Clara Zetkin 19110313 Unser Märzentag

Clara Zetkin: Unser Märzentag

[Nach „Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“, Nr. 12, 13. März 1911, S. 177-179]

Der 19. März wird – des sind wir sicher – zu einem wichtigen Datum in der Geschichte des Kampfes für das Frauenwahlrecht werden, In Deutschland und Österreich hat die Sozialdemokratie die arbeitenden Frauen aufgerufen, an diesem Tage sich zu erheben und um das rote Bonner geschart ihren festen Willen zu bekunden, sich unverkümmertes Bürgerrecht zu erobern. Hinter dem Frauentag steht in beiden Ländern die eine revolutionäre Arbeiterbewegung, wie sie sich in der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften verkörpert. Schon die Tatsache allein weist auf das hin, was durch den Inhalt, das Um und Auf der Veranstaltung scharf ausgeprägt wird: Dieser Kampf geht nicht um Weiberrecht in der engen bürgerlich-frauenrechtlerischen Auffassung, die sich für befriedigt erklärt, wenn die Kette der politischen Rechtlosigkeit des weiblichen Geschlechts nur „prinzipiell“ dadurch gelockert wird, dass die dünne Schichte der Frauen „von Besitz und Bildung" Stimmzettel und Wählbarkeit als Vorrecht ihrer Klasse erhält. Nein, sein Ziel ist Frauenrecht als Menschenrecht, als Recht der Persönlichkeit, losgelöst von jedem sozialen Besitztitel, sein Ziel ist daher erst erreicht, wenn die politische Knebelung des gesamten weiblichen Geschlechts „praktisch“ dadurch ein Ende nimmt, dass alle großjährigen Frauen unterschiedslos als Vollbürgerinnen anerkannt werden.

Der Kampf, der um solchen Preis entbrennt, ist in der Hauptsache ein Kampf der arbeitenden Frauen – ganz gleicht ob diese mit den Händen oder dem Hirn „pflügen“, ihren Rücken unter dem Joch der Erwerbsfron beugen oder au dem häuslichen Herde walten, auf dem des ausbeutenden Kapitals schwere Hand wuchtet. Als ein solcher Kampf bleibt er dem Ringen der Arbeiterklasse für eine vollkommene Demokratisierung des politischen Lebens eingeschweißt. Er erweist sich – wie wir in der letzten Nummer nachgewiesen haben – als ein Teil der geschichtlichen Mission, die das deutsche Bürgertum weder erfüllt hat, noch in den Tagen verschärfter Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit erfüllen will und kann. So müssen auch seine Schlachten von dem Proletariat geschlagen werden, das nun im Kampfe gegen Bourgeoisie, Junkertum und Halbabsolutismus bewusst und zielklar zu vollenden beginnt, was seine Väter in dem Sturm und Drang der vierziger Jahre im Bunde mit dem revolutionären Bürgertum gegen den Feudalstaat begonnen haben. In der Tat: das allgemeine Frauenwahlrecht ist die letzte Forderung, die zum Behufe einer wirklichkeitsfähigen Demokratie durchgesetzt werden muss. Unzerreißbare Fäden der organischen geschichtlichen Entwicklung verknüpfen daher den Kampf für dieses Recht mit den Märzentagen des tollen Jahres, aus die das Datum der sozialdemokratischen Veranstaltung hinweist. Dieses Datum ist von geschichtlicher Bedeutung. Am 19. März 1848 kapitulierte der preußische Absolutismus in aller Form vor der Macht der Straße, der Revolution. Es war am Morgen nach den glorreichen Barrikadenkämpfen in Berlin. Friedrich Wilhelm IV., der König der geschwollenen, frömmelnden absolutistischen Phrase war angesichts der wildprächtigen Erscheinung der Revolution demütig in die Knie gesunken. Er veröffentlichte das versprechensreiche Manifest an „seine lieben Berliner", die tags vorher von seinen sicher noch mehr geliebten Truppen erbarmungslos niederkartätscht worden waren; er verfügte, dass das Militär sofort zurückgezogen werde, während die Barrikaden noch trotzig als Zeichen der Volkskraft und des Volkswillens zum Kampfe emporragten. In der Gewitterstimmung der vierziger Jahre, die sich im Märzen 1848 endlich entladen hatte, war auch die Forderung der politischen Emanzipation des weiblichen Geschlechts verfochten worden.

