Alexandra Kollontai 19500000 Nach dem 4. April

Alexandra Kollontai: Nach dem 4. April

[Zum ersten Mal veröffentlicht nach einem im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrten Manuskript aus dem Zyklus der Erinnerungen Alexandra Kollontais an das Jahr 1917. Die Erinnerungen wurden verschiedentlich aus den Manuskripten „Wie wir 1917 gearbeitet haben" und „Als Delegierte zur Beratung der Zimmerwalder Linken" ergänzt. Nach „Ich habe viele Leben gelebt“. Berlin 1980, S. 331-341]

Nach dem 4. April wurden die Leninisten von ihren Feinden besonders heftig verfolgt. Man drohte uns damals mit einem Pogrom, und es war gefährlich, in der Straßenbahn erkannt zu werden, wenn der im Frühjahr 1917 übliche Streit entbrannte, wer recht habe – Lenin und die Bolschewiki, die für die Beendigung des Krieges und für die Macht der Sowjets eintraten, oder die Sozialchauvinisten mit Kerenski und Konsorten, die den Wunsch hegten, in Russland eine bürgerliche Ordnung in ausländischer Manier einzuführen.

Auf allen Versammlungen (und Meetings gab es damals in Petrograd beinahe zu jeder Tageszeit) attackierten uns in geschlossener Front Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Liberale, Plechanowleute und andere. Meine Wortmeldungen auf den Sitzungen des Petrograder Sowjets (ich war damals Mitglied des Exekutivkomitees) kommentierte der vereinte Haufe unserer Gegner mit Rufen wie: „Eine Leninistin, was da kommt, wissen wir! Verschwinden soll sie, fort mit ihr!" Und die Versammlungsleiter runzelten die Stirn, wenn ich ums Wort bat, wussten sie doch, dass sie eine unangenehme Pflicht erwartete – die Zuhörer zu beschwichtigen und die Regeln des Sowjets einzuhalten, nämlich jedem das Wort zu erteilen, der berechtigt war zu sprechen.

Doch dafür hörten mir die Arbeiter in den Betrieben, die Soldaten in den Kasernen, die Matrosen auf den Schiffen sowie die Soldatenfrauen und Arbeiterinnen auf Frauenkundgebungen gern zu und begrüßten mich immer herzlich. Für sie, das heißt für das werktätige Volk, war der Name Lenin in jenen Tagen schon zum Symbol für das Ende des imperialistischen Gemetzels und für den Sieg der Losung „Alle Macht dem werktätigen Volk", den Sowjets also, geworden.

Das war eine stürmische, unsichere, gefährliche, kampferfüllte und mitreißende Zeit. Eine Zeit voller Hoffnungen, voller Pläne, voller unerschütterlichen Glaubens daran, dass wir, die Bolschewiki, unter der Führung Lenins siegen würden. Das russische Volk würde mit der Macht der Werktätigen ein neues, glückliches Leben aufbauen.

Die Losungen der Partei waren dem Volk so vertraut und verständlich. „Lieber die Niederlage der Imperialisten an der Front als den Sieg der Konterrevolution im Hinterland." Alle Versuche, die bürgerliche Herrschaft zu festigen und der Konterrevolution zum Durchbruch zu verhelfen, müssen im Keim erstickt werden. Eine neue Macht, die Macht des Volkes, muss errichtet werden. Das Gutsbesitzerland muss denen gegeben werden, die es bestellen. Die Kontrolle über die Produktion muss hergestellt werden. Die Sowjets müssen die Macht ergreifen. Dann, nur dann wird das Volk ein wirkliches Vaterland haben und es zu einer solchen Kraft machen, die niemand zu bezwingen vermag. Die Bolschewiki wissen, was sie wollen. Die Bolschewiki vermögen dem imperialistischen Gemetzel Einhalt zu gebieten.

