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VIII. Schwierigkeiten und Gefahren der bolschewistischen Konzessionspolitik

Der fortbestehende Klassengegensatz zwischen Kapitalist und Proletarier Im Arbeiterstaat / Die Sowjetmacht als Schützerin der Gewerkschaften und der Arbeitergesetzgebung / Der Sowjetstaat als Arbeitgeber / Die Bedeutung der behaupteten politischen Macht durch die Klassenpartei des Proletariats für die Fortentwicklung zum Kommunismus

Die Zugeständnisse der Bolschewiki an die Bauern — die Handwerker und Kleingewerbler eingerechnet — paaren sich mit solchen an die modernen Großkapitalisten, namentlich an die ausländischen. Die betreffenden Konzessionen sind allgemein bekannt, ebenso die Bedingungen, an die ihre Gewährung geknüpft ist. Die reformistischen Sozialisten betrachten die bolschewistische Konzessionspolitik als feierliche Anerkennung des Kapitalismus. Als ob das Rechnenmüssen mit zeitlich gegebenen Tatbeständen schon ihre Anerkennung im Sinne ihrer Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit in sich begriffe! Wenn dem so wäre, so würden wir in allen kapitalistischen Staaten den Kapitalismus “anerkennen”. Denn wir leben unter ihm, und wir bekämpfen ihn. Aber liegen die Dinge in Sowjetrussland nicht ganz anders? Hier hatte die Revolution den Kapitalismus bereits überwunden, mit dem die regierenden Bolschewiki jetzt paktieren, paktieren müssen. Das stimmt nur dem Scheine nach. Die politische Macht des russischen Proletariats vermochte nicht mit einem Schlage die höhere kommunistische Wirtschaftsform zu schaffen. Sie musste sich damit begnügen, ihr Aufkommen, ihre Entwicklung kraftvollst zu unterstützen und zu beschleunigen. In Deutschland war 1918 die politische Macht in die Hände des Proletariats gefallen. Trotzdem erleben wir seit vier Jahren Konzession auf Konzession an den Kapitalismus und in den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnissen bestehen sogar noch heute starke Überreste des Feudalismus weiter. Ein zäher Kampf muss gegen den Monarchismus geführt werden, der die Republik bedroht. Ist das alles beschworene “Anerkennung” des Kapitalismus, des Feudalismus und ihres “Rechts” auf ewige Dauer?

Paul Levi sieht nur eine einzige Wirkung der Konzessionspolitik voraus. Die Lähmung des proletarischen Klassenkampfes und den Bankrott der bolschewistischen Partei. Lenin schrieb: “Der Konzessionär ist ein Kapitalist. Er betreibt sein Geschäft auf kapitalistische Art und Weise, um des Gewinns willen.” Von diesem Satz ausgehend kommt Paul Levi zu diesen Schlussfolgerungen:

Was ist die Aufgabe der Gewerkschaften? Ist es die Aufgabe der Gewerkschaften, zu sagen: arbeitet für den Kapitalisten, der macht hohe Gewinne, aber dank der hohen Gewinne wird die Basis entstehen, auf Grund deren eines Tages unsere Regierung den Kommunismus einführen kann? Oder soll sie den Arbeitern sagen: arbeitet nicht für den Kapitalisten und seinen Profit, beschneidet ihm den Profit, der Kapitalismus ist eine Hölle. Sie kann das eine sagen, sie kann das andere sagen. Sie wird im ersten Falle die Zutreiberin der Kapitalisten, sie wird im anderen Falle den Konflikt mit dem Konzessionär haben, der Konzessionär wird die zu Hilfe rufen, die ihm die Konzession gaben. Und dann?”

