Clara Zetkin 19211214 Die „Märzverbrecher“

Clara Zetkin: Die „Märzverbrecher“

(Dezember 1921)

[„Kommunist, Organ der Kommunistischen Partei Württembergs“, 14./15. Dezember 1921]

Die „Freiheit“ hat die „Enthüllungen“ des Vorwärts über die bei mir beschlagnahmen Dokumente und Paul Levis Erklärung dazu zum billigen Anlass genommen, um den Arbeitern oder wenigstens ihren Lesern meine jetzige politische Nichtswürdigkeit also zu bescheinigen:

In sehr merkwürdigem Lichte — gelinde gesagt — erscheint die Rolle, die Clara Zetkin in der ganzen Affäre gespielt hat. Sie lässt sich nicht nur als deutsche Reichstagabgeordnete die Papiere wegnehmen, sondern sie verzichtet auch darauf, ihre Freunde darüber zu unterrichten, dass die höchst belastenden Dokumente in die Hände der Polizei geraten sind. Und das schlimmste ist: sie arbeitet weiter mit der fürchterlich bloßgestellten Gesellschaft zusammen. Man versteht es einfach nicht, wie eine Frau, die in der Vergangenheit einmal den Ruhm einer Führerin der deutschen Arbeiterbewegung besaß, sich dazu hergeben kann, die Verbrechen ihrer jetzigen Genossen zu verschwiegen und mittelbar gutzuheißen.“

Am liebsten würde ich diesen Ausdruck aufrechter Grundsätzlichkeit und persönlichen Anstands unbeachtet lassen. Seit ich mich das Verbrechens schuldig gemacht habe, nicht in Herrn Hilferdings Fußstapfen unter den Palmen der USPD-Auffassung zu wandeln, bin ich es gewohnt, für die „Freiheit“ so etwas wie der Türkenkopf des alten Jahrmarktsspiels zu sein, am dem sie ihre Kraft durch Draufschlagen misst. Jedoch die „Freiheit“ will mit ihrem jüngsten Schlag unstreitig über mein schuldiges Haupt hinweg die Kommunistische Partei treffen. Deshalb sehe ich mich zu dieser Antwort veranlasst.

Der „Freiheit“ allein scheint der Kampf unbekannt geblieben zu sein, den ich monatelang innerhalb der KP und vor der Öffentlichkeit gegen die Theorie und Praxis der „revolutionären Offensive“ geführt habe. Im Zusammenhang damit habe ich mich unzweideutig gegen putschistische Neigungen und Einstellungen erklärt, gegen individuelle Terrorakte als Mittel des revolutionären Klassenkampfes. Die von mir nach der Märzaktion dem Zentralausschuss vorgelegte Resolution lehnte ausdrücklich „die revolutionäre Gymnastik in der Parteistube“ ab. Überall und stets habe ich betont, dass unsere Parteiaktionen auf Massenaktionen eingestellt sein müssen, dass aber putschistische und terroristische Akte nicht die Massen um die Kommunistische Partei sammeln, vielmehr von ihr entfernt halten. Scharf habe ich nachgewiesen, dass die proletarischen Massen mit politischen Mitteln mobilisiert und in den Kampf geführt werden müssen und nicht mit terroristischen Mitteln für den Kampf gewonnen werden können. Akte des individuellen Terrors können Massenaktionen weder erzeugen noch steigern, geschweige denn ersetzen. Der dritte Weltkongress der Kommunistischen Internationale hat die putschistische Taktik mit der nötigen Bestimmtheit verworfen. Ich glaube ohne Überhebung behaupten zu dürfen, dass auch ich mein Teil dazu beigetragen habe, dass putschistische und terroristische Anwandlungen innerhalb der KP niedergerungen worden sind, und dass sich diese rückhaltlos auf den Boden der Moskauer Beschlüsse gestellt hat. Es ist der Partei ernst mit dem Halten dieser Beschlüsse, mit der Abkehr von jedem Putschismus. Das hat ihre Politik der letzten Monate bewiesen. Der „Freiheit“ dürfte es schwer werden, nur ein einziges Beispiel dafür anzuführen, dass die Partei putschistische Losungen ausgegeben hat, dass Genossen „rückfällig“ geworden sind und versucht haben, proletarische Massen durch Akte individuellen Terrors zu mobilisieren.

Was die einzelnen terroristischen Handlungen anbelangt, so vertrete ich heute wie während der Märzaktion und je die Auffassung, dass sie nicht an der Elle bürgerlicher Moral gemessen, verdammt oder verherrlicht werden dürfen. Sie sind geschichtlich zu verstehen und zu werten. Sie sind im allgemeinen charakteristische Anzeichen einer politischen, sozialen Atmosphäre, die mit revolutionärem Zündstoff geladen ist, ohne dass die revolutionäre Energie der ausgebeuteten und unterdrückten Klasse sich in Massenbewegungen, gewaltigen revolutionären Massenkämpfen entlädt. Während der Märzaktion waren die meisten terroristischen Akte Ausdruck der Verzweiflung an den Massen, mangelndes Vertrauen zu ihnen, gleichzeitig aber auch das unfreiwillige Eingeständnis, dass es der KPD an Kraft und Fähigkeit gefehlt hatte, durch politische Mittel die Massen zu erfassen und zu sammeln, für den Kampf um Ziele, die von ihnen als Lebensnotwendigkeiten erkannt wurden.