Doch ringsum wurde den Bolschewiki noch viel, sehr viel Widerstand entgegengesetzt. Die Bourgeoisie und ihre Handlanger, die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, spürten die Gefahr und arbeiteten eifrig gegen uns. Die „Liberalnaja Rjetsch", Plechanows „Jedinstwo" und andere Presseorgane verbreiteten Verleumdungen gegen uns und schoben uns sogar die Schuld an der Niederlage an der Front in die Schuhe. Die Soldaten wählten indessen gerade Bolschewiki zu Deputierten für die Armeesowjets, und bei Kundgebungen in den Kasernen waren wir Bolschewiki gewöhnlich die beliebtesten Redner. Immer wieder wurde ich geholt, wenn nicht mit dem Auto, so mit dem Panzerwagen, und bald in diese, bald in jene Kaserne gebracht. Da war alles voller grauer Militärmäntel. Mitunter zeigten sich auf den Gesichtern der Soldaten zunächst Misstrauen und Zweifel, als wollten sie sagen: „Reden haben wir genug gehört, sagen Sie uns lieber, wie mit dem Krieg Schluss gemacht werden kann." Dafür schallte einem, kaum fing man an, über den Krieg und den Grund und Boden zu sprechen, ein „Stimmt genau!" entgegen.

Es kam vor, dass man an einen Truppenteil geriet, wo die „Vaterlandsverteidiger" noch fest ihre Positionen behaupteten, wo die Offiziere in den ersten Reihen saßen, während sich die Soldaten hinten zusammendrängten. In solchen Fällen war es nicht leicht, die Zuhörer zu gewinnen. Kaum hatte man begonnen zu reden, da wurde auch schon gelärmt. Welcher Triumph war es dafür, wenn die Offiziere es gegen Ende des Meetings eilig hatten, unbemerkt durch die Seitentüren zu verschwinden, während die Soldaten uns bolschewistische Redner umringten, uns mit Fragen überhäuften und dann natürlich auch unsere bolschewistische Resolution annahmen.

Da eilte man voller Genugtuung weiter in die nächsten Kasernen.

Autos waren in jenen Tagen eine Seltenheit. Gewöhnlich ging ich zu Fuß oder fuhr mit der Straßenbahn. Es kam vor, dass man in der Straßenbahn Platz nahm und ringsum wie üblich heftig debattiert wurde, ob der Krieg weitergehen müsste und was eine Offensive einbrächte. Wer zur Bourgeoisie gehörte, wetterte los und beschimpfte die Bolschewiki. Die Soldaten und die Arbeiter nahmen uns und die Sowjets in Schutz. Es wurde heftig gestritten, ja, beinahe wäre man handgreiflich geworden. Auch ich bekam meinen Teil von den Bourgeois ab. Mein Name war in jenen Tagen vielen sehr verhasst.

Ich erinnere mich, wie der Streit einmal so weit ging, dass sich die Leute zu prügeln begannen. In der Hitze des mit Fäusten ausgetragenen Wortgefechts schrien unsere Feinde: „Wenn uns diese niederträchtige bolschewistische Schurkin Kollontai mal in die Hände fällt, wird es ihr aber schlecht ergehen! Totschlagen sollte man sie! Was verdirbt sie die ehrlichen Leute!" Ich konnte mich nur still und leise zum Aussteigen fertig machen und an der nächsten Haltestelle abspringen. Ein Glück nur, dass man mich nicht erkannt hatte.

Auf dem Newski-Prospekt fanden Kurzkundgebungen statt. An den Straßenecken drängten sich die Leute und diskutierten. Hörte man die Losung „Alle Macht den Sowjets!", wusste man, dass sich in dieser Menge einer der Unsrigen durchsetzte. Wenn der Redner lautstark dem imperialistischen Krieg das Wort redete, so war dort ein hysterischer Sozialrevolutionär am Werk.

Im Büro der Fraktion des Sowjets mussten wir Leninisten eifrig gegen Schwankende wie etwa Awilow ankämpfen, doch nach dem 4. April erhielten wir sofort Verstärkung und die Führung. Es wurden zahlreiche Aufgaben gestellt. So galt es, die Sowjets der Arbeiter und Soldaten zu festigen. Die Politik der Sowjets war der Provisorischen Regierung gegenüberzustellen. Den kleinbürgerlichen Parteien durften keinerlei Zugeständnisse gemacht werden. Bei jeder Gelegenheit mussten der wahre Charakter des imperialistischen Krieges und die Politik der Bourgeoisie bloßgestellt werden.

