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Sozialistenkongress 1900

Der fünfte internationale Sozialistenkongress tagte vom 23. bis 27. September des Jahres 1900 in Paris. Auf dem Kongress waren gegen 800 Delegierte anwesend (die russische Sozialdemokratie war auf dem Kongress durch die verhältnismäßig große Delegation von 24 Mitgliedern vertreten).

Die Hauptfrage, auf die die Aufmerksamkeit des Kongresses konzentriert war, und die zu einer lebhaften Debatte führte, war die Frage der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und der Zulässigkeit der Beteiligung von Sozialisten an bürgerlichen Ministerien. Diese Frage erfuhr, im Zusammenhang mit dem sogenannten „Fall Millerand", eine ganz besondere Zuspitzung. Millerand, französischer Sozialist und Mitglied des Parlaments, war unter dem Vorwand der Notwendigkeit der Verteidigung der Republik gegen die monarchistische Gefahr im Juni 1899 als Handelsminister in das Kabinett Waldeck-Rousseau (dem auch der berüchtigte General Gallifet, der Henker der Pariser Kommune, angehörte), eingetreten und blieb trotz aller Proteste des revolutionären Flügels der französischen Sozialisten, vor allem der „Guesdisten" und „Blanquisten", in der Regierung, auch nachdem diese auf streikende Arbeiter in Châlons und auf Martinique hatten schießen lassen. Jaurès, der Führer der französischen Opportunisten, unterstützte Millerand.

Zu dieser Frage nahm der Kongress folgende, von Kautsky vorgeschlagene „versöhnliche" Resolution an: „Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat kann in einem modernen demokratischen Staat nicht das Werk eines bloßen Handstreiches sein, sondern kann nur den Abschluss einer langen und mühevollen Arbeit der politischen und ökonomischen Organisation des Proletariats, seiner physischen und moralischen Regenerierung und der schrittweisen Eroberung von Wahlsitzen in Gemeindevertretungen und gesetzgebenden Körperschaften bilden.

Aber die Eroberung der Regierungsmacht kann dort, wo sie zentralisiert ist, nicht stückweise erfolgen. Der Eintritt eines einzelnen Sozialisten in ein bürgerliches Ministerium ist nicht als der normale Beginn der Eroberung der politischen Macht zu betrachten, sondern kann stets nur ein vorübergehender und ausnahmsweiser Notbehelf in einer Zwangslage sein.

Ob in einem gegebenen Falle eine solche Zwangslage vorhanden ist, dass ist eine Frage der Taktik und nicht des Prinzips. Darüber hat der Kongress nicht zu entscheiden. Aber auf jeden Fall kann dieses gefährliche Experiment nur dann von Vorteil sein, wenn es von einer geschlossenen Parteiorganisation gebilligt wird und der sozialistische Minister der Mandatar seiner Partei ist und bleibt.

Wo der sozialistische Minister unabhängig von seiner Partei wird, wo er aufhört, der Mandatar seiner Partei zu sein, da wird sein Eintritt in das Ministerium aus einem Mittel, das Proletariat zu stärken, ein Mittel, es zu schwächen, aus einem Mittel, die Eroberung der politischen Macht zu fördern, zu einem Mittel, um sie zu verzögern. Der Kongress erklärt, dass ein Sozialist ein bürgerliches Ministerium verlassen muss, wenn die organisierte Partei erklärt, dass es Parteilichkeit im Kampf zwischen Kapital und Arbeit bewiesen hat."

Der Text der Resolution, die von Guesde vorgeschlagen wurde und bei der Abstimmung in der Minderheit blieb, lautete:

Der fünfte Internationale Kongress zu Paris erklärt wiederholt, dass die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, gleichviel ob sie auf friedlichem Wege erfolgt, die gewaltsame politische Expropriation der Kapitalistenklasse bedeutet.

Sie lässt deshalb die Teilnahme am Bourgeois-Regiment dem Proletariat nur in der Form der Eroberung von Mandaten aus eigener Kraft auf dem Boden des Klassenkampfes zu und untersagt jede Teilnahme der Sozialisten an bürgerlichen Regierungen, denen gegenüber die Sozialisten auf den Standpunkt unbeugsamer Opposition stehen bleiben müssen." (Siehe Seite 19 „Internationaler Sozialistenkongress zu Paris 1900", Verlag der Buchhandlung „Vorwärts", Berlin – Die Red.)

Plechanow, Axelrod und Sassulitsch stimmten für die Resolution Guesdes. Nachdem der Kongress eine Reihe von Beschlüssen zu anderen Fragen (auch zur Frage des Blocks mit bürgerlichen Parteien und zur Frage des Generalstreiks) angenommen hatte, beschloss er auch ein ständiges internationales Büro oder Sekretariat mit dem Sitz in Brüssel zu gründen.

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