Nein, es gilt getrost der Tatsache ins Auge zu sehen: es sind in Russland zwei Klassen, die unversöhnlich sind. Die eine, die bäuerliche und, vorläufig noch auf ihren Schultern, die industrie- und handelskapitalistische. Die andere, die proletarische. Es gibt in Russland so wenig einen Stillstand, so wenig eine Versöhnung in dem der Gesellschaft immanenten Klassenkampf wie anderswo, und die Partei, die versucht, doch zu versöhnen, die versucht, auf der einen Seite dem Kapitalismus, was des Kapitalismus ist, dem Proletariat, was des Proletariats ist, zu geben, die wird als erste zerschlagen durch diesen Kampf. Die Bolschewiki haben den Versuch unternommen, für die Zeit dem Kapitalismus zu geben, um für die Zukunft das Proletariat zu retten.”

Wer würde die ungeheuren Schwierigkeiten und Gefahren verkennen, die die Konzessionspolitik der Bolschewiki umdräuen. Schwierigkeiten und Gefahren für die Partei selbst, für das Proletariat — nicht allein das russische, sondern das Weltproletariat, dem die russische Revolution wegweisende Feuersäule ist — für den Kommunismus. Die Konzessionspolitik belastet die Bolschewiki mit schier erdrückender Verantwortlichkeit. Aber eröffnet sie tatsächlich einzig und allein jene trostlose Perspektive, die Paul Levi aufzeigt? Mich will bedünken: nein! Ich glaube in den vorausgehenden Ausführungen die angstbeklommene Auffassung widerlegt zu haben, dass das russische Bauerntum als Sankt Christophorus das Kindlein des modernen Kapitalismus durch den wild schäumenden Strom der proletarischen Revolution in der Sowjetrepublik tragen werde. Was aber den unversöhnlichen Klassengegensatz zwischen Proletarier und Kapitalisten anbelangt, so wird er sich im Arbeiter- und Bauernstaat anders auswirken, als das sehr radikal scheinende, aber nur simplizistische Entweder — Oder annimmt, das Paul Levi formuliert hat.

Sicherlich! Der englische, deutsche oder amerikanische Kapitalist erwirbt nicht eine Konzession von der Sowjetregierung, damit das erhebende Gefühl ihm den Busen schwelle, an dem Wiederaufbau der russischen Wirtschaft und damit der Weltwirtschaft mitgeholfen zu haben. Er würde sich vor der Absicht bekreuzigen, die wirtschaftliche Grundlage für den Kommunismus zu schaffen. Er sucht Gewinn, Profit, möglichst fetten Profit, unter vorteilhaften Umständen. Der Kapitalist muss auch Mehrwert akkumulieren können. Nicht weil er sich als “Träger des Fortschritts” berufen fühlt, die Produktion auf höhere Stufe zu heben und damit die Kultur zu fördern, vielmehr weil er die Aussicht haben will auf künftigen höheren Gewinn. Der Unternehmer irgendeines kapitalistischen “Vaterlandes”, der auf russischem Boden Schatzgräber sein will, muss jedoch einen Pakt mit dem Teufel schließen, mit der bolschewistischen Regierung. Und diese liefert ihm die Proletarier nicht zu rücksichtsloser, vernichtender Profitpresserei aus. Der kapitalistischen Raubgier sind durch die Arbeiterschutzgesetze des Sowjetstaates Schranken gezogen, und der Unternehmer ist ihnen unterworfen.

