Clara Zetkin: Notwendige Ergänzung (Januar 1901) [„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“, Nr. 2, 16. Januar 1901 und Nr. 3, 30. Januar 1901] I. Wie dringend notwendig und von welch‘ unendlicher Bedeutung für das weibliche Proletariat, ja für die gesamte Arbeiterklasse und die ganze Nation der gesetzliche Schutz der Arbeiterinnen und ihr Anschluss an die gewerkschaftliche Organisation ist, das haben wir wieder und wieder eingehend dargelegt. Gesetzgebung und Gewerkschaft zusammen, einander ergänzend und fördernd, müssen eingreifen, um dem ausbeutenden Kapital bei seiner gewissenlosen Ausnützung der weiblichen Arbeitskraft gewisse Schranken zu ziehen, die geboten sind durch die Rücksicht auf das lebendige Menschentum, das an der verkauften Arbeitskraft hängt und ein Recht auf Beachtung, auf Entfaltung und Betätigung hat; die geboten sind durch die Rücksicht auf die Besonderheiten des weiblichen Organismus und die Sonderaufgaben der Frau als Gattin und Mutter. Denn von seiner unstillbaren, maßlosen Profitgier gepeitscht, rennt das Kapital diese Schranken nieder, ohne sich auch nur einen Deut um die entsetzlichen Folgen zu kümmern, die über die Arbeiterin, ihre Kinder und ihr Familienleben hereinbrechen, das Proletariat in seinen gegenwärtigen und zukünftigen Interessen schwer gefährden und damit die gesamt Gesellschaft schädigen. Aber so unerlässlich und wertvoll all die Verbesserungen sind, welche die Macht des Gesetzes und die Macht der Gewerkschaft zu Gunsten der Arbeiterin zu erzielen vermögen, sie allein sind noch nicht ausreichend, um die Interessen der proletarischen Frauenwelt in der heutigen Gesellschaft wirksam zu wahren. Die Verhältnisse, in denen die Proletarierin lebt und webt, heischen gebieterisch, dass diese nicht bloß als wertschaffende Arbeitskraft in ihrer Erwerbstätigkeit gegen die kapitalistische Ausbeutung geschützt wird, sondern dass sie auch in ihrer Eigenschaft als Mutter und Hausfrau durch geeignete Reformen und Einrichtungen weitreichende Unterstützung und Förderung erfährt. Wir stehen der Tatsache gegenüber, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in immer größerem Umfang zur Berufstätigkeit der Frau führt. Die Industrie ergreift einen Zweig der früheren produktiven weiblichen Tätigkeit in der Familie nach dem anderen, verlegt ihn aus dem Hause in die Fabrik oder Werkstatt, entwindet ihn der Frau, dem häuslichen Universalhandwerker, und überträgt ihn an bestimmte Berufsarbeiter. Nach dem Spinnen, Weben und Färben das Einmachen von Obst und Gemüse, das Stricken der Strümpfe, das Nähen der Kleider etc. Das niedrige Einkommen der proletarischen Familie, der wachsende wirtschaftliche Verfall der mittel- und kleinbürgerlichen Schichten verhindern, dass die freigewordenen weiblichen Arbeitskräfte auf eine produktive Tätigkeit außerhalb des Hauses verzichten und sich ausschließlich der Sorge für eine behagliche und sittliche reichere Ausgestaltung des Familienlebens und der Pflege der Kinder widmen. Scharen von Frauen werden als Arbeitsuchende, als Brotsuchende auf den Markt getrieben. Die technische Entwicklung und steigende Leistungsfähigkeit der Arbeitsmittel, der Kraft- und Werkzeugmaschinen, die Fortschritte der Arbeitsverfahren ermöglichen eine zunehmende Verwendung weiblicher Arbeitskräfte in Industrie und Gewerbe, in Handel und Verkehr. Der „heilige Goldhunger“ der Kapitalisten verlangt nach billigsten und widerstandsschwächsten Lohnsklaven und bedingt, dass die Frau immer mehr nicht bloß neben dem Manne Beschäftigung