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Theorie der „kulturell-nationalen Autonomie“

Die österreichischen Sozialdemokraten [...] Otto Bauer und Rudolf Springer (Pseudonym von Karl Renner) waren die Väter des opportunistischen kleinbürgerlichen Programms der „kulturell-nationalen Autonomie“, das von ihnen zunächst die Bundisten und dann auch die menschewistischen Liquidatoren übernahmen. Bauer hielt dafür, dass man die nationale Frage in der Weise lösen müsse, dass man die größte Freiheit für die Entwicklung der „nationalen Kultur und des Nationalcharakters“ sowie der Nationalsprache sichert. „Wir brauchen dann nur die Zugehörigen einer Nation in der Gemeinde, im Bezirk oder Kreis, im Kronland, schließlich im ganzen Reiche zu einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zu machen, die die Aufgabe hat, für die Kulturbedürfnisse der Nation zu sorgen, für sie Schulen, Büchereien, Theater, Museen, Volksbildungsanstalten zu errichten, den Nationsgenossen bei den Behörden Rechtshilfe zu gewähren, soweit sie dieser bedürfen“. (Otto Bauer: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“, Seite 356. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung. Ignaz Brand 1907.)

Dieses Programm der kulturell-nationalen Autonomie wurde von O. Bauer und R. Springer mit der „psychologischen“ Theorie von der Nation begründet, von der Lenin spricht und die er der „historisch-ökonomischen“ Theorie Kautskys von 1908-1909 gegenüberstellt. [...] Dieser Begriffsbestimmung liegen materielle Verhältnisse zugrunde: das gemeinsame Territorium, das gemeinsame Wirtschaftsleben, die gemeinsame Sprache, die auf der Grundlage des gemeinsamen Wirtschaftslebens entsteht und ohne die dieses gemeinsame Wirtschaftsleben nicht möglich ist. Und schließlich geht aus dem allen die besondere psychische Veranlagung und die Gemeinsamkeit der Kultur hervor. Otto Bauer jedoch und Springer bestimmen den Begriff der Nation idealistisch. Nach Bauer ist die Nation „die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen“ (Otto Bauer: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“, Wien 1907, Seite 135). Hier fehlt das Wichtigste, Grundlegende, es fehlt jeder Hinweis auf die Gemeinsamkeit des Wirtschaftslebens und des Territoriums. Die Menschen werden bei Bauer nicht durch die materiellen Bedingungen ihres Lebens, sondern durch Psychologie, durch ihren „Charakter“ zu einer Nation verbunden. Springer geht in dieser Hinsicht noch weiter. Nach ihm ist die Nation „… eine Kulturgemeinschaft moderner Menschen, die nicht mehr an die Scholle gebunden sind“ … „Die Nation ihrerseits ist Gemeinschaft des Gedanken- und Gefühlslebens, also ein rein Innerliches“ (Rudolf Springer: „Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat“, Teil I, Seite 35 und 56, Verlag Franz Deuticke, Wien 1902). Das Wesen des Programms der kulturell-nationalen Autonomie, das aus der „psychologischen“ Theorie Bauers und Springers erfließt, läuft auf die Trennung der Schule und aller kulturellen Arbeit in einem Staate mit mehreren Nationen nach Nationalitäten hinaus. Dieses Programm ist durch und durch opportunistisch. Vor allem setzt es das gewaltsame Festhalten der Nationen in einem Staate voraus, denn die territoriale Loslösung dieser oder jener Nation von Österreich z. B. bedeutet eine „Zersetzung Österreichs“, und vom Standpunkt der Verfasser der kulturell-nationalen Autonomie ist das absolut unzulässig. Zweitens ist dieses Programm nationalistisch. Wenn die Verfasser des Programms der kulturell-nationalen Autonomie auf die Frage antworten, wozu die Lösung der nationalen Frage nach ihrem Programm nötig sei, dann sagen sie: damit die nationalen Reibereien verschwinden und der Klassenkampf sich entfalten könne. Fragt man sie, was den Arbeitern die kulturell-nationale Autonomie geben soll, dann antworten sie: die Einbeziehung in die „nationale Kulturgemeinschaft“ der Nation. In der bürgerlichen Gesellschaft ist das nichts anderes als die Einbeziehung in die „eigene“ nationale Bourgeoisie und anderseits die Loslösung vom internationalen Proletariat. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 4, Anm. 117]

Die Theorie der „kulturell-nationalen Autonomie“ besagt, dass die Nation auf der Gemeinsamkeit des „Charakters und der Kultur“ beruhe. Von dieser Definition ausgehend, verlangt diese Theorie die Trennung des Schulwesens und der kulturellen Angelegenheiten überhaupt in jedem Staate nach Nationalitäten, die Entstaatlichung dieser Angelegenheiten und ihre Übergabe an besonders organisierte nationale Verbände. Begründer dieser Theorie waren die österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer und Karl Renner (der auch unter dem Pseudonym Rudolf Springer schrieb). In Russland wurde die Forderung der kulturell-nationalen Autonomie vom Bund erhoben und in der Periode der Reaktion und des neuen Aufschwungs (1908-1914) von den menschewistischen Liquidatoren unterstützt. Warum Lenin diese Theorie als reaktionär betrachtete, geht aus dem folgenden Zitat hervor:

Das würde nur zur Absonderung der Nationen führen, während wir ihre Annäherung anstreben müssen. Dies würde nur zu einem Wachstum des Chauvinismus führen, während wir auf das engste Bündnis der Arbeiter aller Nationen, auf ihren gemeinsamen Kampf gegen jeden Chauvinismus, gegen jede nationale Abgeschlossenheit, gegen jeden Nationalismus hinarbeiten müssen. Die Schulpolitik der Arbeiter aller Nationen ist die gleiche: Freiheit der Muttersprache, demokratische und weltliche Schule.“

Die wahre Demokratie, mit der Arbeiterklasse an der Spitze“ – schreibt Lenin in demselben Artikel –, „erhebt die Fahne der völligen Gleichberechtigung in ihrem Klassenkampfe. Von diesem Standpunkt verwerfen wir die ,kulturell-nationale' Autonomie“ (siehe den Artikel „Zur Frage der nationalen Politik“). [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 97]

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