Alexandra Kollontai 19500000 Der Smolny - ein brodelnder Kessel

Alexandra Kollontai: Der Smolny - ein brodelnder Kessel

[Zum ersten Mal veröffentlicht (mit Kürzungen) nach dem Manuskript aus dem Zyklus der Erinnerungen Alexandra Kollontais an Lenin, das im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrt wird. Nach „Ich habe viele Leben gelebt“. Berlin 1980, S. 418-422]

In Ehrfurcht gebietendem Zug nahen die Tage der Revolution.

20. Oktober – Plenum des Revolutionären Militärkomitees, die Partei hat darin die Leitung inne1 21. Oktober – das Büro des RMK arbeitet fieberhaft. 22. Oktober – der Petrograder Sowjet veranstaltet den „Tag der Meetings des Sowjets"2. Die Konterrevolution versucht, eine „patriotische" Demonstration der Kosaken zu organisieren, doch diese wird durch einen Aufruf des Sowjets an die Kosaken vereitelt. Das RMK leitet Maßnahmen zum Schutz der Militärlager, der Betriebe und des Arsenals ein und schickt „seine Leute", Bolschewiki, in die Truppenteile.

Der Petrograder Sowjet und das Revolutionäre Militärkomitee nehmen die militärischen Stäbe der Provisorischen Regierung unter Kontrolle. Das bedeutet schon teilweise Machtübernahme, offenen Kampf für die Sowjets, für die Diktatur der Arbeiter und Bauern.

In der Erinnerung verschmelzen diese Tage, die historischen Tage des Oktober, zu einem einzigen Knäuel von Kampfhandlungen.

Verschreckt und fassungslos sammelt die Konterrevolution ihre Reserven – die Schule für Fähnriche und Offiziersschüler, Freiwilligentrupps der Studenten, die städtische Miliz, Kerenskis Frauenbataillone. Die Provisorische Regierung hat sich im Winterpalais verschanzt.

Das bolschewistische militärische Zentrum stoppt über das RMK die Ausgabe von Waffen an „Freiwillige", die in Wirklichkeit Konterrevolutionäre sind. Die Sestrorezker Fabrik beliefert die Rote Garde mit Gewehren. Wir fangen einen „Geheimbefehl" des Befehlshabers des Militärbezirks ab. Er enthüllt den Ernst der Lage und die Absicht der Provisorischen Regierung, zum Angriff überzugehen.

Die Truppenteile bieten die Stirn, indem sie auf den kurzfristig einberufenen Versammlungen für die Macht der Sowjets, für Frieden, für Grund und Boden und Brot für das werktätige Volk stimmen. Der Stab der konterrevolutionären Regierung und das Revolutionäre Militärkomitee führen einen offenen Kampf gegeneinander.

Dann ein wichtiger Erfolg, ein Sieg auf unserer Seite – die im Namen der Petrograder Garnison abgegebene Erklärung, dass sie nicht mehr die Befehle des Stabs des Militärbezirks befolgen werde, der mit den Sowjets gebrochen hat. Jeder die Garnison betreffende Befehl, der nicht vom RMK unterzeichnet ist, sei ungültig.

Die militärische Führung ist in die Hände des Sowjets übergegangen und wird vom Parteizentrum wahrgenommen. „Die Revolution ist in Gefahr. Es lebe die revolutionäre Garnison!"

23. Oktober – Überprüfung und Inspektion der Gefechtsbereitschaft der Roten Garde. Der Smolny erinnert an eine Festung – Maschinengewehre, Gewehre, Patronenkisten. Und unsere besten Genossen, Arbeiter, mit dem Gewehr über der Schulter, Arbeiterinnen mit dem Kopftuch der Sanitäterinnen. Der Stab der Revolution bereitet den Angriff vor.

Die Nacht zum 24. Oktober. Der bolschewistische Stab der Revolution arbeitet fieberhaft. Tag und Nacht werden eins. Arbeiter und Soldaten, Bolschewiki, strömen in den Smolny. Einem neuen Strom gleich verlassen sie ihn eilends wieder mit ihrem Auftrag. Sie sind entschlossen, von jugendlichem Tatendrang erfüllt.

In der Nacht zum 24. Oktober beschließt die Provisorische Regierung, die Revolution abzuwürgen. Sie schickt eine Abteilung Offiziersschüler los, die die Druckerei der bolschewistischen Zeitungen „Rabotschi Put" („Prawda") und „Soldat"3 besetzen soll.

Das Revolutionäre Militärkomitee entsendet unverzüglich zuverlässige bolschewistische Truppen, ein Pionierbataillon und ein litauisches Regiment, zur Druckerei. Die Offiziersschüler werden von dort verjagt.

Die Provisorische Regierung ist wütend und desorganisiert. Vor Schreck erteilt sie der Garnison Befehl auf Befehl; „Drohbefehle" - das RMK und die Führung der Bolschewiki verhaften, alle, die den Gehorsam verweigert haben, dem Gericht übergeben und dergleichen mehr. Diese Befehle führt aber schon keiner mehr aus; sie bleiben leere Worte auf dem Papier.

Die Bolschewiki antworten mit Taten. Sie haben Verteidigung und Angriff gut vorbereitet.

Der Aufstand hat begonnen.