War unser bolschewistischer Sektor im großen Saal des Taurischen Palais im März noch sehr schmal gewesen, so wuchs er jetzt, im April, zusehends. Betriebe und Truppenteile entsandten in den Sowjet diejenigen, die auf Seiten der Bolschewiki standen.

Wie die lodernde Flamme bei einem Waldbrand entflammte der Name Lenin die Herzen. Der Name Lenin zog den Hass des kapitalistischen Russland auf sich. Der Name Lenin wurde für die breitesten Massen der Werktätigen in Stadt und Land zum Symbol der Befreiung vom Joch des Kapitalismus.

Es gab noch viel Unverständnis und Schwanken. Doch die Arbeiter und Soldaten erlernten das politische Abc in der heißen Schlacht, die sich die beiden wichtigsten Klassen zu den sie berührenden praktischen aktuellen Alltagsproblemen, wie Herabsetzung der Löhne der Arbeiter, Massenentlassungen in den Betrieben und Preissteigerungen, lieferten. Die Gutsbesitzer und ihre Lakaien, die Sozialrevolutionäre, dachten gar nicht daran, dem Volk Land zu geben, sie redeten nur davon. Aus den Dörfern wurden immer weiter zahllose Arbeitskräfte an die Front getrieben. Aus den Gouvernements kamen Gerüchte, denen zufolge sich die Bauern „eigenmächtig" Gutsbesitzerland genommen hatten. Die Sozialrevolutionäre wetterten gegen die „unbefugten Aktionen", gegen die „Eigenmächtigkeit". Die Arbeiter nahmen daraufhin Fabriken in Besitz und setzten unter ihrer Kontrolle die Produktion in stillstehenden Betrieben wieder in Gang. Im brodelnden Kessel der Selbstverteidigung gegen die drohende Konterrevolution begannen allerdings schädliche anarchosyndikalistische Stimmungen aufzukommen. Unsere Partei trug diesem Umstand rasch Rechnung. Sie befolgte unbeirrt ihren Kurs auf die natürliche, zwangsläufige Entwicklung der Revolution, ging jedoch zugleich auch gegen den schädlichen Linksradikalismus vor. Sie tat dies klar und deutlich, unerschütterlich, ohne nervöse Hast und ohne Abenteurertum.

Die Aprilkonferenz fand in den letzten Tagen des Monats statt.1 Ich erinnere mich an den Sitzungssaal, an die Aufregung, die Diskussionen, die Unerschütterlichkeit der Führung und die Klarheit der Zielstellung. Der Konferenzsaal war verhältnismäßig voll, stets waren außer den Delegierten auch noch andere aktive Genossen der Partei zugegen. Oft kamen Delegierte des Sowjets, sich zu beraten und zuzuhören, und fuhren dann mit neuen Kenntnissen und neuen Gedanken wieder weg. „Jetzt ist alles klar. Und wie einfach das ist. Dabei schien mir, als ich hierherkam, vieles kompliziert und irreal." So dachten viele, die das Glück hatten, einen Tag oder einen Abend lang der Konferenz beiwohnen zu können.

Die Beschlüsse, die auf dieser Konferenz gefasst wurden, waren überaus wichtig. Die Klarheit der Linie der Partei, ihr Weitblick in einer so frühen Etappe der Revolution frappierten.

Lenins These von der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg wurde verankert.

Allein die proletarische Revolution und die Diktatur des Proletariats vermochten die Menschheit von den Schrecken der kapitalistischen Ordnung und des Krieges zu befreien. Die objektiven Bedingungen hatten das Proletariat Russlands zum Schrittmacher des revolutionären Proletariats der ganzen Welt werden lassen. Diese Thesen Lenins hatte sich die Partei voll und ganz zu eigen gemacht.

