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IX. Sowjetmacht, proletarische Parteidiktatur und Klassenherrschaft

Verbürgt die proletarische Staatsform proletarische Klassenherrschaft? / Das Verhältnis zwischen der revolutionären proletarischen Klassenpartei und den Massen als entscheidende Kraft für den Inhalt der proletarischen Staatsform / Der Gegensatz zwischen dem jakobinisch-blanquistischen Zentralismus der Diktatur von oben und dem revolutionären “Selbstzentralismus” aktivster Massen / Die vermeintliche “Mechanisierung” des Partei- und Massenlebens durch die bolschewistische Überspannung der zentralistischen Organisationsform und ihre verwüstenden Folgen / Der Kronstädter Aufstand von 1921 kein Zeugnis dafür, dass die Sowjetregierung ihre proletarische Klassengrundlage verloren hat / Das Verhältnis zwischen dem russischen Industrieproletariat und der bolschewistischen Partei / Die geschichtliche Riesenaufgabe des revolutionären Proletariats und seiner führenden Klassenpartei / Gründe des Abstands zwischen der bolschewistischen Partei und einem Teil des Industrieproletariats

Paul Levi ist der Ansicht, dass dieses Leben auseinander gerissen und in den Trümmern der einstigen stolzen Einheit im Verglühen, ja schon erloschen sei. Er schätzt den Wert der Sowjetmacht so niedrig ein, dass ihm ihre Erhaltung um den Preis der “neuen Politik” viel zu teuer erkauft ist. Die Taktik der Bolschewiki hat seiner Meinung nach die Räteordnung Russlands zu einem leeren Namen gemacht, hat ihren geschichtlichen Sinn für das Proletariat zu Schall und Rauch verflüchtigt. Sein Urteil knüpft an Lenins Polemik an gegen Kautsky über die proletarische Diktatur und den politischen und historischen Unterschied von Regierungsform und Staatsform. Paul Levi pflichtet Lenin darin bei, dass die Regierungsform von untergeordneter Bedeutung ist. “Monarchie oder Republik sind nur Verkleidungen desselben Wesens, der Diktatur der Bourgeoisie. Anders aber mit der Staatsform. Aufgabe der Revolution ist, die bürgerliche Staatsmaschinerie zu zerschlagen und an die Stelle der bürgerlichen Staatsform die proletarische Staatsform zu setzen.”

Diesen Gedanken spinnt Paul Levi weiter und wirft mit logischer Konsequenz die Frage auf: “gibt es eine Form von proletarischem Staat, der allein durch seine Existenz als Form die Herrschaft der Proletarier sicherstellt oder ist auch unter der Decke der proletarischen Form des Staates eine Wandlung möglich, dergestalt, dass nicht mehr proletarische, sondern andere Kräfte entscheidend werden?” Paul Levi verneint mit Recht diese Frage und schlussfolgert aus seiner Verneinung, dass die Sowjetordnung zwar die günstigste Staatsform für die Herrschaft des Proletariats sei, aber als bloße Form keine Bürgschaft dafür, dass diese Herrschaft tatsächlich bestehe. Die proletarische Staatsform vertrage sich ebenso wie die bürgerliche mit den verschiedensten Regierungsformen. Auch unter der Decke des proletarischen Sowjetstaats könnten politische, geschichtliche Wandlungen erfolgen, die den Händen des Proletariats die tatsächliche Ausübung der politischen Macht entwinden. Selbst unter der Sowjetordnung sei es möglich, dass sich die Diktatur der Bourgeoisie, der Bauern oder auch die Diktatur einer Partei, einer Parteibürokratie, einer Einzelpersönlichkeit über das Proletariat erhebe.

Die logische Folgerichtigkeit dieses Theorems als Abstraktion in allen Ehren. Es ist eine Binsenwahrheit, dass keine gesellschaftliche Organisationsform, keine Staatsform durch ihre “bloße Existenz als Form” eine sozial entscheidende Kraft ist, dass eine jede solche Form erst durch ihren politischen, geschichtlichen Inhalt Leben und Wert empfängt, Fleisch und Blut wird. Die revolutionäre Bedeutung der Sowjetordnung hängt von dem gesellschaftsumwälzenden Gebrauch ab, den das Proletariat von ihr macht und als der Geschichte ehernes Gebot machen muss. Paul Levis Argumentation wird so unbestritten bleiben wie der Kettenschluss: “Alle Menschen sind sterblich. Lenin und Trotzki sind Menschen. Ergo sind Lenin und Trotzki sterblich.” Es geht jedoch nicht um den Schemen der theoretischen Abstraktion für Paul Levi. Die theoretische Abstraktion ist die straff gespannte Bogensehne, von der der Schuss den vergifteten Pfeil seiner Beurteilung der bolschewistischen Politik abschnellt. Sie hat dazu geführt, — so sagt Paul Levi das — dass unter der Decke der Sowjetordnung das Proletariat von der diktierenden zur “diktierten” Klasse herabgesunken ist. Die Herrschaft der Bolschewiki selbst, als der revolutionären Klassenpartei des Proletariats, steht in der Folge dieser Politik in der Luft. Sie kann sich nur noch halten als Gewaltherrschaft einer untüchtigen und zum Teil korrupten Parteibürokratie mittels eines ziel- und sinnlosen Terrors und durch den Verzicht auf ihr grundsätzliches Ideal: den Kommunismus.

Die Bolschewiki haben nach Paul Levis Auffassung dank ihrer Agrarpolitik “im Bauerntum ihre frühere Stütze, die ärmeren Bauern verloren; die waren alle mittlere und Gegner jeder kommunistischen Politik geworden.” Sie haben aber auch, “das ergibt die Debatte auf ihrem 10. Parteitag, im Proletariat die Stütze verloren.” Sie waren schon im Februar 1921 “ohne Klassenbasis und hielten sich dank der Kraft ihrer Organisation — eine Kraft, die nicht lange halten kann.” Dieser Stand der Dinge zwang sie zur Kapitulation vor dem Kapitalismus. Außer der Agrarpolitik macht Paul Levi die grundsätzliche Einstellung der Bolschewiki zu dem Problem des Verhältnisses zwischen revolutionärer Partei und proletarischen Massen für die “objektiv konterrevolutionäre” Entwicklung verantwortlich. Diese Einstellung ist nach seiner Meinung noch genau die gleiche, wie sie “vor bald zwanzig Jahren der Gegenstand einer rein literarischen Konterverse zwischen Lenin und Rosa Luxemburg war; was damals erschien in dem geringen Gewande eines Streites um die Organisationsform, das hat heute seine Probe zu bestehen gehabt im großen weltgeschichtlichen Maßstab.”

Rosa Luxemburg hatte sich damals gegen Lenins Auffassung gewendet, “der revolutionäre Sozialdemokrat sei doch nichts anderes, als ‘der mit der Organisation des klassenbewussten Proletariats unzertrennlich verbundene Jakobiner’.”1 Sie stellte ihr entgegen, dass vom Standpunkt der formalen Aufgaben einer revolutionären proletarischen Klassenpartei die straffste Zentralisation der Organisation von vornherein als unerlässliche Bedingung erscheine für Kampffähigkeit und Tatkraft. Allein viel wichtiger als die formalen Erfordernisse der Kampforganisation seien die spezifisch historischen Bedingungen des proletarischen Klassenkampfes. “Die sozialistische Bewegung ist die erste in der Geschichte der Klassengesellschaften, die in allen ihren Momenten, in ihrem ganzen Verlauf auf die Organisation und die selbständige direkte Aktion der Massen berechnet ist.”2 Die historisch gegebenen Bedingungen des proletarischen Emanzipationskampfes schließen die einfache Übertragung des jakobinisch-blanquistischen Zentralismus auf die Organisation der sozialistischen Parteien aus. Sie bewirken “eine völlige Umwertung der Organisationsbegriffe, ein ganz neuer Inhalt für den Begriff des Zentralismus, eine ganz neue Auffassung von dem wechselseitigen Verhältnis der Organisation und des Kampfes ist gegeben. …