24. Oktober. Ein trüber Herbsttag. Im Smolny berät das Zentralkomitee. Die Beschlüsse sind gefasst: Alle Mitglieder des Zentralkomitees sind verpflichtet, ständig im Smolny anwesend zu sein. Es ist offiziell beschlossen, mit dem paktiererischen Zentralen Exekutivkomitee zu brechen. Die Wachen im Smolny sind zu verstärken, Maschinengewehre aufzustellen. Dzierżyński ist zum Post- und Telegrafenamt abzukommandieren, um der Revolution diese überaus wichtigen Punkte der Nachrichtenverbindung zu sichern. Bolschewistische Kontrolleure sind an den Eisenbahnlinien aufzustellen. In der Peter-Pauls-Festung ist ein Reservestab zu bilden, für den Fall, dass der Smolny gestürmt werden sollte.

Das ist der Stand der Dinge. Er beweist deutlich, dass der bewaffnete Aufstand im Kampf für die Macht der Sowjets eine greifbare Tatsache ist.

Die Partei hatte alles so klar vorgezeichnet, und die Ereignisse verliefen so planmäßig, dass es einfach unsinnig und absurd war, am Sieg zu zweifeln.

Unten im Smolny war eine Kantine eingerichtet worden. Die Leute kamen in Scharen dorthin, um ihre heiße Kohlsuppe und ihre Brotration in Empfang zu nehmen.

Der Petrograder Sowjet trat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Der Judas Trotzki erklärte: „In Anbetracht des bevorstehenden Sowjetkongresses passt ein bewaffneter Konflikt heute oder morgen nicht in unseren Plan." Dabei war der bewaffnete Aufstand zu diesem Zeitpunkt schon eine unabänderliche Tatsache. Der Verräter, der Judas, marschierte unter eigener Flagge; er schloss sich „zwar freiwillig, doch mit Vorbehalt" dem Aufstand an.4 Angesichts derart verräterischer und höchst gefährlicher Treubrüche und Schwankungen schrieb Lenin am 24. Oktober aus Lesnoi, seinem illegalen Schlupfwinkel, an das Zentralkomitee: „Unter Aufbietung aller Kräfte bemühe ich mich, die Genossen zu überzeugen, dass jetzt alles an einem Haar hängt, dass auf der Tagesordnung Fragen stehen, die nicht durch Konferenzen, nicht durch Kongresse (selbst nicht durch Sowjetkongresse) entschieden werden, sondern ausschließlich durch die Völker, durch die Masse, durch den Kampf der bewaffneten Massen … Man darf nicht warten!! Man kann alles verlieren! !"

Noch in der Nacht vom 24. zum 25. Oktober begannen die Kämpfe zwischen den regierungstreuen Truppen und den aufständischen Arbeitern, Matrosen und bolschewistisch gesinnten Soldaten der Garnison.

Die Provisorische Regierung verfügt nicht über so viele Truppen, als dass diese eine ernste Gefahr darstellen könnten. Die Rote Garde hat Bahnhöfe und Regierungsinstitutionen besetzt. Nach Helsingfors ist das Losungswort gegangen, die Flotte auslaufen zu lassen. Der Kreuzer „Aurora" kommt dem Petrograder Proletariat zu Hilfe.

Die Provisorische Regierung hat sich im Winterpalais verschanzt, das von Offiziersschülern und Kerenskis „Weiberbataillon" bewacht wird. Rund um das Winterpalais wird gekämpft. Die Meldungen laufen alle an einem Punkt ein. Das RMK schickt frische Kräfte und gibt Anweisungen.

Im Feuer des revolutionären Kampfes für die Macht der Sowjets verrinnen die Stunden.

1 Revolutionäre Militärkomitees – militärische Stäbe der revolutionären Kräfte, die in der Periode der Vorbereitung und der Durchführung der Sozialistischen Oktoberrevolution von den bolschewistischen Organisationen in der Regel bei den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gebildet worden wann Am 20. Oktober (2. November) fand die erste Sitzung der Revolutionären Militärkomitees statt.

2 Gemeint ist der „Tag des Petrograder Sowjets". Allererorts stattfindende Kundgebungen und Versammlungen zeigten die Bereitschaft der Arbeiter und Soldaten zu Aktionen.

3 Am frühen Morgen des 24. Oktober, in der Zeit, da die Vorbereitung der proletarischen Kräfte auf den bewaffneten Aufstand lief, beschloss die Provisorische Regierung, zum Angriff überzugehen. Auf Befehl des Befehlshabers des Petrograder Militärbezirks besetzte eine Abteilung Offiziersschüler die Druckerei der Zeitungen „Rabotschi Put" („Prawda") und „Soldat". Die Zeitungen mussten ihr Erscheinen einstellen, die Druckerei wurde versiegelt. Auf Weisung des Zentralkomitees der SDAPR(B) konnte das Revolutionäre Militärkomitee jedoch für eine normale Arbeit der Druckerei sorgen. Um 11 Uhr morgens erschien der „Rabotschi Put" (Weg des Arbeiters) mit dem Aufruf zum Aufstand.

4 In Wirklichkeit hat Trotzki natürlich nur den Feind getäuscht – was Lenin als völlig selbstverständliche Notwendigkeit billigte: „ist es denn schwer, zu begreifen, dass Trotzki vor den Feinden nicht mehr sagen konnte und durfte, als er gesagt hat. Ist es denn schwer, zu begreifen, dass die Partei, die den eigenen Beschluss (über die Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes, über seine völlige Reife, seine allseitige Vorbereitung usw.) dem Feinde verheimlicht, verpflichtet ist, dass dieser Beschluss sie dazu verpflichtet, in öffentlichen Äußerungen nicht nur die Schuld, sondern auch die Initiative auf den Gegner abzuwälzen. Nur Kinder können das nicht begreifen.“ (Brief an das ZK der SDAPR) [WK]

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