapital zu keiner Zeit mehr nach Ausweitung der Märkte, gewaltsamer Öffnung fremder Gebiete und deren Aneignung und Einverleibung drängte als gerade heute. Dies Streben beherrscht die deutsche auswärtige Politik seit dem Sturze Bismarcks. Die Erfolge sind vorerst gering. Unterdessen aber wird mit fieberhaftem Eifer an der Herstellung jenes Machtmittels gearbeitet, ohne das imperialistische Politik nicht getrieben werden kann: In einer verhältnismäßig kurzen Spanne Zeit wird Deutschland die zweite Seemacht der Welt und schickt sich an, die englische Vormachtstellung in Frage zu stellen. Der deutsch-englische Gegensatz als das die auswärtige Politik beherrschende Moment tritt aber um so mehr in den Vordergrund, als Russland, durch den japanischen Krieg und die Revolution aufs äußerste geschwächt, als kriegerisch vollwertige Großmacht auf lange Zeit ausscheidet. Damit verschwindet der alte Gegensatz zwischen England und Russland, der so lange die auswärtige Politik beherrscht hatte. Solange Russland stark war, mussten sowohl Deutschland als England darauf gefasst sein, dass Russland bei jedem Konflikt zwischen ihnen die schließliche Entscheidung geben werde. Je nachdem es sich auf die eine oder andere Seite geschlagen hätte, hätte es den Kampf entscheiden und die Friedensbedingungen diktieren können. Dies wird nunmehr unmöglich. Russland kann auswärtige Politik nur durch die Ausnutzung des deutsch-englischen Gegensatzes machen und ist dabei schon durch geographische Verhältnisse gezwungen, sich vornehmlich an England anzulehnen, dessen Flotte in jenen Gebieten, wo sich der russische Expansionsdrang betätigt, als stärkstes Machtmittel entscheidend ins Gewicht fällt. Neben Russland treten auch die anderen alten Kolonialmächte auf Englands Seite, vor allem Frankreich. Dem alten Dreibund Deutschland—Österreich—Italien tritt die Tripelentente England—Russland—Frankreich entgegen. Russland und England benutzen die persische Revolution, um Persien die Unabhängigkeit zu rauben und sich in die Herrschaft des Landes zu teilen. Österreich verkündet die Annexion der ehemals türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina. Die Tripelentente protestiert, die Kriegsgefahr wird akut, doch die militärische Schwäche Russlands gegenüber der österreichisch-deutschen Übermacht verhindert den Zusammenstoß. Die Krise geht vorüber, um von einer neuen abgelöst zu werden, dem Marokkokonflikt. Der Streit führt dicht an den Rand eines Weltkrieges, wird durch ein Kompromiss abgeschlossen, steigert aber den Gegensatz zwischen England—Frankreich und Deutschland noch weiter und wird zur Veranlassung einer neuen Beschleunigung im Wettrüsten zu Wasser und zu Lande. Seine unmittelbare Folge ist der italienische Raubzug nach Tripolis. Der italienisch-türkische Krieg rollt die Orientfrage mit all ihren Gefahren auf, denn in der Türkei stoßen alle Rivalitäten der Großmächte aufeinander. Ist doch Konstantinopel einer der wichtigsten strategischen Punkte. Konstantinopel begehren Engländer und Russen. Saloniki die Österreicher, die albanische Küste die Italiener; in der asiatischen Türkei stoßen deutsche, englische, französische und russische Interessen feindlich aufeinander, und um den Rest der europäischen Türkei würden die Balkanstaaten raufen, bis sie selbst vielleicht zur Beute siegreicher Großmächte würden. Im fernen Osten aber bedeutet das revolutionäre China einen anderen Krisenherd. Die europäischen und amerikanischen Banken suchen die finanzielle Not des Riesenreiches zu benutzen, um es in Schuldknechtschaft zu stürzen, die später zu politischen Eingriffen führen kann. Japan und Russland aber verständigen sich über die Erweiterung ihrer Einflusssphären in China, um die riesigen Gebiete der Mandschurei und Mongolei ihrer Herrschaft einzuverleiben. So sind Krieg und Revolution der Welt wieder alltägliche Erscheinungen geworden, und der Inhalt aller bürgerlichen Politik scheint die Vorbereitung zum Kriege, zum Weltkrieg um die