Diese Forderung war nicht urplötzlich geharnischt aus einem genialen Haupte entsprungen, sie hatte sich langsam, fast unbeachtet, mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktion und den von ihr geschaffenen Vorbedingungen für die bürgerliche Gesellschaft entwickelt. Wir hören sie als ein Echo der Revolutionen, in denen sich die junge Bourgeoisie Englands und Frankreichs als Kämpferin für eine Weltwende mit den herrschenden Mächten der feudalen Ordnung maß. Der Glutodem der großen französischen Revolution trug sie über die Grenze nach Deutschland, wo sie 1792 in Theodor v. Hippel ihren Verteidiger fand. Doch welch ein Gegensatz! In England war die Forderung der politischen Rechtsgleichheit der Geschlechter von Frauen verfochten worden. Sie hatte vor allem in Mary Wollstonecraft ihre theoretische Begründerin gefunden, in den Kämpfen um das allgemeine Wahlrecht zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ihre Blutzeuginnen. Während der großen französischen Revolution forderte die reich begabte Olympe de Gouges in einer hinreißenden Rhapsodie der naturrechtlichen Ideologie für die Frauen volles Bürgerrecht als Menschenrecht. Sie und Rose Lacombe organisierten die Frauen, auf dass sie als geschlossene Macht die Gesetzgebung, das brandende Meer der politischen Ereignisse zu beeinflussen und ihr eigenes Recht zu erkämpfen vermöchten. Die ersten politischen Frauenvereine blühten empor, umschlossen zumal in Paris bald Tausende von Mitgliedern und suchten mit leidenschaftlichem Ungestüm – wenn auch mit unsicher tastender, ungeschickter Hand – in das geschichtliche Tagesgetriebe einzugreifen.

In Deutschland dagegen ertönte damals aus der Frauenwelt selbst kein lauter, zorn- und gerechtigkeitsbebenber Ruf nach der politischen Emanzipation des weiblichen Geschlechts. Und das, obgleich es am Ausgang des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nicht an hochragenden Frauengestalten fehlte, die, von den freiheitlichen Ideen der klassischen Kunst und Philosophie jener Zeit genährt, Religion, Ehe, Familie usw. vor den Richterstuhl ihrer Vernunft zogen und in ihrem persönlichen Leben wie in ihren literarischen Bekenntnissen allen sozialen Bindungen das Recht des Weibes als Recht der Individualität entgegenstellten. Es ist bezeichnend, dass die bedeutendste und reifste dieser Frauen, die geistreiche Rahel, sich gleichsam nur im stillen Kämmerlein für die volle Gleichstellung ihres Geschlechts aussprach. Die Berechtigung der Forderung hat sie bereits 1819 in die Worte gefasst: „Es ist Menschenunkunde, wenn die Leute sich einbilden, unser Geist sei anders und zu anderen Bedürfnissen konstituiert, und wir könnten ganz von des Mannes oder des Sohnes Existenz mit zehren." Rahels vielseitige Bildung und Geistesschärfe verleugnete sich auch darin nicht, dass die Lehre Saint-Simons, welche die Gleichberechtigung der Geschlechter verkündete, eine tiefe und nachhaltige Wirkung auf sie ausübte. 1832 bezeichnete sie in einem Briefe an Heinrich Heine den utopischen Sozialismus des genialen Franzosen als „das neue, groß erfundene Instrument, welches die große alte Wunde, die Geschichte der Menschen auf der Erde, endlich berührt". Sein Ziel war das ihre: „Die Erde verschönern: mein altes Thema. Freiheit zu jeder menschlichen Entwicklung: ebenso."