Grundverschieden [von den Bedingungen des “verschwörerischen Zentralismus” - CZ] sind die Bedingungen der sozialdemokratischen Aktion. Diese wächst historisch aus dem elementaren Klassenkampfe heraus. Sie bewegt sich dabei in dem dialektischen Widerspruch, dass hier die proletarische Armee sich erst im Kampfe selbst rekrutiert und erst im Kampfe auch über die Aufgaben des Kampfes klar wird. Organisation, Aufklärung und Kampf sind hier nicht getrennte und auch zeitlich gesonderte Momente, wie bei einer blanquistischen Bewegung, sondern sie sind nur verschiedene Seiten desselben Prozesses. Einerseits gibt es — abgesehen von allgemeinen Grundsätzen des Kampfes — keine fertige, im voraus festgesetzte, detaillierte Kampftaktik, in die die sozialdemokratische Mitgliedschaft von einem Zentralkomitee eingedrillt werden könnte. Andererseits bedingt der die Organisation schaffende Prozess des Kampfes ein beständiges Fluktuieren der Einflusssphäre der Sozialdemokratie … Er (der sozialdemokratische Zentralismus) kann nichts anderes als die gebieterische Zusammenfassung des Willens der aufgeklärten und kämpfenden Vorhut der Arbeiterschaft ihren einzelnen Gruppen und Individuen gegenüber sein, es ist dies sozusagen ein “Selbstzentralismus” der führenden Schicht des Proletariats, ihre Majoritätsherrschaft innerhalb ihrer eigenen Parteiorganisation.”3

Rosa Luxemburgs allgemeine grundsätzliche Einstellung zu dem Organisationsproblem von 1904 nimmt Paul Levi schematisch und mechanisch als Wertmesser für die bolschewistische Politik seit der proletarischen Revolution. Er begeht dabei den gleichen Fehler, den Rosa Luxemburg 1904 an Lenins Standpunkt rügte. Er vergisst die “spezifisch historischen Bedingungen des proletarischen Kampfes” in Russland und ihre bestimmte Auswirkung auf die Organisation und Politik der Bolschewiki. Gleich einem Hypnotisierten starrt er auf eine Karikatur der bolschewistischen Partei und ihrer Politik, wie es sie ad usum delphini seiner Kritik eigens geschaffen hat. Natürlich ist es ein Leichtes, aus dem Handgelenk spielerisch mit dieser Karikatur fertig zu werden und dem schaudernden internationalen Proletariat zuzurufen: “In die Wolfsschlucht mit dem Scheusal.” Die Bolschewiki haben — dies der Kern von Paul Levis Ausführungen — in Überspannung und dogmenhafter Erstarrung des zentralistischen Organisationsbegriffs sich zu einer Partei entwickelt, die nicht in lebendigster Wechselwirkung innerhalb der Massen steht und sie im höchsten historischen Sinn in revolutionärer Aktivität hält, sondern die statt dessen durch ihre Bürokratie über die Massen hinweg herrscht und regiert. So wenig wie ihre Organisation, verkörpert ihre Politik zusammengeballten proletarischen Massenwillen und Massenbetätigung. Die Bolschewiki scheiden die Träger der revolutionären Bewegung in drei Stufen: “1. die Masse der Ausgebeuteten und Unterdrückten, d. h. die Masse der Industrieproletarier und (damaligen 1919) Bauern; 2. der Vortrupp der Masse der Ausgebeuteten und Unterdrückten, d. h. das städtische Industrieproletariat; 3. die Vorhut des lndustrieproletariats, d. h. die Kommunisten.”

Jede der drei Stufen hat ihren besonderen Aufgabenkreis und eine wesentliche Aufgabe ist, die Verbindung zwischen diesen drei Kreisen aufrecht zu erhalten … 1. Aufgabe der Vorhut, d. h. der Kommunisten ist es, sich durch Diszipliniertheit und Zielbewusstsein als die zuverlässigsten Führer des Proletariats zu erweisen. 2. Aufgabe des Vortrupps, d. h. des Industrieproletariats ist es, den Apparat des proletarischen Staates technisch in Gang zu setzen, in Gang zu halten und zu kontrollieren. … 3. Die Aufgabe der breiten Massen der Unterdrückten ist es … “zur Beteiligung an der Verwaltung” herangezogen zu werden oder “durch ihre Erfahrungen zu lernen‚ in der disziplinierten und zielbewussten Avantgarde (Vorhut des Proletariats) ihre zuverlässigen Führer zu sehen.”*

Das Verbindungsmittel zwischen den drei Stufen der Revolutionsträger und den drei Aufgabenkreisen sollten sein und waren die Sowjets. Sie hatten “breite Massen zu wecken und zu historischem Schaffen zu heben”. Jedoch: “die Sowjets haben diese ihre Rolle ausgespielt; die Sowjets sind zersprengt und zwar zersprengt dadurch, dass die Klassen, die sie ehedem gemeinsam verbanden, Bauern und Arbeiter, heute nichts Gemeinsames mehr haben. … Die organisatorische Basis der Diktatur verengert sich.”

Doch es ist nicht nur das. “Für die Bolschewiki ist die proletarische Revolution ein Vorgang, der sich in dem System Vorhut, Vortrupp und Masse abspielt.” Der höhere Kreis wirkt dabei auf den niederen lediglich mit “mechanischen Mitteln”. Nichts ist bezeichnender als das: als den Bolschewiki im Frühjahr 1921 der Zusammenhang mit den proletarischen Massen verloren ging, den früher das Sowjetsystem hergestellt hatte, besannen sie sich auf eine Organisationsform und fanden, dass jetzt die Gewerkschaften der “Hebel” seien, mittels dessen die parteilosen Massen herangezogen werden müssten. Ihnen fehlt das Verständnis dafür, dass auch die proletarische Revolution ein Teil des lebendigen Werdeprozesses des Alls ist, in dem es “keine Wände und Scheidungen” gibt, “in dem weder Hebel noch Sauerstoffbehälter das Walten der Natur ersetzen können.” Gewiss ist für die Menschheitsentwicklung “der große Kampf, der dem Einzelnen, der den Geschlechtern, der den Ständen, der den Klassen obliegt, die Form des Werdens”, und “der lebendigste Kampf ist die lebendigste Form des Werdens.” Allein für die engbrüstigen Bolschewiki treten der Polizeibüttel und der Henker an die Stelle des stolzen, kühnen, revolutionären Kämpfers, der sogar im Bürgerkrieg “im freien Spiel der Kräfte” sich mit dem Gegner mist. Polizeizwang und Terror zur Vernichtung der Bourgeoisie, eine Vernichtung, die da sein muss “das Ergebnis der sozialen Umschichtung, das die Revolution bedeutet.” Polizeizwang und Terror zur Überwindung der reformistischen Sozialisten, “ihre Verbannung von der Oberfläche als Parteien, als Strömungen”, die doch von den Revolutionären nur innerlich überwunden werden können, “wenn sie die Fehler frei bekämpfen.” Kurzum: die Revolution als Mechanik, mechanischer Zwang die Zuversicht, das ist das entscheidende, historische Glaubensbekenntnis der Bolschewiki, wie Paul Levi “es auffasst”.

Und die Früchte dieses Glaubensbekenntnisses, wie er sie reifen sah, nachdem die bolschewistische Politik die “Demokratie” erschlagen? “Die Sowjets waren tot. … Ausgebrannte Asche waren sie. Und die Gewerkschaften sollen als notdürftiger Ersatz gelten, weil sie die einzige Organisation sind, in denen überhaupt noch größere Massen von “Parteilosen” vorhanden sind. Parteilose? Gibt es einen schwereren Vorwurf als den, dass in dem Proletariat, das als Ieuchtendes Vorbild vor den Proletariern stand seit 1905 und stehen wird für alle Zeiten, nach vier Jahren proletarischen Herrschaft die übergroße Masse “parteilos” ist? Sind sie wirklich interesselos geworden? Stehen sie gleichgültig und gesenkten Hauptes daneben, wenn um ihr Leben gespielt wird, das sie so oft in die Schanze geschlagen haben? Sind sie gleichgültig geworden oder scheuen sie es zu sagen, was sie denken? Hüten sie ihre Zunge oder ist ihnen die Revolution zum Ekel geworden, dass sie “parteilos” sind? Ist nicht ein jeder von ihnen ein lebendiger Vorwurf? Wie dem auch sei. Die russische Revolution und ihre führende Partei hat nicht verstanden, diese Massen mit dem Geschick der Revolution zu verknüpfen. Sie stehen bei Seite und nicht in der Reihe der Kämpfer. Das öffentliche Leben ist tot. Der Geist der Demokratie, der allein den Odem der Massen bildet, ist gestorben. Eine straff zentralisierte Partei, ein glänzendes Zentralkomitee, eine schlechte Bürokratie schwebt über den Wassern. Drunten aber ist alles wüst und leer. Und so hat der Stoß des Bauerntums nicht ein starkes, lebendiges, reges, begeistertes Proletariat gefunden. Es fand eine Vorhut, die hinter sich — kein Gros hatte. Da war das Schicksal der Vorhut entschieden.”

