Clara Zetkin 19201031 Im revolutionären Russland

Clara Zetkin: Im revolutionären Russland

(Aus einem Artikel, Oktober 1920)

[“Die Rote Fahne” vom 31. Oktober, 2. und 7. November 1920. Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, Berlin 1957, S. 249-257, etwas ausführlicher: Für die Sowjetmacht, S. 158-167]

Im revolutionären Russland. Zum ersten Mal auf freiem Grund mit einem freien Volke, mit einem Proletariat, das sich selbst vom Kreuz des Kapitalismus erlöst hat. Ein überwältigendes Gefühl! Wer aus einem Lande kommt, wo ein kulturell hoch stehendes Proletariat, das aus klaffenden Wunden blutet, sich noch geduldig vom Kapitalismus kreuzigen lässt, dem dünkt es ein Traum und ist doch Wirklichkeit. Wirklichkeit verkörpert, sichtbar vor mir in ungezählten Tausenden von Proletariern und Proletarierinnen, denen der prometheusische Funke der revolutionären Leidenschaft und der schrankenlosen Hingabe aus den Augen blitzt, deren revolutionärer Wille in den Rhythmen der Internationale erbraust. Proletariermassen, die ihr Menschentum nicht länger durch die kapitalistische Ausbeutung und Knechtschaft zertreten lassen wollen, waren die lebendigen, treibenden Kräfte der Oktoberrevolution in Russland Proletariermassen, deren Fühlen, Denken, Wollen Sich leidenschaftlich gegen die Rückkehr des Leiber und Seelen mordenden Kapitalismus auflehnt, die entschlossen sind, sich dieser Rückkehr um jeden Preis zu widersetzen, auch unter nie dagewesenen Schwierigkeiten und um den Preis tausendfacher Opfer und des Lebens selbst; solche Proletariermassen sind in Russland die lebendige, erhaltende Kraft der Sowjet-Ordnung.

Überall, wo mir die Wesens- und Willensäußerungen russischer Proletariermassen entgegentraten, empfinde ich mit heiß emporquellender Beschämung, dass breite Arbeiterschichten Deutschlands ihres Lebens Zweck noch immer darin erblicken, durch ihr Mühen, ihren Schweiß, ihr Blut rohe und halbgebildete Parvenüs in einflussreiche Schuhwichs-, Wurst- und Zünderfabrikanten zu verwandeln. Ein Proletariat, das nicht mehr das träge, widerstandslose Objekt der Geschichte sein will, ein Proletariat, das drauf und dran ist, wagemutig selbst Geschichte zu machen, die entscheidende, herrschende geschichtliche Macht zu sein: Das ist in Sowjetrussland der alles andere zurückdrängende Eindruck, in dem, wie in einem Brennpunkte, alle Erscheinungen zusammenlaufen, die in unabsehbarer Fülle an dem ausländischen Beobachter vorüberfluten.

Aber freilich! Es gibt auch deren, die einzig und allein ein anderes sehen. Arbeitermassen, die dem Druck harter Entbehrungen und schweren Schaffens zu erliegen drohen. Die rechtsgerichteten Führer der USP Crispien und Dittmann haben sich bekanntlich auch den “Politikern” zugesellt, deren Verhalten und Urteil es entsprochen haben würde, wenn die Könige aus dem Morgenlande zu Bethlehem nicht etwa die Glorie des geborenen Jesuskindleins gesehen, sondern entrüstet festgestellt hätten, dass dieses in offenbar liederlicher Wirtschaft ohne Windeln und Leibwäsche auf Stroh in einem Stall gebettet lag, während dicht nebenan muhende Kühe, mähende Schafe und iahende Esel Reichtum und geordnete Verhältnisse bekundeten.

Es ist nur das leidende und nicht das revolutionär ringende Proletariat, das die Dittmänner aller Schattierungen in Russland sehen. Es ist nur der Schatten und Rauch der Revolution und nicht der Feuerbrand der Revolution selbst, dessen Gluten das alte, kapitalistische Sein verzehren und neues, machtvolles geschichtliches Leben nähren. Vor den entsprechenden Urteilen,

aus eigenen Anschauungen gewonnen”, erinnert man sich der ätzenden Worte, mit denen Marx in seinem “Kapital” gewisse Beurteiler des “Segens” der kapitalistischen Wirtschaft in England gestäupt hat: “Sie haben Augen, doch was für Augen! Sie haben Ohren, doch was für Ohren!”

