Kurz vor dem II. Parteitage der SDAPR (im Juli 1903) fand der IV. Parteitag der Sozialdemokratie Polens und Litauens statt, auf welchem eine Resolution beschlossen wurde, in der die Gründung einer sozialdemokratischen Organisation des gesamten Proletariats Russlands" als wünschenswert bezeichnet wurde. Der Parteitag wählte eine Delegation, bestehend aus Warski und Hanecki, die mit der SDAPR verhandeln sollte, und arbeitete den Entwurf eines Übereinkommens mit ihr aus. In diesem Vertragsentwurf wurden sieben Bedingungen der Vereinigung aufgestellt: 1. vollständige Selbständigkeit der polnischen Sozialdemokratie in allen inneren Fragen; 2. Bezeichnung der gemeinsamen sozialdemokratischen Organisation als Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands mit Beibehaltung der Bezeichnung „polnische Sozialdemokratie" in Gestalt des alten Untertitels „Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens"; 3. andere polnische sozialistische Organisationen können nur auf dem Wege ihres Anschlusses an die Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens der Gesamtpartei beitreten; 4. Aufnahme eines Vertreters der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens in die Redaktion des Zentralorgans; 5. und 6. Ersetzung der Formulierung über das nationale Selbstbestimmungsrecht im Programm durch die Forderung der nationalen Autonomie und 7. Annahme einer Resolution über die Stellung zum polnischen Sozialpatriotismus – der PPS – im Sinne der von der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens vertretenen Anschauungen. Als Hauptforderungen wurden die ersten drei bezeichnet. Im Zusammenhang mit dem Erscheinen des Artikels Lenins „Die nationale Frage in unserem Programm" in der „Iskra" vom 15. Juli 1903, in welchem, neben einer Kritik am polnischen Sozialpatriotismus in Gestalt der PPS, betont wurde, dass „die Sozialdemokratie … stets jeden Versuch bekämpfen" werde, „durch Gewalt oder irgendeine Ungerechtigkeit die nationale Selbstbestimmung von außen her zu beeinflussen", und die Forderung des Selbstbestimmungsrechts näher ausgeführt wurde, erhielt die Delegation vom Hauptvorstande der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens die Weisung, auf der Forderung des IV. Parteitages nach Abänderung des § 7 des Programmentwurfs der SDAPR über das nationale Selbstbestimmungsrecht zu beharren (in dem auf dem I. Parteitag beschlossenen Programm ist dies der 9. Punkt). Auf dem II. Parteitag der SDAPR machte Warski im Namen der polnischen Sozialdemokratie von dem Vertragsentwurf Mitteilung, wobei er jedoch die Änderung des Programmpunktes über die nationale Frage nicht als Hauptpunkt hervorhob. Der Vertragsentwurf der polnischen Delegation wurde einer besonderen, vom Parteitag gewählten Kommission übergeben. Die polnischen Delegierten nahmen an den Arbeiten der Programmkommission des Parteitages teil und traten hier gegen den § 7 des Programmentwurfs auf. Über die Debatte in der Programmkommission wurde Protokoll geführt, wie aber aus der Erklärung der Vertreter der polnischen Sozialdemokratie hervorgeht, waren die polnischen Sozialdemokraten der Meinung, dass „der Versuch, das sozialdemokratische Programm des Kampfes für den Sturz des Zarismus … mit dem nationalistischen Programm der Wiederherstellung Polens zu vereinigen, sowohl theoretisch als auch praktisch undenkbar ist". Die Argumentation der polnischen Sozialdemokraten in der Programmkommission des II. Parteitages und in ihrer Erklärung auf dem Parteitage selbst gründete sich auf die Anschauungen, die Rosa Luxemburg in ihrer Schrift„Die industrielle Entwicklung Polens" (Leipzig 1896) entwickelt hatte. In dieser Schrift vertrat sie die Ansicht, die polnische Frage könne nur vom ökonomischen Gesichtspunkte gelöst werden, und zwar vom Gesichtspunkte der Tendenzen der wirtschaftlichen Entwicklung Polens (Vorwort). In Artikeln in der „Neuen Zeit" vertrat sie dieselben Ansichten. In ihrer Erklärung auf dem II. Parteitage stellten die Vertreter der