Die Diktatur des Proletariats “ist die eroberte Staatsgewalt dann und so lange, als der Wille, die Kraft, die Begeisterung, die Siegeszuversicht der proletarischen Klasse hinter ihr steht. Sie ist Zustand und Staatsform zumal, das eine ausgedrückt durch das andere. Sie ist Kern und Schale zugleich, und wo der Kern und wo die Schale schwinden, da ist die “Diktatur des Proletariats” dahin.” Paul Levi glaubt, dass “der belebende Hauch diesen Siegeszuversicht und des Willens der proletarischen Klasse würde auch viele von den Hindernissen nehmen lehren, an denen die russische Revolution so blutende Wunden davon getragen hat. Denn letzten Endes besteht doch das Leben eines großen Volkes nicht nur aus arithmetischen Größen und mechanisch zu berechnenden Kräften.” Die proletarische Revolution bedarf der Siegeszuversicht, des aushaltenden, begeisterten Willens der ausgebeuteten und unterdrückten Massen. Das ist die “Autorität”, das ist “der Schrecken der Revolution”, vor dem die Feinde zittern. “Wo aber diese gewaltige Kraft der Klasse erlischt, da müssen auf die Dauer die Ersatzmittel versagen, die Konzession nach der einen, die Organisation nach der anderen Seite, die Polizeimaßnahmen nach beiden.”

Im Anschluss an Rosa Luxemburgs Kritik von 1918 habe ich mich bereits weiter oben mit jener grundsätzlichen Einstellung zu den aufgeworfenen Revolutionsproblemen auseinandergesetzt, die Paul Levis eigene Beurteilung der bolschewistischen Politik stützen und decken soll. Ich beschränke mich daher darauf, den Wert, die Berechtigung dieser Beurteilung selbst in einigen besonders hervorstechenden Fällen zu beleuchten. Nach dem Ankläger und Richter der bolschewistischen Politik ist der Kronstädter Aufstand vom Jahre 1921 der schlüssigste Beweis dafür, dass eine breite Kluft sich zwischen den Bolschewiki und den proletarischen Massen aufzutun begann. Er schreibt darüber: “Es ist eine höchst einfältige Geschichtserzählung, mit der ein paar “Kundige” in Deutschland herumhausieren gingen, die den Kronstädter Aufstand als das Machwerk von ein paar Zarenoffizieren mit französischen Franken oder von ein paar “Menschewisten” hinstellen. Es kann sein, dass hinter den Kronstädter Matrosen ein paar zaristische Generäle herumoperierten — wir wissen es nicht. Es kann sein, dass im Kronstädter Aufstand “menschewistische Parolen eine Rolle spielten — wir wissen es nicht. Wir wissen nur eines gewiss, dass weder zaristische Generäle noch französische Franken, noch menschewistische Parolen eine hinreichende Erklärung dafür sind, wie es möglich ist, dass treueste Söhne der Revolution,* ergebenste Anhänger der Bolschewiki, die sie bislang waren, die Elite der revolutionären Kämpfer, in hundert Schlachten bewährt, aufständisch wurden gegen die, denen sie bisher zugetan waren. Diese Tatsache kann nur erklärt werden mit einer tiefen Krise innerhalb des Proletariats selbst, mit einem schweren Konflikt, der zwischen Vorhut und Vortrupp, ja vielleicht innerhalb der Vorhut selbst entstanden ist.”

Die gegebene Darstellung ist “Wahrheit und Dichtung”, wie wohl jede Autobiographie, und die “Einleitung” zur Nachlassbroschüre ist sicher unbewusst und ungewollt ein Stück Autobiographie. Diese Darstellung ist außerordentlich charakteristisch dafür, wie Paul Levi Geschichte schreibt und Gerichtstag hält. Es liegen dokumentarische Beweise dafür vor, dass französische Franken, zaristische Offiziere und sozialrevolutionäre wie “menschewistische” Parolen einen großen Anteil an dem Kronstädter Aufstand gehabt haben. Trotzdem weiß Paul Levi nicht, ob das stimmt. Jedoch der zweifelnde Thomas wird zum raschen Gläubigen, sobald er seine kritischen Finger in Wundmale legen kann, die angeblich die bolschewistische Politik der russischen Revolution geschlagen hat. Er weiß vor allem nur “eines gewiss”, dass “treueste Söhne der Revolution, ergebenste Anhänger der Bolschewiki” aufständisch waren. Er schweigt von den Losungen der Aufständischen — Abschaffung der Kontingente, freier Handel, “Demokratie” — Losungen, die darauf hindeuteten, dass nicht “treueste Söhne der Revolution” sich aufgelehnt hatten. Er schweigt davon, dass die Kronstädter Marinetruppen, die hervorragendsten Träger des Aufstandes, ihrer sozialen Zusammensetzung nach einen wesentlichen Wandel erfahren hatten. Sie bestanden nicht mehr aus den “treuesten Söhnen der Revolution”, die in Petersburg die ersten siegreichen Schlachten des Proletariats todesmutig durchgekämpft hatten. Diese Helden waren im stürmischen Ringen für die Freiheit an allen Fronten, auf allen Schlachtfeldern verblutet, oder sie standen noch, eine zuverlässige, revolutionäre Elite, kampfbereit als Führer bei der “Roten Armee”. Sie hatten sich überwiegend aus Metallarbeitern und anderen städtischen Proletariern der baltischen Gebiete des revolutionären Russland rekrutiert. In Folge der Abtretung der baltischen Randstaaten sah sich die Sowjetregierung gezwungen, als “seetüchtige” Marinesoldaten die Bauernsöhne von den Ufern des Don heranzuziehen. Der veränderten sozialen Herkunft entsprach eine veränderte soziale Einstellung. Der Kronstädter Aufstand war so in seines Wesens Kern eine Widerspiegelung oder richtiger ein Ausläufer der Bauernunruhen und Bauernaufstände, die in mehreren Gouvernements, namentlich Südrusslands, drohten oder schon ausgebrochen waren. Die Losungen der Kronstädter Aufständischen weisen deutlich darauf hin, es waren die Forderungen der gegen den “Kriegskommunismus” rebellierenden Bauern.

Radek hat das meines Dafürhaltens sehr überzeugend in dem nämlichen Heft der “Russischen Korrespondenz” dargelegt, auf das Paul Levi sich im Zusammenhang mit dieser Frage beruft. Es ist kaum anzunehmen, dass Paul Levi ausgerechnet diesen Artikel nicht gelesen habe. Sicherlich war es sein gutes Recht, Radeks Behauptung zu bestreiten oder auch mit der nämlichen lässlichen Ironie zu bezweifeln, wie die höchst “einfältige Geschichtserzählung von ein paar Kundigen in Deutschland”. Allein bei der Bedeutung, die er den Ereignissen in Kronstadt beimisst, durfte er Radeks Ausführungen nicht kurzer Hand verschweigen, um das rührende Verslein von den zur Rebellion getriebenen “treuesten Söhnen der Revolution” zu dichten für “die höchst einfältige Geschichtserzählung von ein paar Kundigen in Deutschland”, denen er als unanfechtbare Autorität gilt. Übrigens liegt die Vermutung nahe, dass auch die Zusammensetzung, der Charakter der Kronstädter Zivilbevölkerung sich gewandelt hat. Die moderne Großindustrie — besonders die Metallindustrie —‚ die im Petersburger Bezirk vor dem Kriege einen mächtigen Aufschwung genommen hatte, war für ihre Belieferung mit Kohlen, Erzen und Halbfabrikaten in erster Linie auf die Einfuhr aus dem Ausland angewiesen. Infolge des Krieges und der Blockade brach sie fast völlig zusammen, und es ist wirklich eine “höchst einfältige Geschichtserzählung” antibolschewistischer Ligenbrüder, die Revolution und im Besonderen die Bolschewiki für ihren Zusammenbruch verantwortlich zu machen. Der Bürgerkrieg und seine Auswirkungen, die Absperrung des Petersburger Bezirks vom Ural und von Südrussland steigerten den Zusammenbruch, der in Verbindung mit der Lebensmittelnot etc. zur Abwanderung zahlreicher Industrieproletarier führte. Man darf wohl annehmen, dass die rückläufige Bewegung auch in Kronstadt ein Zurücktreten der Industrieproletarier hinter kleinbürgerliche Elemente verursacht habe. Ein Umstand, der ebenfalls dazu beitragen musste, in Kronstadt einen günstigen Boden für einen Aufstand zu schaffen. Nebenbei: die Lage des Orts, seine strategische Bedeutung lässt erkennen, dass die “höchst einfältige Geschichtserzählung” von den “paar Zarenoffizieren mit französischen Franken” doch nicht ganz so “höchst einfältig” war, wie Paul Levi das hinstellt.

