Otsowisten: vom russischen Worte „otoswatj", deutsch: „abberufen“, da die Anhänger dieser Richtung die Abberufung der sozialdemokratischen Abgeordneten aus der Duma verlangten. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 4, Anm. 1] Die konsequente Fortentwicklung des Boykottstandpunktes im Jahre 1908 führte zum „Otsowismus" (Forderung der Abberufung der Dumafraktion). Die otsowistische Strömung gelangte an manchen Orten zu großer Verbreitung. Auf der Maikonferenz 1908 in Moskau kam es inerhalb der Fraktion zu starken Differenzen. Wenn die Vermutung der Redaktion des „Proletarij", die anti-otsowistische Resolution hätte es auf 18 Stimmen und die otsowistische auf 14 Stimmen gebracht, richtig ist, so ist das Kräfteverhältnis bei dieser Abstimmung bezeichnend. Nachstehend die Resolution der Otsowisten: „In Anbetracht dessen: 1. dass laut Beschluss der Allrussischen Konferenz (Juli 1907) die Tätigkeit der sozialdemokratischen Abgeordneten in der Reichsduma in einer breiten agitatorischen und organisatorischen Arbeit bestehen soll; 2. dass seit dieser Konferenz weder im wirtschaftlichen noch im politischen Leben des Landes entscheidende Veränderungen stattgefunden haben, die uns zu einer Änderung unserer Dumataktik veranlassen könnten; 3. dass die verflossene, fast sechsmonatige Tagung der III. Reichsduma deutlich gezeigt hat, dass für die sozialdemokratischen Abgeordneten – sowohl der äußeren Lage nach, in der sie sich befinden, als auch infolge der qualitativen Zusammensetzung der sozialdemokratischen Fraktion – keine Möglichkeit zu agitatorischer und organisatorischer Tätigkeit besteht; 4. dass die Tätigkeit der sozialdemokratischen Abgeordneten, soweit sie in offenen Aktionen und Reden der Fraktion in der Reichsduma zutage getreten ist, keinen revolutionären sozialdemokratischen Charakter trägt; 5. dass die Hauptarbeit der sozialdemokratischen Abgeordneten sich auf Ausarbeitung von Gesetzentwürfen, auf Beteiligung an Kommissionssitzungen, von denen niemand etwas weiß, und auf die Stellung kleiner Abänderungsanträge beschränkt hat; 6. dass eine solche Tätigkeit nicht zur Zerstörung von Verfassungsillusionen, sondern im Gegenteil zu ihrem Erstarken beiträgt, – sind wir der Auffassung, dass der einzige Ausweg aus dieser Lage die Niederlegung der Mandate durch die sozialdemokratischen Abgeordneten ist, was sowohl den wahren Charakter der Duma als auch die revolutionäre Taktik der SDAPR mit Nachdruck betonen wird. Wir fordern die Konferenz auf, sich diesem Standpunkt anzuschließen." Im Gegensatz zur otsowistischen Resolution wurde auf der Konferenz eine andere beschlossen, die zugibt, dass die Tätigkeit der sozialdemokratischen Fraktion in der III. Reichsduma, „soweit sie in den Reden der Fraktion zutage getreten ist, keineswegs als eine konsequent sozialistische und revolutionäre bezeichnet werden kann und dass in der Fraktion bis in die letzte Zeit hinein eine Reihe von Schwankungen in der Richtung zum kleinbürgerlichen Opportunismus, zur Herabdrückung der sozialdemokratischen Losungen und Programmforderungen, zum Übersehen des Hilfscharakters der eigenen Tätigkeit im Vergleich zum Kampf des Proletariats außerhalb der Duma zu beobachten ist." Zugleich aber verweist die Resolution darauf, dass „gegenwärtig die Abberufung der sozialdemokratischen Fraktion aus der III. Reichsduma den Klassenkampf des Proletariats nachteilig beeinflussen könnte, dass ferner die von der Fraktion begangenen Fehler aus der – was Parteivorbildung und Schulung anbetrifft – qualitativ durchaus mangelhaften Zusammensetzung der auf Grund des Gesetzes vom 3. Juni gewählten Fraktion zu erklären sind, ferner aus der Menge ungewohnter Arbeit, mit der die Abgeordneten von der Partei beauftragt waren und in der sie sich, besonders in der ersten Zeit, mit Mühe zurechtfinden konnten, – von der Überwindung der Hindernisse, die ihnen sowohl vom Duma-Präsidium als auch besonders von der oktobristisch-reaktionären Mehrheit in übergroßer Zahl gestellt werden, ganz abgesehen – sowie, was besonders wichtig ist, aus der ungenügenden Aufmerksamkeit sowohl des ZK als auch der Ortsorganisationen für die Arbeit der Fraktion." Die Resolution erklärt weiter, dass die Überwindung der Fehler der Fraktion nicht durch ihre Abberufung möglich ist, sondern durch eine ganze Reihe von Maßnahmen der Ortsorganisationen. Diese sind: „Die breitesten Kreise des klassenbewussten Proletariats müssen zur sorgfältigen Verfolgung der Tätigkeit der sozialdemokratischen Dumafraktion und zu deren energischen Beeinflussung herangezogen werden. Dies kann erreicht werden: a) durch die Diskussion der wichtigsten von der Dumafraktion erörterten Fragen sowie ihrer Reden und ihres Auftretens in der Duma in allen Parteiorganisationen, in den Gewerkschaften und den verschiedensten Arbeiterorganisationen, b) durch Organisierung einer systematischen Beeinflussung der Fraktion durch die Partei vermittels Ausarbeitung von Direktiven („Nakas") und Resolutionen über ihre verflossenen und bevorstehenden Aktionen." Zum Schluss gibt die Moskauer Konferenz „dem festen Glauben Ausdruck, dass die Durchführung der von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen vor allem durch die Fraktion selbst sowie durch die Parteiinstitutionen das in den Augen der Massen stark erschütterte Ansehen der Fraktion wiederherstellen, der Fraktion aus ihrer heute stark isolierten Lage helfen, sie zu einer der notwendigsten Parteiorganisationen machen wird, die durch ihre agitatorische Tätigkeit von der Dumatribüne herab der großen Sache des proletarischen Kampfes außerhalb der Duma dient" (s. „Proletarij" Nr. 31 vom 17. [14.] Juni 1908). Die Maikonferenz bildete den Anstoß zur weiteren Festlegung der Auffassung der Anhänger Lenins und der „Linken" in der Fraktion. Die die Konferenz betreffenden Reden Lenins einerseits, Bogdanows andrerseits waren für die weitere Entwicklung der taktischen Meinungsverschiedenheiten bestimmend. In seinem Artikel „Boykottisten und Otsowisten" (ebenfalls im „Proletarij" Nr. 31) beruft sich Bogdanow auf diese Resolutionen. Die Redaktion (augenscheinlich Dubrowinski) macht folgende Anmerkung zu diesem Artikel: „Indem Genosse Maximow (Bogdanow) die Fortführung der sozialdemokratischen Arbeit in der Duma von einem allgemeinen Aufschwung der Volksbewegung' abhängig macht, stellt er sich im Grunde genommen auf denselben Boden wie wir, jedoch haben wir nicht die Absicht, auf weitere Details der von der Partei und dem Leben selbst bereits gelösten Boykottfrage einzugehen. Viel wichtiger für uns ist es, unsere volle Solidarität mit dem Verfasser in der Frage des Otsowismus, d. h. der praktischen Politik der Gegenwart, zu betonen." Dieser Versuch einer etwas versöhnlerischen Einstellung stützt sich auf die Gedanken, die von Bogdanow in diesem Artikel entwickelt werden. Er schrieb, es wäre falsch, zu glauben, der Streit zwischen den Anhängern dieser beiden Resolutionen sei eine Fortführung des Streites zwischen Boykottisten und Anti-Boykottisten. Er bezeichnet die Kritik an