Ein äußerst wichtiger Beschluss betraf eine Etappe in der Entwicklung der Revolution – den Übergang der gesamten Staatsmacht an die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- und anderer Deputierten in ganz Russland. Das war neu, war klassenmäßig richtig, war eine Stufe, die die Lösung des Problems, die Revolution in eine sozialistische Revolution überzuleiten, näher brachte.

Es gab schwankende Elemente, die der Auffassung waren, in Russland gäbe es nicht genug soziale Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution. Die Konferenz wies die Meinung dieser Feiglinge und Unschlüssigen zurück.

Kontrolle über die Banken und Syndikate; Nationalisierung des gesamten Bodens im Lande; Schaffung von Musterwirtschaften aus den großen Herrengütern; Übergang zu kollektiven Wirtschaftsformen; Verwirklichung der sozialen Revolution auf revolutionärem Wege – alle diese klaren Direktiven Lenins wurden angenommen, bestätigt, traten in Kraft.

Ein wichtiger Beschluss, der die Oktoberrevolution vorbereitete und die Basis für die Sowjetmacht schuf, waren die Richtlinien der Konferenz zur nationalen Frage. Das Problem der nationalen Minderheiten war akut und kompliziert. Dieses Problem konnte auch eine starke revolutionäre Macht zu Fall bringen. Das Referat zur nationalen Frage hielt Stalin. Es wurde der einzig richtige, der marxistisch-leninistische Kurs eingeschlagen: „Recht auf Selbstbestimmung bis zur Lostrennung". Welche Empörungsrufe löste diese unsere Direktive bei den „Vaterlandsverteidigern" und dann bei Plechanow im Juni auf dem I. Sowjetkongress aus!

Der 1. Mai, das heißt nach unserer Rechnung erst der 18. April. Ein heller, sonniger, warmer Tag. Wundervoll, wie das Morgenrot an einem Sommertag. Eine Menge bolschewistische Fahnen. Offener Kampf gegen die paktiererischen „Vaterlandsverteidiger". Rede auf Rede … Ich sprach bald auf dem Marsfeld, bald auf Plätzen von Lastwagen aus, von einem Panzerspähwagen oder von jemandes Schultern herab. Ich sprach gut, mitreißend und verständlich. Die Frauen weinten, die Soldaten liefen von Tribüne zu Tribüne, um sich „diese Kollontai da" noch einmal anzuhören. Ich sprach vom Frieden, wie man ihn erringen müsse, von Verbrüderung, von der Macht des Volkes in Gestalt der Sowjets …

Die erste eindeutig bolschewistische Stimmung zeigte sich auf der Demonstration vom 21. April2, bei der die Massen deutlich machten, dass sie auf unserer Seite standen.

Die Sozialrevolutionäre hatten ihr Ziel erreicht: Die Menschewiki erklärten sich bereit, die „Macht zu teilen". Sie bildeten eine Koalitionsregierung, das heißt eine bürgerliche Regierung.3 Es wurden menschewistisch-sozial-revolutionäre Vorschläge angenommen – alle möglichen „Vorbereitungen". Keine Aktionen, sondern „Vorbereitungen". Zu einem Zeitpunkt, da die Geschicke der Revolution entschieden wurden, da wirksame, lebensnahe Forderungen, wie „Nieder mit dem imperialistischen Krieg!" und „Die Sowjets als Gegengewicht zur bürgerlichen Macht", aufgestellt werden mussten, kamen sie mit ihren „Vorbereitungen": „Vorbereitung einer Konstituierenden Versammlung", „Vorbereitung einer Bodenreform" usw. Natürlich waren die Kadetten von der Politik der Sozialrevolutionäre begeistert. Die Ministerposten wurden aufgeteilt – die Sozialrevolutionäre nahmen sich die „Agrarreformen", die Menschewiki das Portefeuille Arbeit.

Die Massen reagierten darauf mit einer Demonstration. Der 21. April war die Antwort auf die „Übereinkunft" der verräterischen „Sozialpatrioten" mit den russischen Imperialisten. Die Arbeitermassen griffen unsere bolschewistischen Losungen „Nieder mit den kapitalistischen Ministern!" und „Nieder mit der Koalition!" auf. Das war unser Tag. Die Arbeiter fühlten sich spontan zu uns hingezogen. Und die Frontsoldaten auch …

Der I. Gesamtrussische Sowjetkongress4 in der Kadettenschule in Wassiljewski Ostrow. Ein herausragendes Ereignis. Wir internationalistisch gesinnten Bolschewiki zeigten, wer wir sind – unsere Reden ließen eine klare Linie erkennen.