Die Forderung der Gleichwertung und Gleichstellung der Geschlechter, ein hervorstechender Charakterzug des utopischen Sozialismus, erklingt in Deutschland erst zu der Losung vollen Bürgerrechts für die Frauen, als die revolutionäre Glutwelle anschwillt, die sich 1848 donnernd gegen die feudale Ordnung erbebt. Revolutionäre Zeiten bringen den Frauen zum Bewusstsein, dass das Heim keine in sich abgeschlossene Welt ist, in deren Frieden sicher hausen wäre; es gleicht höchstens einem Gemach innerhalb des großen Baues der Gesellschaft. Wenn dieser Bau in seinen Fugen kracht, wenn seine Balken zu bersten drohen, wenn die tobenden Flammen durch seine Mauern rasen: dann empfinden auch die Frauen die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die des einzelnen Los im Guten und Schlimmen mit dem Geschick einer Gesamtheit, die die Familie mit dem Staate verbinden. Und mit ihrer und der Ihrigen Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Gewalten erkennen sie das schreiende Unrecht, dass ihnen das politische Recht und damit Macht mangelt, diese Gewalten zu lenken und zu gestalten. Deshalb hat die Revolution allzeit die Frauen als Kämpferinnen in die Geschichte eingeführt, deshalb haben die bürgerlichen Revolutionen den sonst Stummen die Zunge gelöst und den Mut der Recht begehrenden verliehen. In der gärenden, brausenden Zeit des Vormärzen, als der Feuertrunk revolutionärer Ideen in dem Blute der jungen deutschen Bourgeoisie rumorte, begannen auch die Frauen das Recht und die Pflicht zu heischen, als Vollbürgerinnen das Gemeinwohl zu fördern. 1844 wurde in Robert Blums „Vaterlandsblättern" die Frage aufgeworfen: „Haben auch die Frauen ein Recht zur Teilnahme an den Interessen des Staates?" „Ein Sächsisches Mädchen" bejahte die Frage in einem Artikel, der in dem Satze kulminierte: „Die Teilnehme an den Interessen des Staates ist nicht allein ein Recht, es, ist eine Pflicht der Frauen." Das sächsische Mädchen, das dem Sehnen der fortgeschrittensten ihres Geschlechts Ausdruck gab, war Luise Otto, eine Begründerin der bürgerlichen Frauenbewegung und bis an ihr Ende eine treue Bekennerin der Demokratie, für die sie in ihrer Jugend gekämpft und gelitten hat. Die Ereignisse bewahrheiteten ihr Wort: „Wenn die Zeiten gewaltsam laut werden, so kann es nicht fehlen, dass auch die Frauen ihre Stimme vernehmen und ihr gehorchen.“