Weltherrschaft, zu bilden 7. Der Imperialismus und die innere Politik Immer mehr wird die auswärtige Politik bestimmend für die Entwicklung unserer inneren Verhältnisse. Wir haben gesehen, wie innig die imperialistische Politik mit dem Schutzzollsystem verknüpft ist. (Nur England macht da aus bestimmten historischen Gründen eine vorläufige Ausnahme.) Das Schutzzollsystem bedeutet aber eine Verteuerung der Lebenshaltung der arbeitenden Massen, und dies zur selben Zeit, wo ohnedies die wichtigsten Lebensmittel ständig steigende Preise zeigen. Die rasche Entwicklung des Kapitalismus hat, wie wir gesehen haben, vor allem die hochkapitalistischen Industrien, die die Produktionsmittel liefern, begünstigt. Damit hat die Entwicklung der Landwirtschaft nicht Schritt gehalten. So sehen wir in allen Ländern eine immer stärker werdende Teuerung der Lebensmittel und der industriellen Rohstoffe. Längst hat die überseeische Konkurrenz, die in der vorhergehenden Epoche die Getreidepreise zum Sinken brachte, aufgehört. Geblieben aber und noch gesteigert sind die Lebensmittelzölle, die unerträglich auf die Lebenshaltung drücken. Zugleich haben die Industriezölle die Bildung von Kartellen und deren Ausnutzung zur Preistreiberei außerordentlich gefördert und so zum agrarischen noch den industriellen Preiswucher gefügt. Die schutzzöllnerische Interessensolidarität zwischen Großagrariern und Großindustriellen hat diese Schichten auch politisch geeinigt und sie zur gemeinsamen Abwehr gegen den proletarischen Kampf um Erhöhung der Lebenshaltung verbunden. Zu den Lasten der Schutzzölle treten die ungeheuren Lasten der Kriegsvorbereitung und der Kosten der Kolonialerwerbungen. Da Kolonialpolitik Gewaltpolitik ist, suchen alle kapitalistischen Staaten ihre Machtmittel möglichst zu stärken. Ein unerhörtes, stets sich beschleunigendes Wettrüsten ist die Folge. Zum Militarismus und Marinismus tritt der Luftmilitarismus mit seinen rasch wachsenden Forderungen. An der Spitze stehen England und Deutschland; jede Vermehrung des einen beantwortet das andere Land mit einer noch stärkeren. Es ist eine Schraube ohne Ende. Das Wettrüsten verschlingt Milliarden um Milliarden. Im Jahre 1911 gab Deutschland allein für Rüstungszwecke, wenn man die Zinsen für die dafür dienenden Staatsschulden hinzurechnet, über 1.700 Millionen Mark aus, eine ungeheuerliche Summe. Unseren Regierenden aber zu wenig! Im Jahre 1912 nehmen die bürgerlichen Parteien unter Hurra und unter Verzicht auf jede Kritik die neuen Wehrvorlagen an, die dem Militarismus und Marinismus bis 1917 neue 650 Millionen Mark in den Rachen werfen. Und sofort antwortet England mit einer vorläufigen Verstärkung seiner Schlachtschiffbauten von 16 auf 21 neue Dreadnoughts für die nächsten fünf Jahre. Für das Jahrzehnt 1899-1910 berechnet der bürgerliche Schriftsteller Fried die Militär- und Marineausgaben Deutschlands auf 11.867 Millionen Mark, fast 12 Milliarden! Die jährlichen Rüstungsausgaben der europäischen Staaten, wie sie die offiziellen Militärbudgets liefern, also ohne die unsichtbaren und indirekten Ausgaben, betrugen im Jahre 1910 annähernd 9-10 Milliarden Mark; vor 20 Jahren noch betrugen sie bloß die Hälfte. 40 Prozent ihrer Einnahmen geben diese Staaten für den Militarismus aus, nur 5,6 Prozent für den öffentlichen Unterricht und nur 2,1 Prozent für die Rechtspflege! Für Kulturaufgaben bleibt kein Geld, die Sozialpolitik steht still, im Reichstag erklärt die Regierung die Herabsetzung der Altersgrenze der Versicherten von 70 auf 65 Jahre, eine auch nur halbwegs zureichende Versorgung für die Witwen und Waisen der auf dem Schlachtfelde der Industrie gefallenen Arbeiter, die Unterstützung der hungernden Veteranen selbst für unmöglich aus finanziellen Gründen, und die bürgerlichen Parteien geben sich zufrieden, Alles frisst Moloch Militarismus! Da es aber die Kapitalisten sind, die den Staat beherrschen und zur Erhöhung ihrer Profite Kolonialpolitik treiben und deshalb die staatlichen