Jedenfalls haben sich im Kronstädter Aufstand Einflüsse und Zielsetzungen verschiedenster Natur und Richtung miteinander verschlungen, die zunächst in dem einen Punkt zusammenfielen: in der Absicht, um jeden Preis die bolschewistische Regierung zu stürzen, als das größte Hindernis für die Verwirklichung der Sonderziele, die von den einzelnen Gruppen der Aufständischen erstrebt wurden. Mochten diese im Namen des Zarismus, der “Zivilisation Westeuropas” oder aber der “Demokratie” rebellieren, die verschiedene Flagge deckte die gleiche offene Ware oder Konterbande: die Bourgeoisherrschaft, die Wiedereinsetzung des Kapitalismus als souveränen Herrn. Denn in der jetzigen geschichtlichen Stunde tritt die “Demokratie”, wie sie von marxistisch frisierten Menschewiki und Sozialrevolutionären verzückt angeschwärmt und gepriesen wird, der Ordnung des Arbeiter- und Bauernstaats nicht als blutlose Abstraktion entgegen, vielmehr als Klassendiktatur der Bourgeoisie, reisig gegürtet, das Schwert gezückt wider die proletarische Revolution. So stehen die tragischen Kronstädter Ereignisse vor uns, nicht umstrahlt von der reinen romantischen Glorie einer Auflehnung freiheitlicher Sehnsucht gegen der Bolschewiki Tyrannenmacht und die “Fehler” und “Abirrungen” ihrer Politik vom Wege des Kommunismus. Sie tragen den Sturmhelm der Gegenrevolution. Sie erklären sich — wie die Dinge lagen — nicht so einfach und eindeutig “mit einer tiefen Krise innerhalb des Proletariats selbst, mit einem schweren Konflikt, der zwischen “Vorhat” und “Vortrupp”, ja vielleicht innerhalb der Vorhut selbst entstanden ist.” Darauf lässt eine Tatsache helles Licht fallen. An dem Siege der Sowjetregierung über die Aufständischen hatte die Haltung des Proletariats — in erster Linie des Petersburger Proletariats — ebenso großen Teil wie die militärische Leistung der “Roten Armee”.

Diese Tatsache ist kennzeichnend für das Verhältnis zwischen “Vorhut” und “Vortrupp” der russischen Revolution, zwischen Kommunistischer Partei und Industrieproletariat. Wer wollte leugnen, dass im Winter 1920/21 und im Frühjahr 1921 unter den proletarischen Massen große Gärung, tiefe Unzufriedenheit sich äußerten? Nicht bloß in kleineren, abgelegenen Industriezentren, auch in den großen sturmbewährten Mittelpunkten der proletarischen Revolution, im “roten” Petersburg, im “roten” Moskau. Die Bolschewiki würden die letzten sein, die das bestritten. In jenen furchtbaren, schicksalsschweren Monaten waren die Versammlungen der Arbeiter wie die Sitzungen der städtischen Sowjets und ihre Organe das Echo erschütternder Klagen, scharfer Kritik, dringlichster Forderungen von Arbeitermassen. Die Parteiveranstaltungen wurden beherrscht von Auseinandersetzungen über die Ursachen und die Bedeutung der um sich greifenden Unruhe, namentlich aber über die Mittel, die schreienden Nöte zu mildern, offensichtliche, vermeidliche Missstände abzustellen, durch den Beweis überlegener Einsicht und tatkräftigen Willens die Unaufgeklärten zu belehren, die Wankenden und Verzweifelnden zu stützen, kurz das Vertrauen der nichtkommunistischen Industrieproletarier zu der Sowjetregierung und ihrer Partei zu gewinnen und zu kräftigen.

Kein Zweifel: dieses Vertrauen, die feste Grundlage der bolschewistischen Macht, das Kostbarste, das die proletarischen Massen zu vergeben haben, es war noch nicht im erforderlichen Maße erworben oder es war erschüttert. Es war eine Lebensfrage für die Kommunistische Partei, eine Bedingung ihrer geschichtlichen Existenzberechtigung, dass sie ihre Politik und ihr Verhältnis zu den schaffenden Massen, zum Industrieproletariat im Besonderen in unerbittlicher Selbstkritik überprüfte. Das Ergebnis aus dem Reiche der Erkenntnis in das der Praxis, des Handelns übersetzt, war: die “Konzessionspolitik” und vertiefte, energischste Bestrebungen auf allen Gebieten, namentlich auf dem der Gewerkschaften, den Abstand zwischen der Partei und den nichtkommunistischen Proletariern zu verringern, die engsten Beziehungen zwischen den Kommunisten und diesen Proletariern zu schaffen, als die Voraussetzung dafür, sie aus instinktiven Empörern wider den Kapitalismus zu bewussten Kämpfern gegen ihn und zu Erbauern des Kommunismus zu bilden.

Die Massen des russischen Industrieproletariats hatten sich zwischen Juli und Oktober 1917 unaufhaltsam und rasch um die Bolschewiki geschart. Was sie zu diesen trieb, war der glatte Verrat der proletarischen Interessen durch die “eine, reine Demokratie” der Kerenski-Regierung, die auch von Menschewiki als den Gefangenen und Dienern bourgeoiser Politik geziert wurde. Er verlieh der Losung unwiderstehlichen Zauber: “Alle Macht den Sowjets.” Sie begriff das Ziel in sich: alle Fabriken, die gesamte Industrie den Proletariern, Vernichtung des ausbeutenden, knechtenden Kapitalismus, Freiheit und Fülle dank dem Früchte und Kränze spendenden Kommunismus. Unter der Führung der aufrecht, sicher voranschreitenden Bolschewiki hatten die proletarischen Massen den Anfang zur Verwirklichung ihrer Sehnsucht erlebt, mehr als das: selbst geschaffen, indem die Glut ihres Herzens und die drängenden, gärenden Gedanken die Fäuste bewaffneten und revolutionärer Kampf wurden. Die Bolschewiki wiesen unverwandt auf das hohe Ziel. Mussten es unter ihrer erprobten Führung die nachfolgenden Massen der Werktätigen nicht ebenso im kühnen, glänzenden Sturmlauf erreichen, wie sie die Staatsgewalt erobert hatten? Das war die Hoffnung, das war der felsenfeste Glaube der breitesten Massen des Industrieproletariats, die den Kommunismus nicht mit wägendem Verstande bewältigten, sondern mit ihrem heißen Herzen instinktmäßig als ihr Heil erfassten. Ihr Vertrauen zu der Führung überflügelte dabei ihr Verständnis für den Kommunismus und zumal für die Bedingungen, ihn als Tat der Massen selbst aus der Idee Wirklichkeit werden zu lassen.