der Dumafraktion, die, wie er sagt, „die schlimmsten Prophezeiungen der Boykottisten auf der Julikonferenz gerechtfertigt hat", als richtig, hält aber eine Abberufung der Fraktion für falsch. Niemals wird es die Fraktion riskieren, aus eigenem Entschluss ihre Mandate niederzulegen. „Nur breite Kampfaktionen des Proletariats könnten zur Niederlegung der Mandate durch die Fraktion führen. Eine solche Situation liegt aber gegenwärtig nicht vor …" „Allen Versuchen, die Abberufung der Fraktion in der heutigen Situation herbeizuführen, würde es nicht nur an der genügenden Einmütigkeit fehlen – die aber eine unbedingte Voraussetzung ihres Erfolges ist –, sondern noch mehr, sie würden fast unvermeidlich eine Spaltung der Partei, wahrscheinlich sogar ihres linken Flügels zur Folge haben… Von diesem Standpunkt aus ist das von den Otsowisten vorgeschlagene Rezept schlimmer als die Krankheit selber." Bogdanow betont, dass noch nicht alle Möglichkeiten der Einwirkung auf die Fraktion erschöpft sind. „Solange nicht alle darin aufgezählten Mittel erschöpft sind – die ,Otsowisten' werden aber wohl nicht behaupten, dass sie es sind –, darf man nicht zu einer so beispiellos entschlossenen und maßlos gewagten Taktik greifen, wie es in der gegenwärtigen Lage die Abberufungs-Taktik wäre." Bogdanow fordert die Mehrheit der Boykottisten auf, sich auf diesen Standpunkt zu stellen, und zeichnet seinen Artikel „Ehemaliger boykottistischer Referent auf der Julikonferenz". Ohne
sich auf den otsowistischen Standpunkt zu stellen, kommt aber
Bogdanow auch zu keiner Verurteilung des Otsowismus und geht in
seiner Kritik am Otsowismus von Erwägungen aus, die für den
„revolutionären Ultimatismus", diesen „verschämten
Otsowismus", wie Lenin sagt, charakteristisch geworden sind. [Band 12] Schon auf der Gesamtparteikonferenz im Dezember 1908 betonte die Partei auf Antrag Lenins die Wichtigkeit der Ausnützung der Dumatribüne für die revolutionäre sozialdemokratische Propaganda und Agitation und verwies zugleich auf den großen Fehler der Otsowisten und Ultimatisten, die auf den Austritt aus der Duma bestanden. In der Konferenz selbst beharrten die Otsowisten nicht bei ihren Fehlern, und sie stimmten sogar für die Leninsche Resolution über die politische Lage und die Aufgaben der Partei, obwohl ihre Abänderungsanträge abgelehnt worden waren. Andererseits sagten sie sich nach der Konferenz nicht nur von ihren Fehlern nicht los, sondern sie vertieften dieselben auch noch. Unter Hinweis auf die unbefriedigende Zusammensetzung der sozialdemokratischen Fraktion, auf ihre Fehler und auf die Schwierigkeit der Arbeit in der reaktionären 3. Duma verharrten die Otsowisten dabei, dass die Abberufung der Fraktion aus der Duma der einzige Ausweg sei. Sie entwickelten eine energische Agitation für die Abberufung der Fraktion und suchten eine Reihe örtlicher Organisationen auf ihre Seite zu bekommen. Obwohl die Otsowisten offen nur gegen die Teilnahme an der Duma auftraten, so traten sie doch in Wirklichkeit gegen die Ausnützung fast aller legalen Möglichkeiten, sowohl der Gewerkschaften als auch der Genossenschaften, der kulturellen und Aufklärungsorganisationen usw. auf. Dadurch, dass sie es ablehnten, in den legalen proletarischen Organisationen zu arbeiten und sie für die sozialdemokratische Propaganda und Agitation auszunutzen, isolierten sich die Otsowisten von den Arbeitermassen. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 4, Anm. 13] |
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