Machtmittel fortwährend vermehren, so hätte es für sie ja gar keinen Sinn, wenn sie selbst aus eigener Tasche das Geld dafür bezahlten. Deshalb müssen die vom Kapital Ausgebeuteten auch noch das Geld für die Rüstungen, für die auswärtigen Abenteuer aufbringen. Nicht aus Besitzsteuern, nicht von den Reichen, sondern aus indirekten Steuern und Zöllen, aus Abgaben auf die notwendigsten Bedarfsartikel der breiten Massen, aus den Taschen der Armen werden die Milliarden zum Wettrüsten genommen. Das hat ja die letzte Finanzreform, die den arbeitenden Massen eine neue ungeheuerliche Last von beinahe einer halben Milliarde auferlegte, aufs Neue bewiesen. So steht alles in einem unzerreißbaren Zusammenhang: Schutzzollsystem, Teuerung, Kolonialpolitik, Wettrüsten, Stillstand der Sozialpolitik, der stets sich steigernde Druck der indirekten Steuern und die wachsende Kriegsgefahr! 8. Steigender Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit Es sind seine Lebensinteressen, die das Proletariat zwingen, mit all seiner Macht den Kampf gegen diese Politik aufzunehmen, denn die Wirtschaftspolitik des Proletariats steht in Grundwiderspruch zu der der Kapitalisten. Der Kampf der Lohnarbeiter gegen das Kapital ist zunächst und innerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsordnung ein Kampf um den Anteil an dem von der Arbeit geschaffenen Neuwert des jährlichen Produktes. Die imperialistische Politik hat aber die Tendenz, diesen Anteil zu verkürzen, seine Erhöhung zu verhindern. Sie stärkt die Macht der schweren Industrie, in der die Kartelle und Trusts vorherrschen. Dies bedeutet zugleich die Erstarkung der Unternehmerorganisationen gegen die Gewerkschaften. Der gewerkschaftliche Kampf um die Erhöhung der Lebenshaltung wird erschwert, und dies zur selben Zeit, wo die Teuerung die Kaufkraft des Geldes senkt, die Erhöhung der Löhne schon zum Ausgleich der verteuerten Lebenshaltung zur Notwendigkeit wird. Die in den Kartellen und Trusts konzentrierte ökonomische Macht des Unternehmertums beherrscht zugleich politisch immer offenkundiger die Staatsmacht, unterwirft die Regierung völlig ihrem Willen, verhindert den sozialpolitischen Fortschritt und stellt die gesamte Verwaltung und Politik des Staates in den Dienst des Kampfes gegen die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Arbeiterklasse. In der Handelspolitik verlangt das Interesse der Arbeiter vor allem die Ausdehnung des inneren Marktes. Je größer der Arbeitslohn, desto größer die Nachfrage der Arbeiter nach Waren. Diese Nachfrage bewirkt rasche Ausdehnung der Industrien der Fertigfabrikate, die relativ viel Arbeiter beschäftigen. Dadurch wird die Stellung der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkte günstiger, die Macht der Gewerkschaften steigt, die Siegesaussichten in den Lohnkämpfen verbessern sich. Für die Unternehmer aber bedeutet das eine Senkung ihres Profits, eine Verlangsamung ihrer Reichtumsanhäufung. Deshalb suchen auch sie den Markt zu erweitern, aber nicht den inneren durch Lohnerhöhung, sondern den äußeren. Sie brauchen dann nicht einen Teil des Profits als Lohnerhöhung an die Arbeiterklasse abzutreten, sondern sie exportieren ihn als Kapital ins Ausland. Daher hat die Handelspolitik der Unternehmer immer den äußeren, die der Arbeiter den inneren Markt im Auge und löst sich so insbesondere in Lohnpolitik auf. Die Kapitalisten dagegen halten an der Schutzzollpolitik fest. Bedeutet diese für die Arbeiter eine weitere Verschärfung der Teuerung, so für die Unternehmer leichtere, schnellere und festere Kartellierung und damit die Ausbeutung der inländischen Konsumentenmasse durch ihre Monopolpreise. Je höher der Schutzzoll und je größer das durch ihn geschützte Gebiet, desto größer die Monopolprofite, desto heftiger aber auch der Gegensatz, in den die Kapitalistenklassen der verschiedenen Staaten zueinander geraten, desto heißer ihr Streben, durch gewaltsame Expansion ihr Schutzzollgebiet zu erweitern und anderen