findet, sondern statt seiner. Die Familie hört in der Folge immer mehr auf, ein wirtschaftliches Ganzes zu sein, in dem die Frau zum unmittelbaren Gebrauch der Angehörigen produktive Arbeit leistet. Die nötigen Gebrauchsartikel werden außerhalb des Hauses erzeugt und müssen gekauft werden. Damit wird für die Frau die Notwendigkeit geschaffen, durch produktive Arbeit außerhalb des Hauses für ihren Unterhalt aufzukommen und ihr Teil zur Existenzmöglichkeit der Familie beizutragen. Allein die geltende Ordnung der Dinge bewirkt, dass die wertschaffende, erwerbende Berufstätigkeit der Frau nicht bloß ergänzend neben das Wirken in der Familie und für die Familie tritt und diesem sein volles Recht werden lässt. So lange die Arbeit nicht frei ist, steht der tote Besitz über den lebendigen Menschen, unterwirft ihn seinen Gesetzen und verknechtet ihn. Der Gegensatz zwischen Reichen und Armen, Ausgebeuteten und Ausbeutendem der durch die Jagd nach Profit entfesselte Kampf Aller wider Alle bedingen, dass die Berufstätigkeit der Frau — wie die des Mannes — nicht bloß eine bestimmte, eng begrenzte Summe der Kräfte aufsaugt und verzehrt, vielmehr den größten und besten Teil derselben. In unseren Tagen dient der Beruf weniger dem Menschen, als dass der Mensch dem Berufe dienen muss. So wird auch die Frau durch die ungeschriebenen, aber ehernen Gesetze des Wirtschaftslebens gezwungen, ihr Sein und Tun der Berufstätigkeit unterzuordnen, will sie sich im Konkurrenzkampf behaupten und nicht von „Leistungsfähigeren“, die sehr oft nur die Skrupelloseren sind, verdrängen lassen. Für die berufstätige Proletarierin, die durch ihre produktive Arbeit zur Lohnsklavin wird, verschärft die kapitalistische Ausbeutung die aufgezeigten geltenden Tendenzen aufs Äußerste. Wohl bedeutet es eine Ersparnis an Zeit und Kraft, wohl bedeutet es eine höhere Ergiebigkeit der Arbeit, dass die Frau nicht mehr mit den armseligen Arbeitsmitteln der großväterlichen Zeit schafft, sondern mit den modernen vollkommeneren Werkzeugen. Aber die Vorteile der Veränderung mehren in der Hauptsache nur den Reichtum der Arbeitsherrn, sie kommen nicht der Arbeiterin, nicht ihrer Familie zu Gute. Nicht behäbiger Wohlstand zieht in die proletarische Familie ein, und statt dass eine körperlich und geistig frische Hausfrau mehr Zeit und Sorgfalt auf die gesunde und angenehme Ausgestaltung des Heims, die Pflege des Familienlebens, die Erziehung der Kinder zu verwenden vermöchte, ist die abgehetzte, überanstrengte Lohnsklavin gezwungen, den Ihrigen auch das Notwendigste an Fürsorge zu schmälern und zu entziehen. Dazu noch eins. Die Dürftigkeit des proletarischen Einkommens schließt es aus, dass die proletarische Hausfrau, der bürgerlichen Dame gleich, sich alle Vorteile und Einrichtungen dienstbar macht, welche in unseren Tagen die Haushaltsgeschäfte vereinfachen und erleichtern können. Kein Telephon nimmt ihr Bestellungen und Einkäufe ab. Kein Wirtschaften aus vollem Beutel ermöglicht den Einkauf im Großen und das Zustellenlassen der Waren durch die Lieferanten; nur zu oft muss ja pfennigweise und auf Borg eingeholt werden. Die proletarische Mietskaserne hat fast nie Zentralheizung und Zentralbeleuchtung, günstig genug, wenn sie mit Wasserleitung versehen ist. Die Küche — falls eine solche vorhanden — ermangelt vielfach des Kochgases und anderer arbeitssparender Einrichtungen die in „besseren Häusern“ für selbstverständlich gelten. Die proletarische Hausfrau ist ferner außer Stande, die häuslichen Arbeiten, die Pflege und Erziehung der Kinder auf