polnischen Sozialdemokratie die ultimative Forderung, die nationale Frage im Programm entweder offen zu lassen oder den betreffenden Punkt in dem Sinne zu ändern, dass Einrichtungen gefordert werden, die die volle Freiheit der kulturellen Entwicklung aller Nationen, die dem Staate angehören, gewährleisten. Die Programmkommission des Parteitages lehnte die Ansicht der polnischen Delegierten entschieden ab (diese Ablehnung wurde hauptsächlich in den Reden von Plechanow und Lenin zum Ausdruck gebracht), und diese benutzten in Übereinstimmung mit den vom Hauptvorstande ihrer Partei erhaltenen Weisungen eine Unterbrechung in den Arbeiten des Parteitages (wegen seiner Übersiedlung von Brüssel nach London), um ihn zu verlassen. In dem Artikel „Die polnische Delegation auf dem II. Parteitage der SDAPR" in Nr. 1 des „Przegląd Socjal-Demokratyczny" suchte Warski die Haltung der polnischen Sozialdemokraten auf dem Parteitage damit zu begründen, dass der von Lenin entwickelte Gesichtspunkt in der nationalen Frage zum Unterschied von dem klaren und präzisen Standpunkt der polnischen Sozialdemokratie eklektisch und opportunistisch sei. Einen Versuch, den unrichtigen Standpunkt der polnischen Sozialdemokraten in der nationalen Frage zu analysieren, machte Warski in seinem Artikel „Die Sozialdemokratie Polens und Litauens und der II. Parteitag der SDAPR (20 Jahre Diskussion mit Lenin)" in der „Kommunistischen Internationale", Nr. 15 und 16 vom 10. bzw. 17. April 1929. [Band 17] „Krakauer Standpunkt“ nennt Lenin die Auffassungen der von Rosa Luxemburg geleiteten Sozialdemokratie Polens und Litauens, deren Organ „Przegląd Socjal-Demokratyczny“ in Krakau erschien. In Krakau erschien aber auch das Organ der polnischen Sozialdemokraten in Österreich, „Naprzód“, dessen Redakteur Daszyński war. Krakau war der Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen der revolutionären Sozialdemokratie Polens und der nationalistischen PPS, die im Kriege eine wilde nationalistische Propaganda entfaltete und den deutschen Imperialismus unterstützte. Rosa Luxemburg und die polnischen revolutionären Sozialdemokraten gerieten durch ihren Kampf gegen den Nationalismus der PPS zur Ablehnung des Selbstbestimmungsrechtes überhaupt, was Lenin „die Übertragung des Krakauer Standpunktes auf alle Völker und Nationen Russlands, die Großrussen mit eingerechnet“ bezeichnet. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 18, Anm. 110]
In der Erklärung, die auf dem 2. Parteitage der SDAPR die polnischen Delegierten Warschawski (Warski) und Hanecki beim Verlassen des Parteitages abgaben, war ihre Stellung zur nationalen Frage folgendermaßen ausgedrückt: „Die einzig mögliche Lösung der nationalen Frage, die auch zugleich für die Sozialdemokratie unter allen Umständen verbindlich ist, ist die Verfechtung der Freiheit der kulturellen Entwicklung jeder Nationalität auf dem Wege der Demokratisierung der historisch gegebenen staatlichen Einrichtung“. Auf dieser Grundlage schlugen sie auch jene Formulierung des Punktes des Parteiprogramms über die nationale Frage vor, die von Lenin im Weiteren angeführt wird. In seiner Rede auf dem Parteitage begründete Warschawski seine Stellung ungefähr in der gleichen Weise, wie Rosa Luxemburg das in der deutschen sozialdemokratischen Zeitschrift „Neue Zeit“ am Ende der neunziger Jahre getan hatte. Beide gingen von der These aus, dass zur gegebenen Zeit (d. h. zur Zeit des 2. Parteitages) der Prozess der ökonomischen Entwicklung „das kapitalistische Polen und das kapitalistische Russland immer fester zusammenschließt“ und dass daher die Aufwerfung der Frage der Selbstbestimmung unsinnig sei. Das wäre, sagte Warschawski, eine Solidarisierung mit dem polnischen Nationalismus, der „bestrebt ist, das polnische Proletariat vom russischen loszulösen und auf der Grundlage utopischer nationaler Bestrebungen zu organisieren“. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 4, Anm. 127] |
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