Mit geschärftem Blick erkennen die “objektiv Berichtenden” dieser Art alle Züge der Entbehrungen, der Sorgen, des Kummers, die der Kampf mit Hunger, Kälte und den Mächten der Gegenrevolution in das Antlitz russischer Arbeiter und Arbeiterinnen gegraben hat. Mit verfeinertem Ohr hören sie den Schrei des leeren Magens und den bitteren Ausdruck Unzufriedener und Ungeduldiger. Allein, hinter ihren Augen und Ohren fehlt das Organ der Seele für die Wahrnehmung und Wertung des neuen geschichtlichen Lebens, das die Proletariermassen Russlands beseelt, das trotz des kalten Heims revolutionäre Glut entzündet und trotz des darbenden Körpers die Kraft für Arbeit und Kampf stählt, den Willen unzerbrechbar macht.

Unbestreitbar und unbestritten: Die Massen der russischen Arbeiter entbehren, leiden; auch das Notwendigste, Unentbehrlichste ist knapp und zeitweilig kaum erhältlich. Jedoch, soweit ich auf Grund meiner Beobachtungen urteilen darf, lebt der Durchschnitt der russischen Proletarier nicht schlechter, darbt er nicht bitterer, nicht sorgenvoller als der Durchschnitt der deutschen Proletarier. Man darf die Nöte und Plagen hier und dort nicht an einem absoluten allgemeinen Maßstabe messen, muss vielmehr die verschiedene gewohnheitsmäßige Lebenshaltung der werktätigen Massen in Deutschland und Russland zur Beurteilung heranziehen. Ein Unterschied in der Lage dürfte nur insofern bestehen, als im deutschen Reiche der herrschenden Kriegsgewinnler, Schieber und Orgesch-Helden eine sehr dünne Schicht von Arbeitern etwas über dem Durchschnitt leben kann, weil sie aus den verschiedensten Gründen einige Brosamen des Überflusses zu bezahlen vermag, über den die Ausbeutenden noch verfügen. Ein Stand der Dinge, der den vielen Millionen Darbender in Deutschland weder Nahrung, Kleidung noch Trost gibt. Die Volksspeisehäuser, Fabrikküchen und ähnliche Einrichtungen mildern unstreitig die Tagessorgen russischer Arbeitermassen und erleichtern namentlich erheblich die Arbeitsbürde der proletarischen Frauen. Im höchsten Masse gilt das alles von den geradezu einzig dastehenden Fürsorgeeinrichtungen für die Kinder. Den Vätern und Müttern mag manchmal der Magen knurren, ihre Kinder wissen sie versorgt wie “Herrenkinder”. Mit stolzer Freude kann Sowjetrussland seine Proletarierkinder zeigen. Außerdem hat das russische Proletariat in seinem Leiden starke moralische Helfer zur Seite.

Es ist das Vorrecht der kulturell über den “stumpfsinnigen” Russen erhabenen deutschen Arbeiter, dass sie mit ihrem “gesteigerten Selbst- und Persönlichkeitsbewusstsein” den durch den Krieg riesig verschärften Gegensatz zwischen blutigem Massenelend unten und wahnsinnigem Luxus, tollster Verschwendung oben reichlich und täglich genießen. Denn ihre Novemberrevolution krümmte dem Kapitalismus kein Haar, sondern beschied sich höchst ehrbarlich damit, die bürgerliche Demokratie und als ihre Lakaien und Henker zur Durchführung der kapitalistischen Klassendiktatur Mehrheitssozialdemokraten und Gewerkschaftsbürokraten in der Regierung zu tragen. Die “rückständigen”, sich blind dem “Despotismus der Moskauer Parteipäpste” fügenden russischen Arbeiter zerschmetterten den Zarismus und die kapitalistische Klassenmacht und gingen an den Aufbau der Sowjetordnung. Sie kennen daher nicht mehr das empörende, aufreizende Schauspiel, dass sich in den Läden und Magazinen die nahrhaftesten und leckersten Speisen, die zweckmäßigsten und schönsten Kleider, Wäschestücke, Möbel usw. spreizen, die zu kaufen, das heißt zu bezahlen, sie nicht imstande sind; dass aus licht schimmernden Vergnügungslokalen das Echo wüstester Orgien in ihre dunklen, leeren Elendshöhlen dringt. Die Proletarier in Russland gewinnen unzweifelhaft Kraft zum Leiden aus der Befriedigung des elementaren Gerechtigkeitsempfindens, dass im großen und ganzen alle die gleiche schwere Lebensbürde tragen, dass nicht länger reiche Faulenzer prassen und schlemmen während sich abrackernde Besitzlose und Wenigerbesitzende am Hungertuche nagen.