Selig im Schauen begannen sie mit den Bolschewiki den steilen Aufstieg zu den schimmernden Höhen des Kommunismus. Jahr auf Jahr folgten sie ihrer Führerschaft treu und todesmutig durch die schreckensvollen, blutigen Gefahren des Bürgerkrieges und des Krieges an den Fronten; entsagungsfreudig trugen sie die härtesten Entbehrungen, Hunger und Frost; glaubensstark zwangen sie den ermatteten, schwindenden Kräften Tag für Tag neue Arbeitsleistungen ab. Sie waren Hungernde und Erschöpfte, die vielen Hunderttausende, die länger als ein Jahr ihre Freistunden der Samstage und Sonntage freiwilliger, unentschädigter, gemeinnütziger Arbeit widmeten. Die proletarischen Massen, die empor zum Kommunismus strebten, hielten wie Not und Gefahr so den bittersten Enttäuschungen tapfer stand. Unerfüllt blieb, worauf sie mit religiöser Kraft und Begeisterung gehofft hatten, über keinem anderen Staate der Welt sahen sie das Sowjetbanner des siegreichen Proletariats wehen. “Ward solcher Glaube je in Israel gefunden?” Haben die Arbeiter anderer Länder, sie, die mit ihrer Überlegenheit über die russischen Analphabeten prunken, im Kampfe für ihre Befreiung den nämlichen Heldensinn und Märtyrermut betätigt?

Gefühl und Stimmung hatten “Vorhut” und “Vortrupp” der russischen Revolution in der Ekstase der Notwehr, der aufgezwungenen Verteidigungskämpfe für Sowjetrusslands Existenz fest zusammengeschmiedet. Die Nöte und Härten des “Kriegskommunismus” wurden in ihrer Unabwendbarkeit auch von den nichtkommunistischen Industrieproletariern begriffen. Der Friede sprengte oder lockerte wenigstens den eisernen Reif, der sie mit der kommunistisch geschulten Minderheit zusammen gehalten hatte. Das Bewusstsein des großen historischen Klasseninteresses und Klassenwerks wurde bei den nichtkommunistischen Arbeitern nun durch Sonderinteressen von Gruppen und Einzelnen verdunkelt. Der Kommunismus brach nicht als ein ewiger Sonn- und Festtag an, wie sie es naiv gewähnt hatten. Er kam äußerlich als düsterer, grauer Werktag, mühsal-, leid- und sorgenschwer. Den nichtkommunistischen Massen fehlte noch das Organ für das innere Leuchten und Wärmen, für die geschichtliche Größe des Neuen, das im Arbeiterkittel vor ihnen stand.

Auch Lenin und Trotzki waren außer Stande, das Christuswunder der biblischen Geschichte zu erneuern: mit zween Broten und zween Fischen viertausend Hungrige zu speisen und danach noch Körbe mit übrigen Brocken sammeln zu lassen. Die Kommunistische Partei und die Sowjetregierung konnten der schwachen, rückständigen, zerfallenen Wirtschaft nicht eine Ergiebigkeit abtrotzen, die der Bevölkerung einen reicheren Lebensbedarf als früher oder auch nur die alte Kärglichkeit gesichert hätte. Die Verfügungen von Wirtschaftsämtern, die Maßnahmen von Betriebsorganisatoren und Betriebsleitern, die Produktivität der Arbeit durch die Methoden und die Disziplin der modernen Großindustrie zu steigern, wurden von großen Teilen der Arbeiterschaft hart empfunden. Diese wurzelten mit ihrem Empfinden und ihren Gepflogenheiten noch in dem gemütlichen Schlendrian der vorkapitalistischen Wirtschaft und begriffen nicht den Unterschied zwischen äußerster Kraftanstrengung für das Gemeinwohl und größter Ausbeutung für kapitalistischen Profit. Die Massen des Industrieproletariats, die für Sowjetrusslands Behauptung und seinen kommunistischen Aufbau mehr und besseres leisten sollten, lebten außerdem seit sieben Jahren in der Siedeatmosphäre des Krieges und der Revolution, chronisch unterernährt, angestrengt, abgehetzt, versorgt; sie waren durch Außerordentliches aufgepeitscht, aus dem Trott der Gewohnheit ungezählter Geschlechter emporgescheucht, alles wagend, aber auch alles erwartend.

Kann es überraschen, dass sich im Industrieproletariat die “Mitläufer” des Kommunismus von den “Überzeugten” sonderten, als der relative Friede nicht die erharrte Notwende im Gefolge hatte? Jene sahen nicht, was diese erkannten. Dass der kommunistische Aufbau der Räterepublik zunächst auch Kampf, leidenschaftlicher Kampf sein musste. Nicht bloß mit den vielgestaltigen Hemmnissen, die in dem Stand und der Zerrüttung der Wirtschaft beruhten, nicht nur mit den verschlungenen Problemen, die mit dem Auswirken der proletarischen Revolution emporsprangen. Nein, ebenso ein bitterer, zäher Kampf mit offenen und verkappten Feinden, Überlebseln und Verteidigern des Alten in der Wirtschaft, in den sozialen Einrichtungen und — in der Psyche von Millionen. Kampf und Ringen für die Aufrichtung des Kommunismus musste aber wie die Eroberung der Staatsgewalt das eigenste Werk des Proletariats als Klasse sein. Auch die genialste Führung konnte sie von diesem Werk nicht befreien. Die “Mitläufer” des Kommunismus waren enttäuscht, dass die führenden Bolschewiki dem Proletariat nicht seine historische Aufgabe abnahmen, dass sie nicht für das Proletariat und statt seiner die kommunistische Ordnung verwirklichten. Sie murrten, sie grollten, hier und da begannen kleine Gruppen von ihnen zu “meutern”.

Es ist unbestreitbar und unbestritten, dass Fehler der Wirtschaftsorganisation und der Verwaltung, dass einzelne Maßnahmen die Schwierigkeiten der Lage und die Unzufriedenheit im Industrieproletariat steigerten. Die Bolschewiki sind glänzende revolutionäre Kämpfer und Politiker, sie sind weniger gute Wirtschafter und Verwalter. Als Führer einer proletarischen Revolution haben sie eine unendlich schwerere Aufgabe zu meistern, wie seinerzeit die großen Revolutionäre des Bürgertums. Diesen fiel nur zu, die politische Macht im Staat in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen ihrer Klasse zu organisieren. Die Organisierung der gesellschaftlichen Wirtschaft blieb Privatangelegenheit der einzelnen Kapitalisten, die waren “Herren im Hause”. Die Anarchie war und ist das Kennzeichen der gesellschaftlichen Produktion des Bourgeoisstaates. Der proletarische Umsturz geht weit über das Ziel bürgerlicher Revolutionen hinaus. Er steigt in die Tiefen der Gesellschaft, er wälzt die Wirtschaft um, auf dass mit der letzten ausgebeuteten und verknechteten Klasse “alle Menschen gleich geboren ein adelig Geschlecht” werden. Das revolutionäre Proletariat kann sich mithin nicht darauf beschränken, “das alte, morsche Ding, den Staat, jung zu hämmern”. Es muss die gesamte gesellschaftliche Wirtschaft kommunistisch gestalten. Alle Betriebe sollen kommunistisch organisiert, in die große Gemeinwirtschaft einbezogen werden. Die gesellschaftliche Ordnung der kommunistischen Produktion soll die Anarchie ihrer kapitalistischen Vorläuferin überwinden. Eine geschichtliche Aufgabe von gigantischem Maße.

Für ihre Lösung verfügt die führende Partei des russischen Proletariats nicht über die gleiche Summe technischen Könnens und praktischer Erfahrung, wie für den revolutionären Kampf. Es gibt auch kein Beispiel aus der Geschichte, das sie positiv oder negativ lehren könnte. Die Pariser Kommune von 1871 hat so kurz und unter so wesentlich anderen geschichtlichen Umständen gelebt, dass sie kein Vorbild für den kommunistischen Aufbau Räte-Russlands hinterlassen konnte. Die Bolschewiki müssen aus Eigenem schöpferische Ordner der chaotischen Wirtschaft sein.

Gewiss! In ihren Reihen stehen Volkswirtschaftler von umfassender und gründlicher Durchbildung, die die Produktionsprobleme gedanklich vorzüglich bewältigen; Gelehrte, Ingenieure und Techniker, erfahrene Männer der Praxis, deren Fähigkeiten und Kenntnisse den kommunistischen Wirtschaftsaufbau mächtig fördern können. Manche nichtkommunistische Intellektuelle und zaristische Beamte wirken, ihrem früheren Tätigkeitsfeld entsprechend, an ihm mit, allerdings keineswegs stets mit reiner Gesinnung und mit reinen Händen. Allein wie wenig sind der aufbauenden Kräfte, verglichen mit der Riesenhaftigkeit des Werks und den gehäuften, unerhörten Schwierigkeiten seiner Durchführung. Es entstanden weit zielende, geniale Pläne für die Aufrichtung und Hebung der Wirtschaft in der Richtung zum Kommunismus; mustergültig ausgearbeitete Produktionsprogramme für die einzelnen Industrien, Wirtschaftsgebiete etc.; sinnreich aufgezogene Verteilungsapparate. Jedoch wie vieles davon blieb “Zukunftsmusik”, und wie vieles wurde mangelhaft, ja ganz unzulänglich durchgeführt.