Kein Zweifel: Der Kapitalist wird versuchen, die Gesetze nicht zu respektieren, sich um ihre Schranken herumzuschwindeln. Die Sowjetorgane sind da und die Gewerkschaften, um ihm dabei das Handwerk zu legen. Die Gewerkschaften werden nicht nur für die Durchführung der Arbeiterschutzgesetze, sondern auch für andere proletarische Forderungen Organe des schärfsten proletarischen Klassenkampfes bleiben müssen. Sie können das sein, weit über das Maß der Gewerkschaften in kapitalistischen Ländern hinaus. Hinter ihnen steht in Konfliktsfällen mit dem Unternehmertum die Macht des Arbeiter- und Bauernstaats, der — wenngleich er mit dem Kapitalismus vorübergehend paktieren muss — wesensverschieden vom Bourgeoisstaat eine politische Organisation ist für die Befreiung der Arbeit und nicht für den Schutz des kapitalistischen Profits und der kapitalistischen Ausbeutungsgewalt. Deshalb darf er auch die Naturschätze des Landes den Kapitalisten wohl zur Ausnutzung, nicht aber zum verwüstenden Raubbau überlassen. Das Erbe des Proletariats muss erhalten werden. Gebieterischer als jede herrschende bürgerliche Demokratie verweist die Sowjetrepublik die Kapitalisten für die Steigerung ihres Gewinns auf die wirtschaftlichste Ausnutzung der Rohstoffe, die zweckmäßige Organisierung des Betriebs, die Vervollkommnung der Produktionsmittel und Arbeitsprozesse. Es ist eine bekannte Tatsache, dass ungehemmte, zügellose Ausbeutung der Proletarier und fortschrittliche Gestaltung des Produktionsapparats in umgekehrtem Verhältnis zu einander stehen. Indem Sowjetrussland seine Arbeiter schützt, wird es mit dem Stachel der “persönlichen Interessiertheit” die Kapitalisten zu Wirtschaftsfortschritten zwingen.

Kein konzessions- und regierungsverseuchter Bolschewiki wird Paul Levi die Elementarweisheit bestreiten, dass sogar die größten Errungenschaften einer vorzüglichen Arbeiterschutzgesetzgebung und einer machtvollen, gesicherten Gewerkschaftsbewegung auf kapitalistischer Wirtschaftsgrundlage keineswegs gleichwertig sind mit der vollen Befreiung der Proletarier aus der Tretmühle des Kapitalismus. Aber auch Paul Levi wird zugeben, dass diese Errungenschaften höhere Bedeutung haben als die nicht zu verschmähende Linderung harten proletarischen Klassenloses. Dass sie die Arbeiter auf eine höhere Stufe des Leistungsvermögens und vor allem des Kampfeswillens und der Kampfestüchtigkeit heben. Denn wo kapitalistische Wirtschaftsgrundlage ist, werden um die Errungenschaften nicht die milden Zephire einer unmöglichen Klassenharmonie säuseln, vielmehr die rauen Stürme des Klassenkampfes für und für sausen, den der Proletarier Brust an Brust mit dem ausbeutenden Kapitalisten in jedem Betrieb ausfechten muss. Wobei eines wesentlich ist: ob der Proletarier in einem Bourgeoisstaat ringt, der seinen Kampf offen mit Gewalt oder heimlich mit Tücke zu hindern sucht, oder aber in einem Sowjetstaat, der ihm günstigste Kampfesmöglichkeilen sichert. Paul Levis drohendes “Entweder — oder” und sein dramatisch gesteigertes “Und dann?” sind zwar gradlinige, aber haltlose Gedankenkonstruktionen. Die russischen Gewerkschaften werden sie im Bunde mit den Sowjets bei Seite schieben, indem sie durch Aufklärung, Organisierung und kraftvollsten Klassenkampf die Arbeiter vorbereiten, der kapitalistischen Wirtschaft den Kehraus aufzuspielen.