Dann die Überzeugung — die in den breitesten Massen herrscht, trotz alles Hetzens der offenen Gegenrevolutionäre und trotz alles Nörgelns und aller Besserwisserei menschewistischer Monopolisten, trotz der besten Rezepte zur Durchführung einer harmonischen, alle beglückenden Revolution, bei der der Kapitalismus leicht und schmerzlos abgeht wie etwa der Bandwurm bei einem berühmten Wundermittel —‚ es ist die Überzeugung, dass das lastende Elend der Gegenwart die böse Hinterlassenschaft der zaristisch-kapitalistischen Vergangenheit ist wie der Kriege, in denen die Generäle der Gegenrevolution und die Imperialisten der ganzen Welt Sowjetrussland niederringen wollen. “Uns fehlt Brot, uns fehlen Stiefel, uns fehlt Kattun, weil Koltschak und Denikin, die Räuber, uns Getreide, Kohle und Naphtha weggenommen, weil sie unsere Eisenbahnen gesprengt, unsere Maschinen zerschlagen haben. Uns fehlen Werkzeuge, Maschinen, weil die Engländer und Franzosen nichts in unser Land hineinlassen, denn sie wollen, dass wir wieder für die Herren und nicht für uns arbeiten.” Das ist die Antwort, die meist auf die Frage nach der Ursache der Leiden und der Zerrüttung der Wirtschaft aus Proletariermund erfolgt. Jetzt ist es selbstverständlich der Sowjetrussland von dem weißgardistischen Polen aufgezwungene Krieg, der als die Quelle der drohenden Verschärfung von Entbehrungen und Opfern verwünscht wird. Die russischen Arbeiter sprechen selten von diesem Krieg, ohne ein Kraftwort, eine derbe Verwünschung gegen die polnischen Junker und Kapitalisten hinzuzufügen.

In Russland vollzieht sich die gewaltigste Revolution, die die Geschichte bis nun kennt. Nur politische Säuglinge können annehmen, dass die Überwindung des Kapitalismus und die ersten Schritte zum Kommunismus ohne Irrungen und Wirrungen, ohne Missgriffe und Fehler, ohne Versuchen und Tasten vor sich gehen könne. Es wäre wider die Natur der Dinge, würden nicht auch unter den proletarischen Massen gelegentlich scharfe Worte der Unzufriedenheit mit einzelnen Maßnahmen der Sowjets, der Regierung fallen, rücksichtslose Kritiken an einzelnen Vorgängen und Erscheinungen geübt werden. Jedoch das ist das Kennzeichnende: Auch die zehrendsten Sorgen und Entbehrungen haben in der Gesamtheit des russischen Proletariats nicht den festen Glauben an das heilsame Riesenwerk der Revolution, an die Überlegenheit der Sowjetordnung erschüttert, nicht das höchste hingebungsvolle Vertrauen zu den besten Führern untergraben. Nicht die Revolution und Sowjetordnung, nicht die “Ziele und Methoden des tatarischen Pseudosozialismus” machen die russischen Proletarier für ihre Leiden verantwortlich. Umgekehrt: Sie tragen diese Leiden bewusst als einen Teil der unvermeidlichen Opfer des revolutionären Ringens für ihre Befreiung vom Joche des Kapitalismus. Sie wissen, dass sie nicht entbehren müssen unter den Skorpionen der kapitalistischen Ausbeutung, um durch Mühsal und Hunger Reiche noch mehr zu bereichern, sondern um eine neue, höhere, ausbeutungs- und knechtschaftslose Welt aus dem gärenden Chaos emporzuheben.

Diese Überzeugung verleiht dem Entbehren und Dulden der russischen Proletariermassen seine unvergleichliche geschichtliche Größe, seine schöpferische Kraft. Es ist nicht müde, sklavische Ergebung, nicht gedankenloses Sich fügen, nicht gleichgültiges Gehen- und Geschehenlassen. Es ist ein Leiden und Dulden der Aktivität, ein Martyrium, das zum bewussten Heldentum wird. Es ist die revolutionäre Kampfbereitschaft, es ist revolutionärer Widerstandswille. Das erhärten die Hunderttausende Arbeiter und Bauern, die bei jeder neuen Mobilisation zu den Fahnen strömen, um, geschreckt durch verschärfte Entbehrungen, Strapazen und Gefahren, Sowjetrussland gegen eine Welt von Feinden zu verteidigen. Es ist der höchste revolutionäre Kampf- und Behauptungswille, der das russische Proletariat die Zähne fest zusammenbeißen und erklären lässt: Sowjetrussland muss leben, und wenn wir sterben müssen.