Die Ursachen dafür liegen nicht nur in der bereits hervorgehobenen geschichtlich gegebenen Unreife der objektiven und subjektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution, der kommunistischen Ordnung. Es wäre feige, verlogene Selbsttäuschung, übersehen zu wollen, dass sie zum Teil auch zu suchen sind in der sachlichen Schwäche, der mangelnden Durchbildung und Erfahrenheit der führenden Revolutionspartei für die Aufgaben der Wirtschaftspraxis und der Verwaltung. Nicht alle zu diesen Aufgaben Berufenen gehörten nach Fähigkeit und Charakter zu den Auserwählten, Hingebungsvollen. Begeisterung für den Kommunismus konnte den nüchternen Überblick über wirtschaftliche, soziale Wirklichkeiten nicht ersetzen, revolutionäre Kampfestüchtigkeit nicht berufstechnische Schulung. Wo es an Fähigkeit und Kraft zur wirtschaftlichen Organisierung und Leitung gebrach, da stellte sich nur zu oft ein geistloser, schematisierender, lähmender Bürokratismus ein. Schmutziges Eigeninteresse einzelner Verwaltenden und Leitenden gewann Herrschaft über das soziale Pflichtgefühl.

Die Mängel und Missstände der Revolutions- und Übergangswirtschaft sind von niemand erbarmungsloser, wahrheitsmutiger an die Öffentlichkeit gezogen und gegeißelt worden als von den führenden Bolschewiki selbst. Mit ebenso viel Feuereifer als Beharrlichkeit trachten sie nach ihrer Überwindung, in klarer Exkenntnis, dass die Umwälzung der gesellschaftlichen Wirtschaft das Problem, das Zentralproblem der proletarischen Revolution ist. Ein Berg von Zitaten mit Fehlereingeständnissen und Besserungsvorschlägen ließe sich auftürmen. Es sei nur an Lenins scharfe, schonungslose Beurteilung auf mehreren Parteikongressen erinnert. Die sehr lehrreichen und anregenden Ausführungen dieser Art scheinen Paul Levi nichts gesagt zu haben. Mit Ausnahme der bolschewistischen Agrarpolitik, die er in Bausch und Bogen unter das Beckmesserhämmerlein seiner Kritik genommen hat, berührt er kaum andeutungsweise den in dieser Beziehung vorliegenden bedeutungsvollen Fragenkomplex. Die Verdammnis, der er die bolschewistische Politik als Ganzes überliefert, hellt daher auch nicht die entscheidenden Ursachen der “Spannung” zwischen “Vorhut” und “Vortrupp” auf. Die “Demokratie”, die von ihm als deus ex machina für die Errettung des Kommunismus aus der tödlichen Umarmung des Bolschewismus angerufen wird, eröffnet aber auch keinen oder höchstens einen sehr nebelhaften Ausblick auf die Verhütung und Verringerung eines “Abstandes” zwischen der Kommunistischen Partei und proletarischen Massen, wie sie im Frühjahr 1921 in Erscheinung trat.

Als es in jenen Tagen im Industrieproletariat “kriselte” und die Flammen großer Bauernaufstände emporzuschlagen drohten, durfte sich die bolschewistische Politik weniger als je den Luxus gestatten, mit den menschewistischen und sozialrevolutionären politischen Anschauungen und Formeln zu experimentieren. Mit den Schwächen und Verbrechen der Kerenskiregierung befleckt, hatten jene ihren Kredit bei den schaffenden Massen verloren und ihre Unfruchtbarkeit erwiesen. Ein Paktieren mit ihnen und ihre Propaganda hätten die Unruhe und Unsicherheit im Proletariat vermehrt, dessen Kräfte im einheitlichen Willen zum Aushalten und zu opferwilligster Betätigung zusammengeballt werden mussten.

Es bedurfte auch solchen Paktierens nicht, um ein weites fruchtbares Wirkungsfeld Leuten zu sichern, die guten Willens waren, auf dem Boden der Räteordnung zusammen mit der Sowjetmacht am Aufbau höherer wirtschaftlicher und sozialer Formen mitzuhelfen. Wenn die Bolschewiki in engstirnigem Dogmenfanatismus die Vorteile verkannt hätten, die lebendigen, tüchtigen Kräfte des Landes zur Mitarbeit willkommen zu heißen, so würde die eherne Notwendigkeit sie dazu gezwungen haben. Sie ist gegeben in der Größe und Mannigfaltigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben, die mit der Sowjetordnung ständig zunehmen und in dem beschränkten Kreis Geschulter, sachlich Leistungsfähiger in dem Reich krassesten Analphabetentums. In sozialen Einrichtungen, Schulen und Erziehungsanstalten, in Wirtschafts- und Verwaltungsämtern waren 1920 und 1921 sicherlich erheblich mehr Nichtkommunisten aller politischen Richtungen tätig wie Kommunisten. Zumal in den industriellen Betrieben lag Leitung und Verwaltung sehr oft in den Händen der früheren Angestellten und Besitzer. Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass in zahlreichen Fällen die Nichtkommunisten ihre verantwortungsvollen Posten zur “Sabotage” der neuen Ordnung missbraucht haben.

Sicherlich ist keineswegs stets “der rechte Mann auf den rechten Platz” gekommen. Auswüchse des Bürokratismus und des Parteilebens, wie persönliche Einflüsse ließen manchen Verdienstvollen und Tüchtigen im Schatten verkümmern, während unfähige Streber emporstiegen. Es “menschelt” überall, auch bei den Kommunisten, jedoch Fälle dieser Art dürfen nicht — das beweisen die Zustände in den Ländern “vollkommenster Demokratie” — auf die Schuldseite des grundsätzlichen Wesens der bolschewistischen Politik gebucht werden. Nicht in ihr, in der Psyche, in der politischen Einstellung mancher nichtkommunistischen Persönlichkeiten von Wert lag es begründet, dass sie verdrossen und enttäuscht zur Seite traten und nicht das Gebot der revolutionären Stunde für die Sowjetregierung verstanden: zu handeln, nicht zu philosophieren und zu diskutieren.

Was hätte die Proklamierung der “Demokratie” an den Tatsachen geändert, die den Massen der Schaffenden Sowjetrusslands blutende Wunden schlugen? Die Weltbourgeoisie würde sie nun und nimmer mit der Aufhebung der Blockade und des Boykotts beantwortet haben, solange ihrer Auffassung nach die “Zivilisation” durch die Verneinung des Rechts jedes Proben und Glücksritters geschändet und vernichtet wird, aus Leibern und Seelen Armer Gold zu pressen. Sie würde mit einem Male als wahr entdeckt haben, was sie sonst aufs heftigste als “Hetzphrase” bestreitet. Nämlich, dass die “Demokratie” ohne wirtschaftliche Freiheit und Macht sich nicht zu sozialem Fleisch und Blut verkörpern kann. Der Zauber der “Demokratie” hätte außerdem zwar rasch das Sehnen kleiner Kreise parlamentssüchtiger Gemüter gestillt, jedoch nicht über Nacht eine Wirtschaft beschert, die die hungrigen Mägen von Millionen zu sättigen vermöchte.

