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Gesetzentwurf über die Streikfreiheit

Im Jahre 1909 oder 1910 wurde in Paris beim ZK der SDAPR eine Kommission zur Unterstützung der sozialdemokratischen Fraktion der III. Reichsduma und zur Vorbereitung von Gesetzentwürfen gebildet. Der Kommission gehörten an: Lenin, Sinowjew, Kamenew, Martow, Dan, Warski und noch ein polnischer Sozialdemokrat, dessen Name nicht festgestellt werden konnte. Zur Mitarbeit in der Kommission wurden Losowski, Wladimirow u. a. herangezogen. Die Kommission setzte eine Reihe von Unterkommissionen ein: zur Ausarbeitung von Gesetzentwürfen über den Achtstundentag, die Streikfreiheit, die Gewerkschaften. Der Unterkommission über die Streiks gehörten Kamenew, Martow und Dan an. Der Entwurf der Hauptthesen des Gesetzentwurfes über die Streiks wurde, nach einem Brief Kamenews an die „Proletarskaja Prawda", Nr. 17 vom 11, Januar (29 Dezember) 1914, zu schließen, von Dan ausgearbeitet. Dieser Entwurf, der eine Umarbeitung des analogen Projekts der sozialdemokratischen Fraktion der II. Reichsduma war, enthielt die folgenden Punkte:

1 Die Arbeiter besitzen das Streikrecht. 2. Handlungen jedweder Art, die auf Grund einer Verabredung zweier oder mehrerer Arbeiter zum Zwecke der Verteidigung wirtschaftlicher, rechtlicher und politischer Interessen begangen worden sind, sind insoweit straffrei, als sie auch m Falle ihrer Begehung ohne eine solche Verabredung straffrei sind. 3. Im besonderen straffrei sind Streik und Boykott. Ebenso straffrei sind die Drohungen mit Streik und Boykott, ihre Organisierung, die Aufforderung zu Streik und Boykott, die Teilnahme an Vereinigungen zur Organisierung von Streiks und Boykotts, die Aufstellung von Streikposten und ähnliche Maßnahmen zur Durchführung von Streik und Boykott. 4. Verbrecherische Handlungen, die von Streikenden oder von anderen Personen unternommen werden, um zum Streik aufzufordern, ihn durchzuführen oder fortzusetzen, unterliegen keiner erhöhten Bestrafung."

Dann folgten Punkte über die gesetzliche Verantwortlichkeit derjenigen, die Streikende verfolgen, usw. In der Unterkommission wurden an den Entwürfe eine Reihe von Abänderungen vorgenommen, worauf er der allgemeinen Kommission übergeben wurde.

In dem hektographierten Exemplar des Gesetzentwurfs der Unterkommission das im Archiv des Marx-Engels-Lenin-Instituts gewahrt wird, ist von unbekannter Hand mit Bleistift eine Reihe von Änderungen vorgenommen worden. Darunter ist eine, deren Inhalt, soweit er entziffert werden konnte, darauf hinausläuft, dass alle Handlungen, die auf Grund von Verabredungen der Arbeiter und im Zusammenhang mit einem Streik begangen werden, straffrei sind Der Verfasser dieser Änderung ist offensichtlich Lenin. Davon zeugt sein Brief an die „Proletarskaja Prawda", abgedruckt in Nr. 17 vom 11. Januar 1914 (29. Dezember 1913), der im vorliegenden Band abgedruckt ist, und indirekt wird das auch durch den Artikel Martows „Aus Anlass einer Unwahrheit" in der „Nowaja Rabotschaja Gaseta" vom 1. Januar 1914 (19. Dezember 1913) bestätigt. la diesem Artikel schrieb Martow, dass während der Debatte in der ausländischen Kommission „einzig und allein Lenin die Frage aufwarf, dass es wünschenswert sei, darauf zu verweisen, dass bei der Begehung strafbarer Handlungen ihre Verbindung mit einem Streikkampf für das Gericht als „mildernder Umstand" zu gelten habe. Im Wesentlichen wurden gegen diesen Gedanken Lenins keine Einwände erhoben, offenbar deshalb, weil weder Lenin noch ein anderer einen ausgearbeiteten Abänderungsantrag stellte. Der Vorfall ist von Martow offensichtlich ungenau geschildert, denn in dem hektographierten Exemplar des Entwurfs der Hauptbestimmungen des Gesetzes über die Streikfreiheit, das von der „Kommission zur Unterstützung der Dumafraktion" ausgearbeitet wurde, gibt es keinerlei Abänderungen betreffend eine Milderung von Strafen für Handlungen, die während eines Streiks und im Zusammenhang mit einem Streik begangen worden sind.

Einen endgültigen Gesetzentwurf über die Streikfreiheit hat die Kommission offensichtlich nicht beschlossen, denn wie Kamenew in dem erwähnten Briefe schreibt, wurde die Vorbereitung des Entwurfs zu einer Zeit beendet, wo die Beziehungen zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki bereits in einem solchen Grade zugespitzt waren, dass von einer Zusammenarbeit keine Rede sein konnte.

Am 20. (7.) Dezember 1911 brachte die sozialdemokratische Fraktion der III. Duma den Gesetzentwurf über die Streikfreiheit ohne die Abänderungen der Pariser Unterkommission sowie der Kommission des ZK selbst ein, durch die der Gesetzentwurf verbessert worden war. Zudem wurde aus dem ursprünglichen Entwürfe eine Reihe wichtiger Punkte weggelassen, was zu einer bedeutenden Verschlechterung des Entwurfs führte. In dieser Gestalt wurde der Gesetzentwurf in der „Swesda" vom 23. (10.) Dezember 1911 veröffentlicht. In der III. Duma wurde er nicht verhandelt. Die sozialdemokratische Fraktion der IV. Duma (die „Sieben") brachte in der Duma einen „Gesetzentwurf über die Versammlungs-, Vereins- und Koalitionsfreiheit" ein, der in der „Nowaja Rabotschaja Gaseta" am 24. (11.) November 1913 veröffentlicht wurde.

Im § 4 dieses Gesetzentwurfs war die Rede von dem Rechte der Bürger, Koalitionen zu bilden und Verabredungen zu treffen, um die wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Interessen der Mitglieder von Gesellschaften, Vereinen und der Teilnehmer an diesen Verabredungen zu vertreten; ferner hieß es im Entwurf, dass (§ 5) „alle Handlungen, die zu dem oben angeführten Zwecke (§ 4) auf Grund einer Übereinkunft mehrerer Personen untereinander oder von einzelnen begangen werden, straflos sind, sofern sie sonst keine strafbaren Handlungen darstellen". Dieser Punkt wurde von der „Prawda" einer entschiedenen Kritik unterzogen, welcher Kritik auch einige Artikel Lenins und anderer gewidmet waren. In der „Nowaja Rabotschaja Gaseta" erschien eine Reihe von Antwortartikeln Gorskis und Martows. [Band 17]

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