Wie hölzern in ihrer Empfindung, wie bemitleidenswert sind die scharfsinnigen Gelehrten, die erfahrenen Praktiker, die durch das revolutionäre Russland gegangen sind, ohne des revolutionären Geistes auch nur einen Hauch verspürt zu haben, der das russische Proletariat zum stürmenden Vortrupp der Enterbten aller Länder erhob. Dieser Geist schreitet aber wahrhaftig nicht nur durch die Straßen und über die Plätze von Petrograd und Moskau, wenn die Massen — Männer, Frauen und Kinder — zu glanzvollen Kundgebungen unter wehenden roten Bannern und den Klängen der Internationale sich zusammenballen. Wer nicht freiwillig blind sein will, der kann ihn greifbar in all den Erscheinungen erkennen, die von dem zähen, begeisterten Ringen der Massen erzählen, ein freies, kommunistisches Russland aufzubauen.

Da ist in Petrograd das Märzfeld, wo die Opfer der Revolution und die von der Gegenrevolution gemordeten Vorkämpfer, Wolodarski, Uritzki und andere mehr, ruhen. Ein weiter, weiter Grund. Zur Feier des letzten 1. Mai wurde er von den Petrograder Proletariern und Proletarierinnen, die alle Schrecken des furchtbaren Abwehrkampfes gegen Judenitsch, alle Härten des Hungers und der Kälte getragen hatten, in freiwilliger, unentgeltlicher Arbeit umgeworfen und mit 60.000 Bäumen und Sträuchern bepflanzt. Das Märzfeld soll ein herrlicher Park werden. Es steht keine Null zu viel. Ich schreibe in Buchstaben: sechzigtausend Bäume und Sträucher in einem frei gewollten Tagewerk gesetzt für einen Park, dessen kühlender Schatten, erquickendes Grün und lustiges Vögelgezwitscher erst die Kinder und Enkel der begeisterten Maiarbeiter genießen werden. So großzügigen Planens und so großzügigen Tuns ist nur eine zukunftssichere, revolutionäre, vom höchsten Idealismus erfüllte Klasse fähig, nicht apathische Massen, die sich brutalem Terror fügen, aber auch nicht eine Ausbeuter- und Herrenclique, deren Losung ist: nach uns die Sündflut.

Und welch unbeugsames, ehernes revolutionäres Wollen spricht aus der kommunistischen Samstags- und Sonntagsarbeit. Es waren Tausende der edelsten, überzeugtesten Kommunisten, die mit diesem freiwilligen unvergüteten Schaffen begannen, das bald als selbstverständliche Parteipflicht und unerlässliche Parteiehre betrachtet wurde. Heute sind es in ganz Russland Ungezählte, die samstags und sonntags zu solcher Arbeit in die Betriebe, die Krankenhäuser, öffentlichen Anstalten, hinaus in den Wald zum Holzfällen und Holztransportieren ziehen. Diese freiwillige Mobilisation eines Arbeitsheeres hat kein Seitenstück in der Geschichte. Welche Kraft und Freudigkeit von ihr ausgeht, das verrät der jubelnde Klang der Internationale, die von Werkstätten und Höfen beim Mühen und auf der Straße von heimziehenden Gruppen gesungen wird. Stolz, froh schreiten diese daher, Männer und Frauen. “Sieh die Mädchen so frank und die Männer so frei, als wär‘ es ein adlig Geschlecht.” Jawohl, es ist ein adlig Geschlecht, das von freiwilligem Wirken zurückkehrt — ein Geschlecht, das sich in Kampf und Arbeit für die Revolution mit eigener kraftvoller Hand den Adelsbrief geschrieben hat.

[…]

Hier webt und wirkt die Revolution, hier spürt man ihren heißen Odem. In Russland erscheint die revolutionär kämpfende Vorhut nicht als eine scharf abgegrenzte Elite des Proletariats, sondern als ein organischer Teil der ganzen Klasse, die revolutionär empfindet, denkt und kämpft. Die Stützen und Träger der kommunistischen Sowjetmacht sind nicht gedankenlose Massen, die sich von dem “Moskauer Terrorismus” leithammeln lassen. Das können sich nur die Kautsky und ihre vermehrte, aber nicht verbesserte Neuauflage der Dittmänner einreden. Stütze und Träger der kommunistischen Sowjetmacht ist das revolutionäre russische Proletariat in seiner Gesamtheit. Die Ausgebeuteten Deutschlands, der ganzen Welt können von diesem Proletariat lernen. Es hat ihnen gezeigt, dass es nicht genügt, die Welt anders als bürgerlich zu erklären, dass es jetzt darauf ankommt, die Welt revolutionär zu verändern. Das russische Proletariat philosophiert mit Schwert und Kelle.

Moskau, den 3. Oktober 1920.

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