In den ersten Reihen des Saales erkannte ich Plechanow. Grau war er geworden. Er stand nicht auf unserer Seite, gehörte zu den „Vaterlandsverteidigern". Der Blick seiner klugen, lebhaften Augen ruhte auf mir, und ich sah darin unverkennbare Missbilligung. Es berührte mich schmerzlich, dass Plechanow nicht einer der Unseren war … Ich war aufgeregt, ereiferte mich, beleidigte den Gegner mit unnötigen Ausdrücken. So etwas ist immer schlecht – ein Zeichen von Schwäche. Wenn ich mich beim Sprechen völlig in der Gewalt habe, vermag ich auch ohne scharfe Worte zu überzeugen.

Im Flur stand ich Plechanow plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er tat, als erkenne er mich nicht. Wir gingen grußlos aneinander vorüber. Mir fiel Genf ein, meine erste Begegnung mit Plechanow, meine Studentenjahre in Zürich, die Zeitschrift „Sarja". Jetzt ärgere ich mich – weshalb bin ich nicht selbst zu ihm hingegangen? Wir waren politische Gegner, gewiss, doch gab es nicht all das Wertvolle der Vergangenheit? Für ihn war ich ein Feind, eine Defätistin. Jenen Plechanow, der den „Monismus"5 verfasst und den ich während meiner Studentenzeit in der Schweiz gekannt hatte, gab es nicht mehr, sein Name war für die Revolution gestorben. Was hätte ich ihm wohl sagen können?

Ende Juni bat mich Lenin, Krassin aufzusuchen; er wollte über mich mit ihm in Verbindung treten.6 Die Krassins wohnten in Zarskoje Selo. Noch in der gleichen Nacht fuhr ich zu ihnen. Es war eine helle Frühlingsnacht, der Flieder begann gerade zu blühen. Krassin versprach einen Termin für das Treffen mit Wladimir Iljitsch.

Lenin sah sich das Kraftwerk „von vorn bis hinten" an und meinte bei seiner Rückkehr mit einem Anflug von Verwunderung, aber ohne Tadel zu mir: „Seltsame Leute, diese Ingenieure. Krassin ist doch ein tatkräftiges und furchtloses Parteimitglied, aber im Augenblick ist er bis über beide Ohren in seine Elektroenergie verliebt und denkt an nichts anderes mehr. Als gebe es keine Revolution, als nehme er sie gar nicht wahr. Ihm geht es einzig und allein darum, dass seine Turbinen und Generatoren einwandfrei laufen. Und er erzählt mit solchem Genuss von der neuen Technik, dass ich sechs Stunden lang mit ihm durch das Werk gewandert bin, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht. Ja, seltsam sind diese Ingenieure, aber in Zukunft, wenn wir anfangen, das neue Russland aufzubauen, werden wir Leute wie Krassin brauchen. Und nicht nur Dutzende, nein, Tausende Krassins … "

Erlebnisreich waren diese drei Monate. Wichtige historische Ereignisse haben stattgefunden, die sich nicht mehr ungeschehen machen lassen. Wir Russen, genauer gesagt, wir Bolschewiki machen Geschichte, wir bahnen den Weg für das Weltproletariat. Dadurch ist man die ganze Zeit in gehobener Stimmung, ist einem froh zumute. Ich bin wie verliebt in unsere Partei und ihren Kampf.

Aus den anderen Ländern begannen uns die Führer der II. Internationale zu besuchen. Als erster kam Hjalmar Branting (aus Schweden). Wir bereiteten ihm einen eindrucksvollen und schönen Empfang auf dem Finnländischen Bahnhof – mit Begrüßungsreden, Fahnen und Orchestermusik. Branting war erstaunt und zufrieden. „Ja, wie ich sehe, herrscht bei Ihnen tatsächlich Freiheit."

