Clara Zetkin: Für den Ausschluss des Imperialisten Hildebrand (21. September 1912) [Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Chemnitz vom 15. bis 21. September 1912, S. 493f., 505f.] I. Ich möchte Ihnen dringend abraten, die Angelegenheit zu vertagen. Lassen Sie sich von einer Entscheidung nicht durch den Hinweis abhalten, dass die Angelegenheit den Parteitag nach sehr lange beschäftigen müsste, und dass dadurch zahlreiche Delegierte etwa verhindert werden könnten, so zeitig abzureisen, wie sie es möchten. Meines Erachtens ist die Sache schon sehr ausgiebig geklärt worden durch die verschiedenen Darlegungen, die wir hier gehört haben. (Sehr richtig!) Wie liegen die Dinge denn eigentlich? Wir sind nicht hier, um zu entscheiden übe die wissenschaftliche Bedeutung, über die wissenschaftliche Richtigkeit oder über die wissenschaftliche Irrtümlichkeit der Theorien, die Hildebrand entwickelt hat. (Sehr richtig!) Wir haben uns hier lediglich mit der politischen Seite dieser Angelegenheit zu befassen. (Sehr richtig!) Es kommt dabei auch nicht in Betracht, dass bei einer Vertagung das Buch in der Zwischenzeit erst recht viel gelesen werden würde. Wenn Sie in einem Jahre oder in zwei Jahren sich mit der Sache wieder beschäftigen wollten, ich gehe eine Wette ein, dass ich wahrscheinlich nicht alle zehn Finger meiner Hände brauchte, um diejenigen Genossen aufzuzählen, die unterdessen das ganze Buch gelesen hätten. (Sehr richtig! und Widerspruch.) Und zwar nicht etwa aus mangelndem Respekt vor der Wissenschaft, vielmehr, weil die Mehrzahl der politisch organisierten und kämpfenden Genossen sich nicht mit der wissenschaftlichen Seite der Sache beschäftigt, sondern mit ihrer politischen. (Sehr richtig!) Wir sind auch gar nicht so anmaßend, dass wir als große wissenschaftliche Phänomene und wissenschaftliche Leuchten über das Buch entscheiden wollten. Wir sind hier als ganz simple politische Kämpfer, um bestimmte praktische Konsequenzen dieser Theorien zurückzuweisen. (Heilmann: wir sind eine wissenschaftliche Partei!) Es handelt sich hier nicht um die wissenschaftliche Überzeugung Hildebrands, die lassen wir unangetastet. Seine praktische Betätigung aber ist es, die den Anstoß zu der ganzen Frage gegeben hat. (Weill: Dann muss Pannekoek auch ausgeschlossen werden!) Vertagen wir, dann wird die Angelegenheit im Laufe eines Jahres nach der wissenschaftlichen Seite nicht mehr geklärt sein als heute, sondern nur noch verwirrter, dunkler werden. (Sehr richtig!) Es ist betont worden, dass ja die praktische Betätigung Hildebrands bis jetzt noch keine großen Schaden angerichtet hätte, weil die praktischen Schlussfolgerungen seiner Ansichten von den Genossen energisch abgelehnt worden seien. Ja seit wann müssen wir denn erst den Schaden abwarten? (Sehr richtig!) Es wäre gerade für uns als Realpolitiker ein Gebot der Notwendigkeit, hier mit einem bloßen Achselzucken den Schaden abzuwehren, der später zu heißen inneren Kämpfen in der Partei führen könnte. Vor dem ersten Schritt sollte man sich hüten. Ich würde es auch bedauern, wenn der ganze kolossale Aufwand an Zeit und Kraft umsonst sein sollte, der gemacht worden ist, um die Sache auf diesem Parteitag zu klären; wenn die ganze Arbeit noch einmal getan werden müsste, und die Beunruhigung in der Partei weiter andauern würde. (Sehr richtig! und Lachen.) Lassen Sie sich nicht dadurch beirren, dass, wenn Sie heute entscheiden, vielleicht ein großes Wehklagen angeht, die Freiheit der Wissenschaft sei beeinträchtigt worden. Der Wissenschaft mag Hildebrand weiter leben, das ist sein gutes Recht. Aber der Freiheit der Meinung des einzelnen steht gegenüber das lebendige Interesse der Partei, innerhalb derer wir es zu keinen Abirrungen kommen lassen dürfen, die die Einheitlichkeit der Aktion stören. (Zuruf: Pannekoek!) Die Partei ist nicht der Saal, in dem liebenswürdige und interessante Schwarmgeister tanzen können. Das Gebäude ist eine Festung, in der wir alle einig und gerüstet stehen und kämpfen müssen. (Lebhafter Beifall.) II. Persönliche Bemerkung Genosse Heine hat behauptet, ich hätte eine unzulässige Unterscheidung zwischen Meinungsfreiheit und Forschungsfreiheit gemacht. Ich stelle fest, dass ich zu dieser subtilen Frage überhaupt nicht gesprochen, sondern lediglich gegen Gradnauer geltend gemacht habe: es handelt sich um eine politische und nicht um eine wissenschaftliche Frage. (Sehr richtig!) Weiter hat Genosse Heine den sehr schweren Vorwurf gegen mich erhoben, ich hätte durch meine Äußerungen die Partei auf mindestens zehn Jahre hinaus geschädigt. Ich weise diesen Vorwurf in der Hoffnung zurück, dass die Partei an meinen Ausführungen nicht schwerer zu tragen haben wird, als an den verschiedenen Äußerungen und Stellungnahmen des Genossen Heine auf dem breiten Boden sozialdemokratischer Meinungsfreiheit. (Lebhafter Beifall. — Unruhe. — Heine ruft: faule Retourkutsche!) |