Gewiss! Im Verlauf der Märzaktion kamen auch terroristische Taten anderer Art vor, die jederzeit bei revolutionären Massenkämpfen als strategische Mittel aufgedrungener Notwehr vorkommen werden und ihre Rechtfertigung in sich tragen. Wenn das kämpfende mitteldeutsche Proletariat einen Panzerzug mit Bewaffneten isolierte, indem es die Eisenbahngleise vor und hinter ihm zerstörte, so dürfte das selbst die Billigung des waschechtesten Antiputschisten in der Redaktion der „Freiheit“ finden.

Auf dem Boden der umrissenen geschichtlichen Auffassung allein kann auch die moralische Wertung von Terrorakten zu ihrem Rechte kommen. Je nach der Art, dem gesamten Um und Auf einer solchen Tat kann sie beurteilt werden als eine Äußerung höchster , selbstverleugnender Unterordnung der Persönlichkeit unter ein Ziel, eine Idee, als leichtfertige, verbrecherische Phantasterei und Spielerei, oder auch als Tat dumpfer, gefühlloser Rohheit und Vernichtungswut. So sei z.B. erinnert an die leidensvollen Seelenkonflikte, in denen sich russische Sozialrevolutionäre in den Jahren des Terrors zu Attentaten entschlossen haben. Turgenjew hat diese Konflikte mit wundervoller Meisterschaft in dem kleinen Gedichte in Prosa gestaltet, das unter dem Titel „die Schwelle“ oder auch „Vor dem Vorhang“ ins Deutsche übertragen worden ist.

Die „Freiheit“ lässt sowohl die marxistische Denkweise als auch die Wahrhaftigkeit vermissen, wenn sie von Verbrechen meine jetzigen Freunde und Genossen spricht, die ich verschwiegen oder mittelbar gutgeheißen haben soll. Mit aller Schärfe und Freimütigkeit habe ich die Märzaktion beurteilt, habe gekennzeichnet und bekämpft, was meiner Auffassung nach ihre Schwächen, ihre großen Fehler waren, habe ich auch meine persönliche Meinung über die einzelnen terroristischen Akte einzelner Genossen ausgesprochen. Aber freilich! Ich habe es nicht als meine Aufgabe betrachtet und würde es für Schufterei gehalten haben, der Bourgeoisie und ihrer Justiz die Taten oder Äußerungen von Genossen zu denunzieren, die aus einer irrigen geschichtlichen Einstellung heraus in der ehrlichen Überzeugung gefehlt haben, der Sache des Proletariats zu dienen. Die „Freiheit“ scheint in dieser Beziehung allerdings anderer Ansicht zu sein. Wie könnte sie anders mit Behagen den Ausruf wiedergeben, den Genosse Eberlein angesichts der Sipo gemacht haben soll: „Endlich haben wir sie soweit!“

Sicherlich ist es notwendig, dass die KPD nicht den geringsten Zweifel bestehen lässt über ihre Verwerfung des Putschismus und terroristischer Akte als revolutionäres Kampfesmittel. Denn nur politische Kindlichkeit kann als Symbol und Bürgschaft dieser Verwerfung in der strikten Durchführung der antiputschistischen Politik die Ausstoßung einzelner kompromittierter Genossen aus der Partei oder wenigstens aus der Zentrale fordern. Wenn die Beschlüsse des Weltkongresses oder des Jenaer Parteitags, wenn der Wille der großen Parteimehrheit nicht wegsichre kommunistische Politik statt bakunistischer Politik sicherstellt, dann wird die Haltung der Partei auch nicht dadurch verbürgt, dass statt eines terrorverdächtigen „X“ ein „levitisch“ geeichter „Y“ in der Zentrale sitzt.

Doch davon abgesehen. In der gegenwärtigen Situation — innerhalb der Partei und außerhalb ihrer — wäre es ebenso unpolitisch als schimpflich, wenn wir Auge in Auge mit der bürgerlichen Klassenjustiz und ihrem Terror nicht solidarisch zu den Genossen stehen würden, die in guter Absicht gehandelt und gefehlt haben. Durch eine nachträgliche persönliche Rache- und Strafpolitik würde die Partei sich selbst schlagen. Genosse Eberlein — um konkret zu reden — hat versichert, dass er nicht daran denkt, sich dem bürgerlichen Gericht zu entziehen, obgleich er mit Fug und Recht dessen Kompetenz bestreitet, über revolutionäre Kämpfer zu urteilen. Er hat sich auf den Boden der antiputschistischen Politik der Partei gestellt und erklärt, dass sein Vorgehen in Halle — obgleich es im Zusammenhang mit ganz bestimmten Umständen verstanden werden müsse — ein Fehler gewesen sei, dessen Wiederholung eine geklärte politische Einstellung ausschließe. Was will man mehr? Soll seine politische Leiche als Triumphzeichen bürgerlicher Auffassung in die Arena geschleift werden? Die Frage stellen, heißt sie beantworten.