Ich gab zur Antwort, dass es bis zur wirklichen Freiheit noch ein weiter Weg sei, dass wir vorerst noch für die neue, sozialistische Ordnung kämpften. Die bürgerliche Freiheit genüge uns nicht. Branting wollte eine Menge wissen, doch die Leninsche Linie hat er nicht begriffen.

Mit Branting kam es zu einem kleinen Zwischenfall. Im Hotel „Europa", wo wir ihn untergebracht hatten, wurden ihm seine beiden Stücke Seife gestohlen (das zum Waschen und das zum Rasieren).

Ja", meinte er, „Sie werden noch viel tun müssen, um dem unter dem Zarismus heruntergekommenen russischen Volk Bildung zu vermitteln und es moralisch zu erziehen."

Dazu muss das Volk vor allem die Macht in seine Hände nehmen", entgegnete ich.

Das wollen doch auch die Sozialisten aller Länder."

Nur sind unsere Wege verschieden", sagte ich. „Wir werden die Macht mit Hilfe der Sowjets ergreifen, auf revolutionärem Wege."

Das konnte Branting nicht gutheißen: „Warum nicht den historisch bewährten Weg gehen – den über eine Konstituierende Versammlung?"

1 Die VII. Gesamtrussische Konferenz der SDAPR(B) (Aprilkonferenz) fand vom 24. bis 29. April (7.-12. Mai) 1917 in Petrograd statt. Es war die erste legale Konferenz der Partei. Sie beschloss das Leninsche Programm des Übergangs zur zweiten Etappe der Revolution in Russland, entwarf den Kampf plan für das Hinüberwachsen der bürgerlich-demokratischen Revolution in eine sozialistische und erhob die Forderung des Übergangs der ganzen Macht an die Sowjets.

2 Am 21. April (4. Mai) gingen, einem Aufruf der Bolschewiki folgend, mehr als 100 000 Petrograder Arbeiter und Soldaten auf die Straße, um gegen die imperialistische Politik der Provisorischen Regierung zu protestieren und den Abschluss eines demokratischen Friedens zu fordern. Demonstrationen und Kundgebungen fanden auch in Moskau, im Ural, in der Ukraine, in Kronstadt sowie in anderen Städten und Gegenden des Landes statt.

3 Die erste Provisorische Koalitionsregierung wurde am 5. (18.) Mai als Ergebnis der Aprilkrise, des Protestes der Massen gegen die Politik der Fortsetzung des Krieges, gebildet. Neben Vertretern der Bourgeoisie gehörten der Regierung Führer der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, wie W. M. Tschernow, A. F. Kerenski, I. G. Zeretelli und M. I. Skobelew, an.

4 Der I. Gesamtrussische Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten fand vom 3. bis 24. Juni (16. Juni bis 7. Juli) 1917 in Petrograd statt. Die Delegierten waren im wesentlichen Menschewiki. Lenin sprach auf diesem Kongress über das Verhältnis zur Provisorischen Regierung sowie über den Krieg. Im Namen der Partei gab er der Bereitschaft der Bolschewiki Ausdruck, die Macht in ihre Hände zu nehmen. Alexandra Kollontai sprach auf diesem Kongress zur nationalen und zur finnischen Frage.

5 Gemeint ist die Arbeit Plechanows „Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung". Es handelt sich dabei um das große, philosophisch bedeutsamste Werk Plechanows, das dieser aus der Sicht des revolutionären Marxismus geschrieben hat.

6 Offensichtlich hat sich Alexandra Kollontai im Datum geirrt. Die Ereignisse fanden aller Wahrscheinlichkeit nach Ende Mai oder Anfang Juni statt. Bezüglich der Zusammenkunft Lenins mit L. B. Krassin in Zarskoje Selo im Juni 1917 gibt es keine weiteren Zeugnisse. Die beiden anderen Begegnungen zwischen Lenin und Krassin fanden in den Monaten April und Mai des Jahres 1917 auf Initiative und im Beisein von A. S. Jenukidse statt.

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