Kapitalisten die Konkurrenz auf dem Weltmarkt zu erschweren. So wird das Schutzzollsystem zur Grundlage der imperialistischen Politik, und der Kampf um die Handelspolitik gewinnt damit neue, folgenschwere Bedeutung. Nicht mehr kämpft die Arbeiterschaft, indem sie für den Freihandel eintritt, gegen die Verteuerung ihrer Lebenshaltung und gegen die Auswucherung der Konsumenten durch die Monopolprofite der Agrarier und Kartellmagnaten allein; der Kampf gegen den Schutzzoll ist zugleich ein Kampf für die Erhaltung des Friedens. Mit der Entscheidung über die künftige Richtung der Handelspolitik wird auch die Frage Krieg oder Frieden zum guten Teil mit entschieden. Wie in der Handelspolitik, so trifft auch auf allen anderen Gebieten der Gegensatz zwischen den proletarischen und kapitalistischen Interessen immer schärfer hervor. In der Steuerpolitik setzt das Proletariat der Auswucherung durch das indirekte Steuersystem stets sich steigernden Widerstand entgegen, mit dem die Besitzenden immer mehr rechnen müssen. Gegen das Wettrüsten entfaltet es eine unermüdliche Agitation, es entlarvt die nationalen Phrasen als täuschende Redensarten, hinter denen sich großkapitalistische Profitinteressen verbergen, es bekämpft immer schärfer den Absolutismus in der auswärtigen Politik, es kämpft auch hier für die Durchsetzung der Demokratie und fordert, dass das Volk selbst die Entscheidung über Krieg und Frieden zu fällen habe. 9. Der Kampf gegen die Kriegsgefahr Alle bürgerlichen Parteien stehen heute im Lager des Imperialismus. Nicht nur Konservative und Nationalliberale, die die Interessen des verbündeten Großgrundbesitzes und Großkapitals, der hohen Bürokratie und Militärs vertreten, auch Zentrum und Freisinn haben jede oppositionelle Bewegung gegen die Kolonialpolitik, gegen Militarismus und Marinismus aufgegeben. Sie verraten die Interessen ihrer kleinbäuerlichen und kleinbürgerlichen Wähler, für die der Imperialismus nur vermehrte Lasten bedeutet, und erfüllen bedingungslos die Wünsche des Großkapitals. So stark ist die Herrschaft des konzentrierten Kapitals über alle Schichten des Bürgertums und ihre politischen Vertreter geworden! So steht denn das Proletariat im Kampf für die Erhaltung des Friedens im Wesentlichen allein. Aber seine ökonomische und politische Bedeutung nicht nur, sondern auch seine militärische ist ständig im Wachsen. Denn immer mehr überwiegt in den modernen Volksheeren das proletarische Element. Die Stimmung des Heeres aber, die Begeisterung, mit dem es in den Krieg zieht, ist in doppelter Beziehung von Bedeutung. Einmal bildet diese Stimmung ein wesentliches Element für den Sieg. In einem modernen Kriege kommt es für die Entscheidung immer mehr auf den einzelnen Mann an, auf seine Ausdauer, seine Tapferkeit, seine Opferbereitschaft. Diese wird dann um so größer sein, je mehr er das Bewusstsein von der Notwendigkeit und Gerechtigkeit des Kampfes hat. Deshalb gewinnt das Urteil der Massen selbst große Bedeutung. Gegen den Willen der Massen wird ein moderner Krieg immer schwieriger. Deshalb müssen die Massen das Wesen des Imperialismus zu erfassen trachten. Lernen sie hinter den imperialistischen Phrasen, hinter den „nationalen“ Schlagworten das Wesen dieser Politik erkennen, durchschauen sie das kapitalistische Profitinteresse und werden sie sich der Opfer bewusst, die diese Politik im Frieden und noch im ungeheuersten Maße mehr im Kriege der Arbeiterklasse auferlegt, dann sind sie gefeit gegen alle imperialistischen Verführungskünste, dann bleiben sie nüchtern, wenn die anderen vom nationalistischen Rausch benebelt werden, dann gelingt es den Herrschenden nicht, jene Kriegsstimmung im Volke zu erzeugen, ohne die sie es nicht wagen können, einen Krieg zu entfachen. Und um so weniger können sie es wagen, weil sie nicht wissen können, wie die Volksmassen, die den Frieden wollen, sich verhalten werden, wenn sie es doch zur Katastrophe treiben. Hören wir, was Bebel den Herrschenden in der