Die Frauen werden hervorragende Trägerinnen der deutsch-katholischen Bewegung, in der ein Teil der bürgerlichen Revolutionsbestrebungen Leben und Gestalt gewinnt. Sie gründen zur Förderung dieser Bewegung eigene Vereine, sind aber auch in den deutsch-katholischen Gemeinden voll berechtigte Mitglieder. Ronge ruft die Frauen auf, auch sie müssten „ihr Teil am Kampf der Weltgeschichte fordern“. Mawida v. Meysenbug, die große Idealistin, der Besten eine, vertritt wie andere ihr Gleichgesinnte die Auffassung: „Wie könnte ein Volk sich selbst regenerieren und frei werden, wenn seine eine Hälfte ausgeschlossen wäre von der sorgfältigen, allseitigen Vorbereitung, welche die wahre Freiheit für das Volk ebenso wohl wie für die Individuen verlangt." In Hamburg entsteht um den Preis großer Opfer eine Hochschule für Frauen, die dieser Vorbereitungsarbeit dienen soll, Frauen treten in wachsender Zahl in die eigentliche politische Bewegung ein. In Sachsen und anderwärts folgen sie in der Kammer mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit den Verhandlungen, sie sind die begeisterten Teilnehmerinnen der politischen Feste, ihr schwärmerischer Enthusiasmus für die Sache der Demokratie befeuert die Dichter und ist unzweifelhaft von Einfluss aus die revolutionäre Lyrik der Zeit. Ausschüsse und Organisationen der Frauen zur Unterstützung der Freiheitsbestrebungen, später zur Unterstützung der revolutionären Kämpfer sprießen in großer Zahl empor. Eine Frau ruft den Frauen zu: „ein Schwert in Myrthen zu tragen,“ wenn „die Männer feige sünd'gen durch Zagen an dem Geist der Zeit.“ Frauenblicke tauchen in die Abgründe des sozialen Elends hinab, das die bedrängte zünftige Produktion und der sich reckende Kapitalismus über die Massen bringen und nicht zuletzt gerade über die Frauen des werktätigen Volkes. Luise Otto wird zur mutigen, nimmer verstummenden Sachwalterin der Spitzenklöpplerinnen und anderen Arbeiterinnen bei der sächsischen Regierung, vor der Öffentlichkeit. Ihre Losung vollen Bürgerrechts für die Frau paart sich mit ihrem Verlangen noch einer nationalen „Organisation der Arbeit", die auch der Lebensnotwendigkeit ihres Geschlechts gerecht wird, eine Forderung, die den Geist des utopistischen Sozialismus atmet. Frauen verfechten die Freiheitsforderungen literarisch, sie fehlen auch dort nicht, wo es zu revolutionärem Kampfe zwischen den absolutistischen Staatsgewalten und den politisch entrechteten Volksmassen kommt, und wie zu Heldinnen, so werden sie zu Märtyrerinnen ihrer demokratischen Überzeugung. Die bürgerliche Revolutionszeit ruft die erste politische Frauenzeitung Deutschlands ins Leben, die Luise Otto 1849 mit dem stolzen Motto erscheinen lässt: „Dem Reich der Freiheit werb' ich Bürgerinnen", und die 1852 als ein Opfer der Reaktion fällt, die dem Verrat des Bürgertums an der Revolution auf dem Fuße folgt. Der kurze Sieg der Demokratie über den Absolutismus in März 1848 ist auch Frauenwerk gewesen, und mit dem Proletariat zusammen sind die Frauen von der Bourgeoisie um ihr Recht betrogen worden.

Die Geschichte des Kampfes für das politische Bürgerrecht des weiblichen Geschlechts lenkt zwingend den Blick auf den politischen Verfall der deutschen Bourgeoisie. Hoffnungsfreudig muss er sich der Klasse zuwenden, die aus der Nacht und Not der Fabriken ins Licht der Geschichte emporsteigt. Ein neuer Märzenfrühling des demokratischen Gedankens ist angebrochen. Das klassenbewusste Proletariat trägt ihm unter Führung der Sozialdemokratie das Banner voran, aus dem auch die Forderung vollen Bürgerrechts für das Weib prangt. Der 19. März besiegelt das Bündnis, – das im Ringen für das volle Recht des weiblichen Geschlechts von je zwischen den arbeitenden Frauen und der Sozialdemokratie lebendig wirksam gewesen ist. Er bestätigt durch die Tat, dass das Bürgerrecht der Frau ein wesentlicher, unlösbarer Teil des proletarischen Klassenkampfes für die volle politische Demokratie bedeutet. Er proklamiert, dass die Eroberung dieses Rechtes nicht lediglich Frauensache ist, sondern ebenso Männersache sein muss, ein großer Rechtshandel der Menschheit, den bei uns das Proletariat zum Austrug bringt. Er sammelt die Massen, denen der Wille und die Kraft eignet, das zu tun. Er vertieft die Überzeugung, dass der Sieg in dieser einen Sache nichts mehr ist als eine Etappe im Ringen für die volle menschliche Befreiung des Weibes durch die soziale Revolution. Unser Märzentag, der über die Gegenwart hinaus in die Zukunft deutet, ist ein lebenstrotzendes Zeugnis für die geschichtliche Wahrheit von Bettina v. Arnims prophetisches Wort: „Nein! Kein Blutstropfen der Revolution ist umsonst geflossen; alles ist zu Geist geworben, er blüht jetzt wieder in der Menschheit".

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