Die historisch gegebenen Umstände, in denen die Konzessionspolitik wurzelt, stellen die regierenden Bolschewiki vor Konflikte, die sicher schwerer und tief greifender sind, als die Entscheidungen zwischen Proletarierrecht und Kapitalistenanspruch. Der Sowjetstaat ist zum Unternehmer größten Stils geworden. Er hat die Großbetriebe wichtigster Wirtschaftszweige zu organisieren, zu verwalten und zu leiten. Er soll das in der Richtung tun auf ihre Umwälzung aus kapitalistischem Profitunternehmen in kommunistische Bedarfswirtschaften. Auch der Arbeiterstaat muss auf Mehrwerterzeugung durch die Schaffenden bedacht sein. Er soll technische und soziale Musterbetriebe hinstellen, die größte Produktivität mit kulturwürdigsten Arbeitsbedingungen vereinigen. Er soll von dem Ertrag die Kosten seines Haushalts bestreiten, großzügigste soziale Einrichtungen unterhalten und die Akkumulation für die Zwecke höherer gesellschaftlicher Wirtschaftsführung und die freie, schöne Lebensgestaltung aller sicherstellen. Er muss dabei mit der Konkurrenz und Feindschaft der Kapitalisten im Lande und jenseits der Grenzen rechnen. Er soll alle Anforderungen erfüllen als Teile der Riesenaufgabe, die ihm die proletarische Revolution zugewiesen hat: die gesellschaftliche Wirtschaft auf neuer, auf kommunistischer Grundlage zu organisieren.

Die russische Sowjetregierung findet für die Erfüllung dieser Riesenaufgabe vor: einen leistungsschwachen, zerschlagenen Produktionsapparat; höchste Erschwerung seines Funktionierens durch die zerstörten weltwirtschaftlichen Beziehungen und acht Jahre Krieg und Bürgerkrieg; ein wenig zahlreiches, junges Proletariat, das, noch stark mit den Traditionen und Gepflogenheiten vorkapitalistischer Produktion behaftet, sich nicht leicht von heute auf morgen der Eingliederung in den modernen mechanischen Großbetrieb und dessen Erfordernissen anpasst. Man vergesse nicht, dass das Proletariat der alten kapitalistischen Länder viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte lang durch die erbarmungslose Schule des Kapitalismus gegangen ist, bis es seine heutige Arbeitsdisziplin und Arbeitsintensivität erlangt hat. Diese Schule begann mit der Blut- und Arbeitshausgesetzgebung Englands, Geschlechter sind in ihr an Leib und Seele zerschlagen zu Grunde gegangen, und sie “erzieht” noch heute mit der Hungerpeitsche. Und trotzdem haben unter den Auswirkungen des Krieges die Arbeiter Westeuropas viel von ihren Produktionstugenden verloren.

Die “tatarisch-sozialistische” Sowjetrepublik kann die Arbeitermassen natürlich nicht mit den “humanen” Methoden kapitalistischer Ausbeutungswirtschaft für die neue Produktionsweise heranbilden. Diese Arbeitermassen haben nach dem Elend des imperialistischen Krieges fast vier Jahre lang in opferreichstem Heroismus für ihre Freiheit Unsägliches geduldet und geleistet, Entbehrungen und Hunger zerfleischen sie, ihre Kraft ist herabgemindert. Die regierenden Bolschewiki können weder mit der weitestgehenden “Demokratie”, noch mit der strammsten “Parteidisziplin” über Nacht ein Heer von Persönlichkeiten aus der Erde stampfen, die es verstehen, durch Organisation und Leitung in den nationalisierten Betrieben die höchste Entfaltung der sachlichen und menschlichen Produktivkräfte herbeizuführen. Dazu kommt, dass im Reiche der proletarischen Revolution der Widerstreit zwischen der gelösten alten und den sich mählich herausbildenden neuen Produktions- und Gesellschaftsverhältnissen täglich Probleme zeitigt, die Lösung dringend heischen. So das Verhältnis von Betriebsbeamten und Arbeitern, von Hand- und Kopfarbeit etc. etc.