Marokkodebatte darüber gesagt hat. Nachdem er gezeigt hatte, wie das Wettrüsten die Gefahr heraufführt, dass eines Tages der eine oder der andere Teil meint, lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, ruft er der bürgerlichen Welt zu: „Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16-18 Millionen Männer, die Blüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken. Aber nach meiner Überzeugung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch … Er kommt nicht durch uns, er kommt durch Sie selber. Sie treiben die Dinge auf die Spitze, Sie führen es zu einer Katastrophe. Sie werden erleben, was wir heute nur im allerkleinsten Maßstabe erlebt haben … Sie werden es zu kosten bekommen, Sie werden ernten, was Sie gesät haben. Die Götterdämmerung der bürgerlichen Welt ist im Anzuge. Seien Sie sicher: sie ist im Anzug! Sie stehen heute auf dem Punkte, Ihre eigene Staats- und Gesellschaftsordnung zu untergraben, Ihrer eigenen Staats- und Gesellschaftsordnung das Tortenglöcklein zu läuten. Was wird die Folge sein? Hinter diesem Kriege steht der Massenbankrott, steht das Massenelend, steht die Massenarbeitslosigkeit, die große Hungersnot. (Widerspruch rechts.) Das wollen Sie bestreiten? … Jeder, der die Dinge objektiv übersieht, kann sich der Richtigkeit dessen nicht entziehen, was ich hier ausführe, Was hat denn schon das bisschen Marokkofrage in diesem Sommer erzeugt? Den bekannten Run auf die Sparkassen, den Sturz aller Papiere, die Aufregung in den Banken! Das war erst ein kleiner Anfang, es war gegen die Wirklichkeit nichts! Wie wird das erst werden, wenn der Ernstfall eintritt? Dann werden Zustände hervorgerufen werden, die Sie allerdings nicht haben wollen, die aber mit Notwendigkeit kommen — ich wiederhole: nicht durch unsere Schuld, durch Ihre Schuld. Lernt. Ihr seid gewarnt!“1 Es ist die Furcht vor der sozialen Revolution, die Furcht vor dem sozialistischen Proletariat, die heute die sicherste Friedensgarantie ist. Ohne diese Angst vor ihren Erben hätte die bürgerliche Welt schon längst die Kriegsfurie entfesselt. So wird es die wichtigste Aufgabe des Proletariats, unablässig die auswärtige Politik der Bourgeoisie zu überwachen und, sobald die Kriegsgefahr akut zu werden droht, seinen Friedenswillen zu bekunden, sein Bewusstsein der internationalen Solidarität durch mächtige Kundgebungen zu demonstrieren, der nationalen Zerrissenheit der Bourgeoisie seine internationale Geschlossenheit entgegenzusetzen. Gleichzeitig muss auch seine Vertretung in den Parlamenten alles daransetzen, um den Absolutismus in der auswärtigen Politik einzuschränken, der nationalistischen Verhetzung unerschrocken und entschieden entgegenzutreten, immer unterstützt durch die Aktion der Massen selbst außerhalb des Parlaments. Ununterbrochen und ständig aber geht dabei der Kampf des Proletariats gegen die ganze imperialistische Politik fort. Wir haben gesehen, wie das Wettrüsten zur unmittelbaren Kriegsursache werden kann. Das Proletariat hat von jeher gegen die Rüstungspolitik gekämpft. Es hat von jeher jede Vermehrung von Heer und Flotte verweigert, die Umwandlung des stehenden Heeres in ein Volksheer gefordert, um das Heer aus einem etwaigen Angriffsmittel zu einem reinen Verteidigungsmittel, aus einem Mittel der Klassenherrschaft zu einem Hebel der Befreiung zu machen. Die Flotte aber ist längst ihrem Zwecke der Küstenverteidigung entwachsen und zu einem Machtmittel kapitalistischer Kolonialeroberung geworden. Ihre ständige Vermehrung steigert immer mehr insbesondere den Gegensatz zwischen England und Deutschland und ist eine unmittelbare Gefahr. Deshalb verlangen wir als ein momentanes Vorbeugungsmittel ein internationales Übereinkommen zur Einschränkung der Flottenrüstungen und zur Abschaffung des barbarischen Seebeuterechts, das die Kriegsschrecken noch durch die der Hungersnot steigern soll. Der Forderung der Herrschenden nach ständiger Mehrung setzen wir die unablässige Agitation nach Einschränkung der