Man vergesse das eine nicht: Genosse Eberlein ist von der Partei zu Jena in die Zentrale gewählt worden, nicht wegen seines schweren politischen Irrens im Feuer der Märzaktion, sondern trotz dieses Irrens und durch seine Wahl wollte eine Mehrheit der Delegierten den entschiedenen Willen zum Ausdruck bringen, keinen Kompromiss mit offenen oder verhüllten opportunistischen Tendenzen einzugehen, die Aktionsfreudigkeit der Partei zu steigern. Wir haben diesen Willen zu achten. Und Genosse Eberlein ist doch wirklich nicht nur der „Märzverbrecher“. Ihm fällt persönlich ein großes Teil Verdienst daran zu, dass die Partei endlich mit der abenteuerlichen Romantik, mit der sog. M-P-Organisation aufgeräumt hat, die gerade während der Märzaktion so unheilvoll in die Ereignisse eingegriffen hat. Nebenbei! Sollte die so gut mit Zuträgereien über die KPD bediente „Freiheit“ nicht wissen, was betreffs dieser M-P-Organisationen Hanswursts Geheimnis ist? Nämlich, dass diese Spielerei — nachdem die alte KP sie bis auf ganz geringe Überreste bei einzelnen überwunden hatte — bei der Vereinigung in der VKPD zu neuem Leben erweckt wurde und systematisch propagiert werden sollte, angeordnet durch Genossen, die der „Freiheit“ einst selbst sehr nahe standen und vielleicht heute wieder, als auf dem Weg nach Damaskus begriffen, ihrem Herzen teuer sind?

Der „Freiheit“ steht es am letzten an, sich darüber sittlich zu entrüsten, dass in der KPD Leute geduldet werden, deren Vergangenheit mit terroristischen Akten behaftet ist. An der Spitze der Internationale 2½ — von den Hilferdingen hoch geehrt — steht Fritz Adler, der einzige Führer dieses Zwittergebildes, der eine Zeit lang die Herzen von Proletariern aller Länder entflammt hat, dank einer Tat des Terrors. Was immer dieser Tat ihr besonderes Gepräge gegeben haben mag, sie ist gleichen geschichtlichen Wesens wie die Irrungen der „Märzverbrecher“.

Der „Freiheit“ kam es jedoch darauf nicht an, geschichtlich gerecht zu sein. Sie verfolgt ein anderes Ziel. Den Mitgliedern der USP, den Arbeitern überhaupt, mit der Nachbarschaft der „Märzverbrecher“ vor der proletarischen Einheitsfront gruselig zu machen. Welches „Feingefühl“ auf einmal! Trotz Görlitz und Stinneskoalition in Preußen ist die „Freiheit“ nicht müde geworden, in aufdringlicher Weise für die USPD um die Bundesbruderschaft mit der SPD zu werben. So aufdringlich, so grundsatzlos und würdelos zu werben, dass in der Mitgliedschaft ihrer Partei sich starker Protest dagegen regt. Die „Freiheit“ hat sich bei der Verschwendung ihrer Liebesmüh an die SPD durchaus nicht durch die belastete Vergangenheit einzelner Führer schrecken lassen. Weder das Wissen von Scheidemanns blutbesudelter Durchhaltepolitik noch von Noskes Arbeitermetzeleien, oder von Hörsings und Severings Provokationen macht in den Augen der „Freiheit“ bündnisunfähig, bringt ihr sittliches Gefühl in Wallung. Natürlich! Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe. Eines ist es, wenn Arbeiterblut vergossen wird, in dem ehrlichen Glauben, aber mit irrigen Mitteln, den Kapitalismus bekämpfen und stürzen zu wollen, ein anderes, Arbeiterblut vergießen zu machen, um die bürgerliche Ordnung und das bürgerliche Eigentum zu schützen und zu stützen. Das eine ist ein „Verbrechen“, das man in tiefster moralischer Empörung brandmarkt, das andere ein zwar unschöner, doch geschichtlich verständlicher Irrtum, von dem man unter Brüdern nicht spricht. Die „Freiheit“ holt für die Vergangenheit falsches Maß und Gewicht aus ihrem Sack, um die nach der Einheitsfront verlangenden Proletarier um ihre Gegenwart und ihre Zukunft zu betrügen. Denn Gegenwart und Zukunft der Ausgebeuteten und Unterdrückten liegen in ihrer Einheitsfront beschlossen. Die „Freiheit“ hat das Recht verwirkt, über die „Märzverbrecher“ zu Gericht zu sitzen. Dieses Recht steht allein den Proletariern zu. Sie werden aber nicht allein über uns arme Sünder urteilen, sondern auch über die neunundneunzig Mal gerechte „Freiheit“.

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