Mietspersonen abzuwälzen. Keine Köchin, kein Zimmermädchen, keine Amme und keine Erzieherin nehmen ihr die Aufgaben ab. Zweierlei sind die Folgen der geschilderten Zustände. Die Proletarierin wird zur steten Überspannung ihrer Kräfte angespornt. Durch Doppelpflichten belastet kennt sie keine Minute der Ruhe, der Erholung; dem Arbeitstag reiht sich die Arbeitsnacht an. Eine vorzeitige Erschöpfung der Gesundheit und Lebenskraft ist unausbleiblich. Und das ist leider noch nicht alles. Trotz der übermenschlichen Anstrengung vermag die Proletarierin den Aufgaben in der Familie, zumal aber den Kindern gegenüber, nicht zu genügen. Kaum dass sie die gröbsten wirtschaftlichen Arbeiten bewältigt: das Scheuern, Waschen, Flicken, Kochen, die Sorge für der Kinder leibliche Nahrung und Notdurft. Gerade aber die tieferen und wichtigeren Aufgaben der Gattin und Mutter leiden Not. Es mangelt an Zeit, Ruhe und Behaglichkeit, um durch Gedankenaustausch mit dem Manne, um durch eingehende Beobachtung und verständnisvolle Leitung des erwachsenden kindlichen Geistes dem Familienleben seinen ganzen reichen Inhalt zu geben, ihm seine edelsten und beglückendsten Seiten abzugewinnen, es zu einer starken gefestigten geistigen und sittlichen Einheit zu gestalten. Am tiefsten und nachhaltigsten leiden darunter die hilfsbedürftigen Glieder der Familie, die Kinder. Der Tod Tausender von Kleinen, das Verkommen anderer Tausende sind des‘ Zeuge. Gewiss, dass der gesetzliche Arbeiterinnenschutz und die gewerkschaftliche Organisation an den aufgezeigten Missständen Manchen, ja Vieles zu bessern vermögen. Aber doch nicht genügend. Ergänzend muss neben die Aktion der Gesetzgebung und der Gewerkschaft diejenige der Gemeinde treten. Die Gemeinde muss Reformen und Einrichtungen schaffen, welche der Proletarierin, der erwerbstätigen Frau unmittelbar als Hausfrau zu Gute kommen. Es gilt auch dieser alle Einrichtungen nutzbar zu machen, welche die Führung des Haushalts vereinfachen und erleichtern. Es gilt größeren Betrieben wirtschaftliche Arbeiten und Aufgaben zu überweisen, welche hier vorteilhafter — mit Ersparnis an Zeit, Kraft, Mitteln und in besserer Qualität — geleistet werden können, als in dem ärmlichen proletarischen Einzelhaushalt. Es gilt Einrichtungen ins Leben zu rufen beziehungsweise auszugestalten, welche der Fürsorge für die Kinder der erwerbstätigen Frauen dienen, ihnen Pflege, Unterhalt, Überwachung, Erziehung in den Tagesstunden bieten, wo die Familie sich ihrer nicht genügend anzunehmen vermag. Damit aber sind die Maßregeln kommunaler Sozialpolitik zu Gunsten der Proletarierin als Hausfrau und Mutter keineswegs erschöpft, wie wir in einem folgenden Artikel zeigen werden. II. Der Entwicklungsprozess, welcher die Familie als feste wirtschaftliche Grundlage für die Existenz der Frau zerstört, nimmt gleichzeitig der Familie und der Frau. Wie die kapitalistische Ausbeutung bewirkt, dass die proletarische Frau ihrer Familie nicht genügend zu sein und für sie nicht alles zu leisten vermag, was Herz und Pflicht gebieten, so bedingt sie auch andererseits, dass die proletarische Familie immer mehr außer Stande gesetzt wird, ihren weiblichen Angehörigen in den Tagen der Bedrängnis und Hilfsbedürftigkeit Pflege und Schutz zu gewähren. Am empfindlichsten wird die Frau dadurch gerade in den Zeiten getroffen, wo sie im Hinblick auf ein zweites Leben der Rücksichtnahme und Fürsorge besonders bedarf: in den Zeiten der Schwangerschaft und des Wochenbetts, in den Zeiten, wo die Mutter in erster Linie ihrem Kinde gehören