Rüstungslasten, nach Verwendung der Steuergelder für Sozial- und Kulturpolitik entgegen. Indem wir für diese Forderung kämpfen, zeigen wir den Herrschenden den Ausweg aus ihrer Kriegspolitik. Folgen sie uns nicht, dann sind sie auch für die Konsequenzen verantwortlich. So treten wir überall in der Bekämpfung der imperialistischen Politik zu den herrschenden Klassen in schärfsten Widerstreit. Ihrem Chauvinismus setzen wir die Bekundung der internationalen Solidarität entgegen, ihrer Absperrungs- und Ausschließungspolitik die Forderung der Freiheit des Weltverkehrs, ihrer kolonialen Eroberungs- und Vergewaltigungspolitik und ihrer Flucht vor dem Sozialismus in immer neue Ausbeutungsgebiete den Kampf um Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung überhaupt. 10. Der Kampf um die Macht So steigert sich im Zeitalter des Imperialismus der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie immer mehr. Die Klassengegensätze verschärfen sich, der gewerkschaftliche und der politische Kampf wachsen an Intensität und Umfang, und um immer wichtigere und bedeutungsvollere Entscheidungen wird gerungen. Zugleich hat die kapitalistische Entwicklung ihren höchsten Reifegrad erreicht. Alle Machtmittel, über die die Gesellschaft verfügt, werden vom Kapital zusammengefasst. Es organisiert die Produktion in Kartellen und Trusts, vereinigt seine Macht in den Unternehmerverbänden, beherrscht mit seinen Organisationen die politischen Parteien wie die Regierungen und stellt die Staatsmacht in den unbedingten Dienst seiner Ausbeutungsinteressen im Innern und seines Ausdehnungsbedürfnisses nach außen, So fasst das Kapital alle wirtschaftlichen Potenzen der heutigen Gesellschaft bewusst zusammen, aber nicht im Interesse der Gesellschaft, sondern um den Grad der Ausbeutung der Gesellschaft auf eine bisher unerhörte Weise zu steigern. Aber das Klare, Augenscheinliche dieses Zustandes ist es gerade, was seine Dauer unmöglich macht. Er erweckt gegenüber der Aktion der Kapitalistenklasse, der die Konzentration der Produktionsmittel die immer mehr zunehmende Vereinheitlichung ihres Willens und ihres Handelns gebracht hat, die Aktion des Proletariats, das sich seiner Macht nur bewusst zu werden braucht, um sie unwiderstehlich zu machen. Je einheitlicher aber das Vorgehen der herrschenden Klassen geworden ist, je mehr alle ihre einzelnen Maßnahmen zu dem einen Zweck zusammengefasst werden, sich dem Sozialismus durch die Flucht in neue Ausbeutungsgebiete zu entziehen, desto inniger sind auch alle politischen Einzelfragen miteinander verflochten, desto mehr muss auch die Arbeiterklasse diesen Zusammenhang erkennen, in den alle Einzelfragen zusammenfließen, und einsehen, dass es aufs Ganze geht, dass nur die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat diese Phase des Kapitalismus beenden kann. So wächst sich der Kampf gegen den Imperialismus immer mehr zum Entscheidungskampf zwischen Kapital und Arbeit aus. Kriegsgefahr, Teuerung und Kapitalismus — Friede, Wohlstand für alle, Sozialismus! so ist die Frage gestellt. Großen Entscheidungen geht die Geschichte entgegen. Unablässig muss das Proletariat an seiner welthistorischen Aufgabe arbeiten, die Macht seiner Organisation, die Klarheit seiner Erkenntnis stärken. Möge dann kommen, was da will, mag es seiner Kraft gelingen, die fürchterlichen Gräuel eines Weltkrieges der Menschheit zu ersparen, oder mag die kapitalistische Welt nicht anders in die Geschichte versinken wie sie aus ihr geboren ward, in Blut und in Gewalt: die historische Stunde wird die Arbeiterklasse bereit finden, und bereit sein ist alles.
1 August Bebel: Rede in der 201. Sitzung des Deutschen Reichstages, 12. Legislaturperiode. II. Session, gehalten am 9. November 1911. In: Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, Band 268, Berlin 1911, S. 7723-7730, hier S. 7730, nachgedruckt in: August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Band 8/2, München 1997, S. 558-577, hier S. 576 |