Der flüchtig umrissene Stand der Dinge ist reich, überreich an Anlässen, wo die Sowjetregierung und ihre Organe, die die dauernden Interessen des Proletariats als Klasse zu vertreten haben, zusammenprallen mit den Wünschen, Forderungen, Interessen einzelner Arbeiter, einzelner Arbeitergruppen. Er macht umfassende, energischste Betätigung der Gewerkschaften zur Notwendigkeit. Als proletarische Klassenkampforgane im Ringen mit den Kapitalisten bedürfen die Gewerkschaften der Stütze des Sowjetstaats. Bei der Organisierung und Verwaltung der gesellschaftlichen Produktion kann dieser die Stütze der Gewerkschaften nicht entbehren als Organen des Wirtschaftsaufbaus, der Wirtschaftsumstellung und der beruflichen wie sozialen Erziehung der Arbeitermassen. Was “Räte-Russland” als “Unternehmer”, als Wirtschaftsorganisator leistet, wie es dabei die noch wirksamen Gegensätze löst, das wird von erheblichem Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen in den konzessionierten oder verpachteten kapitalistischen Unternehmungen sein. Seine eigenen einschlägigen Leistungen steigern seine Macht über sie. Es fällt auf, dass Paul Levi auch nicht andeutungsweise die Aufgaben berührt hat, die von der proletarischen Revolution in dieser Beziehung gestellt worden sind, und auf die Weise, wie die Bolschewiki sie zu bewältigen trachten. Die Partei- und Sowjetkongresse, die Beratungen der Sowjetorgane und eine umfangreiche Literatur zeigen, welche überragende Bedeutung sie dieser Seite ihrer Betätigung beimessen. Am schärfsten kommt das in der unerbittlichen Kritik an den eigenen Leistungen zum Ausdruck. Die Aufgaben der Wirtschaft schlagen um in Probleme der bolschewistischen Politik, der bolschewistischen Partei. Die Beurteilung dieser hat die Auseinandersetzung mit jenen zur Voraussetzung.

Doch zurück von dem, über das Paul Levi schweigt, zu dem, was er darlegt. Er spricht es nicht offen aus, aber es klingt als Unterton seiner Kritik deutlich hervor, dass die bolschewistische Politik nicht nur Konzessionen an den Kapitalismus macht, sondern letzten Endes selbst kapitalistisch und bürgerlich geworden ist, durch und durch opportunistisch, was auf das Gleiche hinausläuft. Nachdem sie das A der Konzessionen ausgesprochen hat, wird sie bei Kämpfen zwischen Proletariern und Kapitalisten zwangsläufig das B der Parteinahme für diese sagen, ihm wird zur Beschönigung des Verrats an den Arbeitern das C der Predigt von der Klassenaussöhnung folgen, und so werden die Bolschewiki unaufhaltsam das Alphabet opportunistischer, konterrevolutionärer Politik bis zum Z herunterbuchstabieren. “Die Partei ist Teil des sozialen Seins, und die Partei, die auch nur ein Lustrum lang die Politik der Konzessionen getragen hat, wird den Geist dieser Politik widerspiegeln, nicht den der Revolution.”

Mit dem Blick für die historischen Ursachen der bolschewistischen neuen Politik hat Paul Levi auch den für ihr unerschütterliches Festhalten an ihrem großen historischen Ziel verloren. Er unterstellt den Bolschewiki, dass ihnen das Mittel zum Zweck, Selbstzweck geworden sei: die Behauptung der politischen Macht. Jedoch Zweck und Mittel lassen sich in diesem Falle schlechterdings nicht trennen. Das Weiterleben und Fortschreiten der proletarischen Revolution in Sowjetrussland steht auf dem Spiel und hängt von der Behauptung der politischen Macht durch die Klassenpartei des Proletariats ab. Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und die Aufrichtung seiner Diktatur ist nur der Anfang dieser Revolution. Er ist der entscheidende Sieg, aber nicht der Endsieg über den Kapitalismus. Dieser ist erst erstritten, wenn die wirtschaftlichen Grundmauern der kommunistischen Ordnung soweit emporgestiegen und so fest gefügt sind, dass kein Rütteln und Stürmen der kapitalistischen Gewalten sie auseinander zu reißen und umzustürzen vermag. Für den Aufbau dieser Ordnung ist nicht der weiseste und schönste Plan maßgebend, sondern der Besitz der politischen Macht und der Wille, sie im Dienste des Kommunismus mit höchster Energie zu gebrauchen. Deutschland und Sowjetrussland sind die klassischen geschichtlichen Schulbeispiele dafür.