müsste. Alles, was die Proletarierin in diesem Tagen entbehren muss, weil ihre Familie ohnmächtig ist, den erforderlichen Beistand zu gewähren, das trifft über die Person der Frau hinaus das Kind im Mutterschoße, den Säugling. In der schutzbedürftigsten Zeit sind Mutter und Kind schutzlos! Schwangerschaft und Mutterschaft verbürgen in der Regel der Proletarierin kein höheres Maß an Pflege und Schutz, sondern im Gegenteil; ein Anwachsen der Arbeiten, Sorgen und Entbehrungen. Die zeitweilige Erwerbslosigkeit der Frau, die durch das Wochenbett bedingten Mehrausgaben, die Inanspruchnahme von Zeit und Mitteln durch die Säuglingspflege: verschlechtern ja die Lage der Familie und machen sie dann am leistungsunfähigsten, wenn ihre Leistungen am nötigsten und bedeutsamsten sind. Bis zur letzten Minute vor ihrer schweren Stunde und weit früher als der Organismus wieder genügend gekräftigt ist, muss die proletarische Schwangere und Wöchnerin hart schaffen, wenn nicht als Arbeiterin in der Fabrik, so als Hausfrau im ärmlichen Heim, in zahlreichen Fällen hier und dort zusammen. Nicht vorhanden ist für sie, was die Wissenschaft an Maßnahmen und Hilfsmitteln zum Schutze des weiblichen Körpers in dieser Zeit fordert und bietet. Unkenntnis über den Bau und die Funktionen des Körpers, über die notwendige Hygiene, jämmerliche Wohnverhältnisse und Mangel an Mitteln wirken zusammen, um die Gefahren des Wochenbetts für die Proletarierin zu steigern und ihr nur ein Minimum von Pflege zu sichern. Unter welch ungünstigen, oft geradezu furchtbaren Verhältnissen Schwangerschaft und Wochenbett der ledigen Mutter stattfindet, darauf sei nur hingewiesen. Toter Buchstabe bleibt ebenfalls, was die Wissenschaft vorschreibt, um eine gedeihliche Entwicklung des Kindes vor der Geburt und im Säuglingsalter zu fördern. Das Kind, dessen Gesundheit durch die Überanstrengung und Entbehrungen der Mutter geschädigt worden ist, noch ehe es in diese „beste aller Welten“ kam, erhält nur selten die natürliche Nahrung. Die elenden Bedingungen, unter denen die Proletarierin heranwächst, rauben ihr nur zu oft die Fähigkeit, stillen zu können. Und wo dies nicht der Fall ist, da reißt die Not den Säugling von der nährenden Mutterbrust, denn sie peitscht die Frau in die Fabrik oder Werkstatt, kaum dass sie das Wochenbett überstanden. Um aber die künstliche Ernährung des Kindes ohne die ihr anhaftenden Gefahren durchzuführen, dazu mangelt der Proletarierin meist nicht mehr als alles. Es fehlt ihr an Mitteln, die beste Milch und die Sterilisierungsapparate zu kaufen, es mangelt ihr die Zeit, der Aufpäppelung des Kleinen die nötige Sorgfalt zu widmen, es gebricht ihr an den Kenntnissen, um die volle Bedeutung der peinlichen Sauberkeit, der Gesamtheit all der hunderterlei kleinen Maßregeln und Handgriffe zu würdigen, welche die Rücksicht auf die günstige Entwicklung des Kindes gebietet. Die wenigsten Familien sind im Stande, dem Kinde für die entzogene mütterliche Pflege und Behausung auch nur annähernd Ersatz zu beschaffen. Ältere Geschwister, die oft noch nicht das schulpflichtige Alter erreicht haben, alte, gebrechliche Anverwandte, die wieder kindisch werden und selbst pflegebedürftig sind, gutmütige Nachbarinnen, die hin und wieder einen Blick auf die Wiege werfen: das sind die „Schutzengel“, des proletarischen Säuglings. Der ekelhafte Lutschbeutel, wenn nicht gar Opiate spielen als Mittel der Aufziehung ihre verhängnisvolle Rolle. Kurz, Mutter und Kind sind aller Unbill der sozialen Verhältnisse und damit den schwersten Schädigungen