Die darbenden und unruhigen Proletarier aber waren “grob materiell‘ gesinnt. Sie träumten nicht von “den schönen Augen” der politischen Formeln bürgerlicher Demokratie. In den kalten, düsteren Wohnungen, wo sie hungerten und froren, in den Betrieben, darinnen sie sich mühten und Leistungen abquälten, kreiste ihr Verlangen um so prosaische Dinge wie Kartoffeln, Brot, Mehl und Kohl, wie Kleider und Schuhwerk, wie Heizung und Licht. Auch ohne dass sie durch die Lektüre von Heinrich Heine aufgereizt worden wären, waren “Suppenlogik” und “Knödelgründe” maßgebender für sie, als die menschewistischen und sozialrevolutionären Heilswahrheiten. Es war keineswegs die Unzufriedenheit mit der angeblich falschen Linie der bolschewistischen Politik, die Teile des proletarischen “Vortrupps” der Revolution, der Vorhut zu entfremden begann. Insofern es sich bei den Ursachen nicht um die Armut der Wirtschaft handelte, waren es Mängel, Fehler, Missstände in der Verteilung der kargen Lebensnotwendigkeiten und in der Verwaltung. Die Wankenden und Schwankenden scharten sich wieder fest um die Sowjetmacht, als es ihr gelang, trotz großer Schwierigkeiten mancher bitter empfundenen Schlamperei und Ungerechtigkeit von Amtsstellen zu steuern, namentlich aber eine etwas reichlichere Belieferung der Industriebevölkerung mit Lebensmitteln und deren bessere Verteilung zu sichern. Und heute, wo die klippenreiche “Konzessionspolitik” seit ungefähr einem Jahr in die Lebensgestaltung des russischen Proletariats eingreift, steht der “Vortrupp” in unerschütterlichem Vertrauen bei seiner “Vorhut”.

Dieses Verhältnis legt einen geschichtlichen Vergleich nahe — selbstverständlich mutatis mutandis. Februar 1848, Paris. Nach Brot und Freiheit, nach sozialer Gerechtigkeit hungernd, von unklaren sozialistischen Idealen getrieben, zerschmettert das revolutionäre Proletariat den Thron des geschäftstüchtigen Bürgerkönigs Louis Philippe. Es hofft, damit auch die Herrschaft der ausbeutenden Kapitalisten gebrochen zu haben, denen dieser in richtiger Erkenntnis seiner Funktion zugerufen hatte: “Bereichert Euch!” In einem Gemisch von naivem Vertrauen und keimendem Zweifel überlässt es die Neuordnung und damit sein Schicksal bürgerlichen Republikanern und Reformern. Es stellt ihnen einen Wechsel aus über drei Monate seines Hungers und Elends. Die drei Monate sind genug, um die Pariser Arbeiter darüber zu belehren, dass sie dem scheußlichen Ungeheuer, das sie zerfleischt, nur die schimmernde Krone abgeschlagen haben, nicht aber das Haupt. In der Junischlacht schreiben sechstausend stolze Rebellen mit ihrem Blut, dass der Pakt zwischen den verräterischen bürgerlichen Revolutionsschwätzern und den proletarischen Revolutionskämpfern, zwischen Bourgeois und Arbeiterklasse zerrissen ist. — Sowjetrussland 1917-1922. Nahezu fünf Jahre proletarischer Revolution. Für das junge russische Proletariat nahezu fünf Jahre unbeschreiblicher, zermürbender Leiden und heldischer Kämpfe. Der Bund zwischen ihm und seiner führenden Klassenpartei ist trotz allem fest und lebensstark. Es ist wirklich eine “höchst einfältige Geschichtserzählung”, das lediglich zu erklären mit dem “russischen Nationalcharakter” oder dem “Stumpfsinn der Massen” oder aber gar mit der “bolschewistischen Gewalt- und Schreckensherrschaft”. Gegen den Hunger von Millionen, gegen das sich aufbäumende Wollen der ganzen, geschlossenen Klasse, in deren Hand die Geschichte auch in Sowjetrussland die stärkste vorwärts treibende Macht gegeben hat, sind Bajonette und Maschinengewehre ohnmächtig. Besonders in einem Lande der Revolution und in einem Zeitalter der Revolution.

Die Situation im Frühjahr 1921 veranlasste die Bolschewiki, das Verhältnis zwischen “Vorhut” und “Vortrupp” auch von der anderen Seite her zu untersuchen. Sie fragten nicht nur, wie stehen die proletarischen Massen zu uns? — vielmehr auch: wie stehen wir zu den proletarischen Massen? Wir haben weiter oben gehört, wie niederschmetternd, wie trostlos nach Paul Levi die Antwort auf diese Frage lautete. Sie war vorgeblich die Feststellung, ja das offene Eingeständnis der Unfähigkeit der Partei, das Proletariat in seinen breiten Schichten zu erfassen, zu halten, mit kommunistischem Geist zu durchdringen und die volle Summe seiner geschichtlichen Aktionskraft lebendige, befreiende Tat werden zu lassen. In der Partei hatte der Buchstabe den Geist erschlagen, hatte die starre Organisationsformel das bewegliche widerspruchsvolle, geschichtliche Leben abgewürgt. Wie konnte sie den Proletariern geben, was ihr selbst verloren gegangen war? Die Kommunistische Partei hatte sich von den proletarischen Massen losgelöst und in verblendeter Selbstgenügsamkeit eingekapselt. Mit der niedergestampften Demokratie außerhalb der Partei war in ihr selbst das beste historische Leben gestorben, das im ununterbrochenen Wechselstrom zwischen ihr und den Massen hin- und herfluten musste. Echt sind die Zitate, mit denen Paul Levi seine Ansicht belegt, unecht aber ist der Geist, mit dem sie ausgewählt und zusammengestellt worden sind, und in dem sie ausgelegt werden.

Warum denn zeigte sich im Augenblick der Krise 1921 ein Abstand zwischen der Partei und einem Teil des nichtkommunistischen Proletariats? Etwa weil die Bolschewiki im Kampfe für den Kommunismus hinter die vorwärts drängenden Massen zu stehen gekommen wären? Das Gegenteil trifft zu. Die bolschewistische Politik war so kühn, so unverwandt dem Ziele zugestürmt, dass nur die Elite des proletarischen Vortrupps den Atem behalten hatte, ihr ganz folgen zu können. Äußerlich gesehen war die Gesamtheit des Proletariats mit den Bolschewiki marschiert, ein fester, geschlossener “Gewalthaufen” der Revolution. Allein die Gesamtheit hatte noch nicht die politische und soziale, die historische Reife zu erlangen vermocht, um innerlich unlösbar mit den Bolschewiki verbunden zu sein, das heißt im Grunde mit dem Kommunismus selbst, dessen stärkste, bewussteste Träger diese sind. Das ist weder ein Armutszeugnis für die proletarischen Massen, noch für die bolschewistische Politik.

Die Bolschewiki hatten als revolutionäre Klassenpartei des Proletariats nach Übernahme der politischen Macht nicht bloß Staat und Wirtschaft auf neuer Grundlage zu organisieren, sondern gleichzeitig auch den gesamten gesellschaftlichen Überbau im Sinne des Kommunismus umzuwälzen. Es gab kein Gebiet sozialen Lebens, wo sie nicht zerschlagen und aufbauen, Absterbendes bei Seite stoßen und Aufkeimendem kraftvolles Gedeihen sichern sollten. Um nur einiges davon herauszugreifen: Die soziale Fürsorge für die Hilfsbedürftigen musste auf andere Basis gestellt und ausgedehnt, in Wirklichkeit neu geschaffen werden, im Geiste vollster Brüderlichkeit, als gesellschaftliche Pflicht und individuelles Recht. Es galt, die Frau als wirtschaftlich, politisch und sozial gleichberechtigtes und gleich verpflichtetes Gesellschaftsglied der sich umwälzenden Ordnung einzufügen und das Recht des Kindes auf Erziehung sicher zu stellen. Neuer Geist war in neue Normen für politisches und bürgerliches Recht zu fassen. Als wichtigste, grundlegende Aufgabe trat hervor, die Volkserziehung, die Volksbildung im umfassendsten und tiefsten Sinne zu gestalten und als schöpferische Kraft des Neuen wirksam zu machen.

Der kommunistische Aufbau Sowjetrusslands, mit der Vielseitigkeit, dem Nebeneinander der Anforderungen ist Titanenwerk, das nicht von einer Partei verrichtet werden kann, und wäre sie die verkörperte politische Weisheit und Kraft. Es wird das Werk von Millionen sein, die in einem geschichtlichen Wollen und Handeln zur Klasse zusammengefasst sind, die Jahr auf Jahr daran baut. Von dieser Erkenntnis erfüllt, nahmen es die Bolschewiki mit starker Hand und einer Leidenschaft in Angriff, als könnte, als müsste es die Frucht ihrer Tage allein schon sein. Und sie strömten ihr glühendes Wollen und ihre nicht zu brechende Tatkraft in den proletarischen “Vortrupp”, in die breitesten Massen des schaffenden Volkes über, die sie zum Aufbau riefen. Sie mussten es: in dieser großen geschichtlichen Stunde musste es die Tat der Massen sein, dem Unterbau wie dem Überbau der Sowjetrepublik sein entscheidendes Gepräge, seinen klaren Sinn zu geben.