In Deutschland: größte Reife der objektiven Voraussetzungen für den proletarischen Umsturz, auf Seiten des Proletariats, große Reife für die Übernahme der gesellschaftlichen Produktion, jedoch im Gegensatz dazu Unreife des revolutionären Tatwillens, die politische Macht zu erobern und rücksichtslos anzuwenden. Als der militärische Zusammenbruch des deutschen Imperialismus die politische Macht in die Hand des Proletariats gibt, wirft es sie der Bourgeoisie in den Schoß. Das Ergebnis solcher Torheit? Sozialisierungs-Kommissionen, die sich seit drei Jahren mühen, Bedenken und Ängste gegen die Sozialisierung der gesellschaftlichen Wirtschaft zu schwitzen; für die “sozialisierungsreifsten” Industrien detaillierte Sozialisierungspläne, die auch für kluge Kapitalisten sehr annehmbar wären; die “Stinnesierung” der Reichseisenbahnen, Post etc. vor den Toren; der Achtstundentag, das Streikrecht in äußerster Gefahr. In Russland dagegen: weiteste Spannung zwischen der Wirtschaftsentwicklung, der sozialen Struktur und den materiellen Vorbedingungen der “Sozialisierung”; geringe Schulung eines kleinen lndustrieproletariats für die moderne Großproduktion, im Widerspruch dazu die Reife des Willens und des Opfermuts dieses Proletariats zur geschichtlichen Tat, der Staatseroberung und Aufrichtung der Diktatur, die es unter Führung seiner zieltreuen, entschlossenen Klassenpartei ohne Wanken und Schwanken behauptet und verteidigt. Das Resultat? Die Überführung des Grund und Bodens und seiner Naturschätze in Gesellschaftseigentum; trotz Konzessionen die Nationalisierung der Großindustrie; das Monopol des Außenhandels; eine durchgreifende Arbeiterschutzgesetzgebung; Aufblühen und Macht der Gewerkschaften. Haben diese nackten Tatsachen Paul Levi nicht gesagt, dass Paris eine Messe wert ist?

Zwar musste die Sowjetmacht in der Wirtschaft mit dem Kapitalismus paktieren, aber nicht um sich mit ihm auszusöhnen, sondern um sich stärker, siegessicherer für seine Überwindung zu rüsten. Er wird nicht Sowjetrusslands Herr sein, sondern sein Diener und Helfer. Freilich reckt sich vor der jungen Räterepublik die Frage von weltgeschichtlichem Masse empor: Wird das kühne Unterfangen gelingen, die Entwicklung des Kapitalismus auf Sowjetrusslands Boden in den Grenzen zu halten, dass sie dem Kommunismus entgegenführt und ihm nicht den Weg verbaut? Lassen sich die fortschrittlichen, kulturellen Seiten des Kapitalismus von seiner reaktionären, kulturfeindlichen Seite trennen? Wird es den Bolschewiki nicht schließlich gehen wie Goethes “Zauberlehrling”, der die Geister nicht wieder loswird, die er rief? Die Antwort darauf — soweit sie vom Pulsschlag des geschichtlichen Lebens in Sowjetrussland selbst abhängt — ist Bejahung der proletarischen Revolutionskraft, vorausgesetzt, dass die politische Macht des russischen Proletariats erhalten bleibt, sich festigt und wächst. Diese Macht verkörpert sich eben in der revolutionären Klassenpartei des Proletariats, in der Partei der Bolschewiki. Sie hat ihre tragende, breite Grundlage in den Sowjets. Beide sind zusammen ein geschichtliches Leben, heilig, glühendes Leben der proletarischen Revolution.

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