preisgegeben. Auch in dieser Hinsicht muss die Gemeinde zum Schutze von Mutter und Kind eingreifen. Es gilt ihrerseits Anstalten und Einrichtungen zu schaffen, welche der Schwangeren und Wöchnerin die günstigsten Umstände für ihr körperliches und moralisches Wohlbefinden bieten; es gilt ihrerseits Anstalten und Einrichtungen zu schaffen, welche dem Säuglinge mustergültige Entwicklungsbedingungen sichern. Überschaut man die Verhältnisse, welche wir heute und in dem vorangegangenen Artikel charakterisiert haben, so ergibt sich ein reiches, vielseitiges Programm von Reformen, welche zu Gunsten der erwerbstätigen Frauen als Hausfrauen und Mütter welche zu Gunsten der Kinder von der Gemeinde gefordert werden müssen: kommunale Volksküchen und Speisehallen, kommunale Wasch- und Trockenhäuser; kommunale Vorschriften für die Anlage von Zentralbeheizung und -beleuchtung der Häuser, für praktische und hygienische Ausgestaltung der Wohnungen bzw. Übernahme der Beleuchtungs- und Beheizungsanlagen durch die Gemeinde; Schulkantinen, Spielplätze und Spielsäle, wo die Kinder sich innerhalb der Schulstunden unter geeigneter Aufsicht tummeln können; Ferienkurse, Ferienhorte und Ferienkolonien; Krippen, Kleinkinderbewahranstalten und Kindergärten; Entbindungsanstalten, Wöchnerinnenheime, Wöchnerinnen-Hauspflege; Beschäftigungsanstalten für stillende Mütter, Versorgung mit guter Kindermilch, Kurse für Säuglingspflege etc. etc. Es liegt auf der Hand, dass diese Reformen und andere noch, welche in der gleichen Richtung liegen, nicht schablonenmäßig von jeder Gemeinde geheischt und durchgeführt werden können. Welche Neuerungen und Einrichtungen zunächst zu erstreben sind, darüber entscheidet das vorliegende lokale Bedürfnis, das wird durch die Verhältnisse bestimmt, welche die wirtschaftliche und soziale Entwicklung für die proletarische Familie, für die erwerbstätige Frau geschaffen hat. Wo die Kräfte der einzelnen Gemeinde zu schwach sind, die nötigen Reformen zu schaffen, da kann ein Verband von Gemeinden eintreten, da muss schließlich der Staat mit seinen Mitteln eingreifen. Schon heute hat das eherne Gebot der Notwendigkeit einzelne Anstalten und Einrichtungen dieser Art ins Leben gerufen. Aber was besteht, das ist in der Mehrzahl der Fälle ungenügend und erscheint als Karikatur auf das, was die Gemeinde für die Hausfrau, die Mutter, das Kind leisten kann, was die Gesellschaft leisten muss. Sind die Einrichtungen und Anstalten das Werk und Unternehmungen von Privatpersonen, so sind sie fast stets kapitalistische Unternehmungen, welche in erster Linie dem Profit ihres Besitzers dienen. Sie sind deshalb entweder teuer und gut oder billig und schlecht, manchmal auch teuer und schlecht. Sind die Anstalten und Einrichtungen das Werk der privaten Wohltätigkeit oder der gesellschaftlichen Armenfürsorge, so haftet ihnen das Odium des Almosens an, das sozial demütigt, oft ächtet; sie sind nicht selten mit allerhand religiösen und sozialen Nebenzwecken verknüpft; sie leisten dem Umfange, wie der Qualität nach meist Unzulängliches. Sie sind gleichsam kupferne Bettelpfennige, welch die herrschende Klasse der Armut hinterherwirft, um dieser den Mund zu stopfen. Es sind nicht die echten Goldmünzen sozialer Solidarität, sozialen Rechts, welche im Interesse der Gesamtwohlfahrt jedem einzelne Gliede der Gesellschaft geschuldet sind, vor allem aber der Mutter, dem Kinde. An Umgang und Vielseitigkeit genügend, den Leistungen nach musterhaft, müssen die Einrichtungen und Anstalten sein, durch welche die Gemeinde die