Die Massen der Werktätigen folgten mit wundervollem, unvergleichlichem Elan der Aufforderung. Darbend, blutend begannen sie den kommunistischen Aufbau mit einer Hingabe, einer Begeisterung, einer wilden Energie, einer Glaubensstärke, die herrliche Vorzüge einer jugendfrischen Rasse sind, die nicht durch die alte Zivilisation blasiert, ermüdet und zweifelssüchtig geworden ist, und herrliche Vorzüge einer jugendfrischen Klasse, die empor ans Licht der Kultur drängt, ohne dass der Kapitalismus ihr Generationen hindurch das Mark aus den Knochen gepresst hat. In den städtischen und ländlichen Sowjets, in den Gewerkschaften und Genossenschaften, in den Räteorganen und Sozialinstitutionen, in den Analphabeten-Kursen und Kunstabenden, welch ein reiches, spendendes Leben! Welch ein Erwachen, Regen und Bewegen, welch ein Tasten, Erproben von sehnsuchtsvollen Kräften, welch ein Entfalten und Leisten kaum geahnter Fähigkeiten! Der berauschende, stählende Odem eines großen geschichtlichen Schöpfungstags brauste durch Sowjetrussland, nicht das Werk eines Einzigen, der gebieterisch rief: “es werde!”, das Werk von Millionen, die sich in ihrem Menschentum ahnend, begreifend feuertrunken jubelten: “wir sind!”

Darf es Wunder nehmen, dass die Kommunistische Partei angesichts der grandiosen Erscheinung den Reifegrad der proletarischen Massen überschätzte? Diese Erscheinung war die Geschichte gewordene Lebensarbeit, an die die besten in ihren Reihen, an die Tausende und Zehntausende, ihr Herzblut gegeben hatten und täglich geben. Die Partei fühlte sich so fest mit dem Proletariat verbunden, so eins mit ihm, dass sie ihr eigenes Sein mit dem der erwachenden Massen identifizierte. Die Krise von 1921 brachte die Ernüchterung. Sie bewies, dass durchaus nicht alle, die mit den Füßen bei dem proletarischen “Vortrupp” der Revolution standen, auch mit Hirn und Herz ganz dem Kommunismus zu eigen waren und ihr Teil an Aufgaben zu bewältigen vermochten. Die Bolschewiki waren aber nicht eine Vereinigung von Gelehrten, die ihr Genügen daran finden konnten, den Abstand zwischen sich und den nichtkommunistischen Massen historisch zu erklären und philosophisch zu kommentieren. Sie waren von Tatleidenschaft gespornte Politiker, die aus innerer Notwendigkeit handeln mussten, die die Spannung beseitigen wollten. Der Angelpunkt ihrer Auseinandersetzung über die Situation war daher nicht die Frage: wann und wie werden die proletarischen Massen zu uns kommen? Es war die andere: wie kommen wir am raschesten und erfolgreichsten zu den proletarischen Massen?

Sie wurde in den Parteidiskussionen und auf dem X. Parteikongress der Bolschewiki mit jener Schärfe gestellt und mit jener grausamgründlichen Selbstkritik beantwortet, die das Ringen unserer russischen Freunde um Selbstverständigung auszuzeichnen pflegen. Das alles in der Atmosphäre heißer parteipolitischer Polemik und mit der Zuspitzung auf das bestimmte, konkrete Ziel des Tages. Unter solchen Umständen muss auch der scharf geschliffene Ausspruch bester Führer meist mit dem nötigen Körnchen Salz verstanden werden. Paul Levi haut daher daneben, wenn er als erschöpfende Charakterisierung der Kommunistischen Partei und ihres Verhältnisses zu den Massen das Wort von dem “mangelnden Sauerstoff” und dem neuen “Sauerstoffbehälter” der Gewerkschaften gelten lässt, das Sinowjew auf dem XI. Kongress der Bolschewiki gesprochen hat. Der Hohn ist recht billig, die Bolschewiki hätten sich — nachdem ihr geistloser Schematismus das Leben der Sowjets mechanisiert und verwüstet habe — auf nichts Besseres zu besinnen vermocht, als auf ein neues, mechanisches Verbindungsmittel mit den Massen, auf eine neue Organisationsform: die Gewerkschaften.

Streitobjekt war nicht der Geist, der “Vorhut” und “Vortrupp” und Massen verbinden, das lebendigste Leben und Weben eines Ganzen, einer unwiderstehlichen, einheitlichen Macht sein sollte. Es ging um den Weg oder richtiger um die Wege, auf denen der Geist zum Proletariat gelangen konnte, um zielsetzender Wille und bewusste Tat der Klasse zu werden. Wie? Den Bolschewiki wäre die Organisationsform aus einem Mittel zum Zweck, heiligster Selbstzweck geworden, ein selbsttätiges Wunderwerk, das Dank immanenter mechanischer Kräfte das Proletariat auf die Höhe historischen Aktionsvermögens emporhebt? Aber ist nicht die Geschichte ihrer Partei ein überzeugender Beweis des Suchens und Versuchens, die beste Organisationsform als Dienerin und Werkzeug dem zielklarsten und willensstärksten revolutionären Geist untertan zu machen und das Maximum revolutionärer Erkenntnis und Tatkraft der proletarischen Massen selbst wirksam, entscheidend werden zu lassen?

Diese armen Schächer hatten es wirklich nicht nötig, erst nach dem angeblichen Bankrott ihrer Politik in den Sowjets die Gewerkschaften zu entdecken als Mittler zwischen der Partei und den proletarischen Massen. Sie werteten die Gewerkschaften lange vorher nach ihrer großen, geschichtlichen Bedeutung für den proletarischen Emanzipationskampf. Es ist aber begreiflich und hängt auch mit der schwachen Entwicklung dieser Organisationen unter dem Zarismus zusammen, dass sie in den ersten Zeiten nach der Aufrichtung der proletarischen Diktatur hinter den Sowjets zurücktraten. Je mehr aber neben dem Zertrümmern und Wegräumen des Alten die Aufrichtung des Neuen, im Besonderen die Organisierung der Wirtschaft die Aufgabe des Proletariats wurde, um so augenscheinlicher zeigte sich die Wichtigkeit der Gewerkschaften als Erziehungs- und Aufbauorgane der revolutionären Arbeiterklasse. Die engste Verbindung und wechselseitige Durchdringung von Partei- und Gewerkschaftsleben für die Ideale der kommunistischen Umwälzung wird mit zunehmender Klarheit und Energie erstrebt. Und gerade der nämliche bolschewistische Parteikongress, von dessen bedeutungsvoller Arbeit Paul Levi nichts anderes zu melden weiß als den kläglichen Versuch, ein seiner Meinung nach sinkendes Schiff über Wasser zu halten, hat sich in leidenschaftlichen, ernsten Auseinandersetzungen mit den Aufgaben der Gewerkschaften und ihrem Verhältnis zur Partei beschäftigt.* Der Anteil der Gewerkschaften am Auswirken der proletarischen Revolution steigt stetig, und er wird von unersetzlichem Werte sein, wenn das proletarische Sowjetrussland in Fabriken und Werkstätten mit dem Kapitalismus ringt, dem es vorübergehend Konzessionen gewähren musste. Nicht im Kampfe mit den Sowjets, vielmehr mit ihnen zusammenwirkend, werden die Gewerkschaften die Ansätze kommunistischen Gesellschaftsaufbaus verteidigen und weiterführen.

* Levi betont hier, dass der für ihn maßgebende Leninsche Wortlaut über die Aufgaben der breiten Massen “bedenklich schwankt”.

* Im Originaltext gesperrt.

* Zum Studium dieser Frage sei dringend empfohlen: “Russische Korrespondenz”, Jahrgang 1921, Heft 3, 4 und 5.

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