Hausfrauen entlastet, durch welche sie die Mutter schützt, durch welche sie die Entwicklung des Kindes fördert. Und sie dürfen keine Gnade, sie müssen ein Recht sein. Die Gesellschaft gibt damit durch Vermittlung der Gemeinde der erwerbstätigen Proletarierin, der erwerbstätigen Frau überhaupt nur einen Teil dessen zurück, was sie durch ihr berufliches Wirken zum nationalen Reichtum, zur nationalen Kultur beiträgt, was sie als Mutter, als Pflegerin und Erzieherin der Kinder für die Gesamtheit leidet. Anstalten und Einrichtungen der verlangten Art sind nicht bloß als Notbehelfe sozialer Fürsorge für Bedürftige zu bewerten. Sie sind vielmehr Keime, Ansätze sozialer Neubildungen, welche sich im Zusammenhang mit dem Wesen des modernen Wirtschaftslebens, der ökonomischen Auflösung der Familie, der Berufstätigkeit der Frau entwickeln. Die Tendenz der geschichtlichen Entwicklung geht offenbar dahin, dem Einzelhaushalt alle jene wirtschaftlichen Aufgaben abzunehmen und der Gesellschaft zu übertragen, welche der moderne Wirtschaftsbetrieb vorteilhafter zu erledigen vermag, dazu solche Arbeiten und Verrichtungen, durch deren Ausschaltung aus dem Haushalt der beste und wichtigste Teil des Familienlebens nicht leidet. Die Tendenz der geschichtlichen Entwicklung geht ferner offenbar dahin, der öffentlichen, gemeinsamen Erziehung der Kinder einen größeren Raum zuzuweisen, nicht auf Kosten der häuslichen Erziehung durch die Familie, sondern als Ergänzung neben ihr. Einrichtungen und Anstalten, welche auf der gekennzeichneten Entwicklungslinie liegen, sind allerdings Anzeichen dafür, dass die Familie als wirtschaftliches Ganzes der Auflösung anheimfällt. Aber sie bedingen nicht diese Auflösung. Wohl aber tragen sie dazu bei, dass aus dem unaufhaltsamen wirtschaftlichen Zusammenbruch der Familie sich in Reinheit und Schöne erhebt und entwickelt, was den tiefsten Gehalt, die festeste Grundlage und die lebendige Kraft der Familie ausmachen soll: die sittliche Einheit, in der die Frau als Mutter und Gattin das Höchste gibt und empfängt. Die vor unseren Augen entstehenden sozialen Umbildungen, welche in den verschiedensten Richtungen die Gemeinde an Stelle des Einzelhaushalts setzen, sind die Grundlage, auf der sich allmählich ein harmonisches Nebeneinander zwischen der Berufstätigkeit der Frau und ihren Familienpflichten heraus entwickelt. Gleichzeitig schaffen sie gerade für das weibliche Geschlecht einen reichen, vielseitigen, segensvollen Wirkungskreis. Tausenden von Frauen und Mädchen, welche von der materiellen Not gespornt des Lebens Unterhalt sichern; welche von der geistigen Not gestachelt um einen ernsten Lebensinhalt kämpfen; öffnen sich in den nötigen kommunalen Einrichtungen ein Tätigkeitsfeld, das für die Frau wie geschaffen erscheint, weil es ein Ausleben jener Eigenart herausfordert, in der die weibliche Eigenart ihre Wurzel hat: die Mütterlichkeit. Eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass die Gemeinde die ihr zufallenden Aufgaben gegenüber der Hausfrau, der Mutter , dem Kinde immer vollkommener erfüllt, dass die Ansätze zu den sozialen Neubildungen sich kräftig und gesund entwickeln, ist der Kampf der Arbeiterklasse um die Eroberung der politischen Macht in Gemeinde und Staat. Auch die Proletarierin muss die Schlachten dieses Kampfes mit schlagen können. Die Forderungen, welche sie als Hausfrau und Mutter an die Gemeinde stellt, bedingen deshalb die anderen: Her mit dem Frauenwahlrecht in Gemeinde und Staat! Her mit dem vollen Bürgerrecht des weiblichen Geschlechts! |