Leo Trotzki: Folgt die Sowjetregierung noch ihren vor zwanzig Jahren aufgestellten Prinzipien? [Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1134-1142. Dort mit zahlreichen Fußnoten] Coyoacán, 13. Januar 1938 Um die Frage, die in der Überschrift dieses Artikels gestellt wird, richtig zu beantworten, muss zu Anfang der Kontrast zwischen der wesentlichen Errungenschaft der Oktoberrevolution, der Nationalisierung des Eigentums, und der Politik der gegenwärtigen Regierung festgestellt werden. Die revolutionäre Form des Eigentums und die thermidorianische, d.h. reaktionäre Politik widersprechen einander. Aber bis zum heutigen Tag hat die Politik es nicht vermocht, gewagt oder erreicht, die revolutionären Eigentumsformen abzuschaffen. Die Grundideen der gegenwärtigen Regierung sind dem Programm des Bolschewismus direkt entgegengesetzt. Aber da die von der Revolution gegründeten Institutionen noch bestehen, ist die Bürokratie gezwungen, wenigstens äußerlich ihre Grundideen den alten Prinzipien des Bolschewismus anzupassen: sie legt weiter Eide ab auf das Vermächtnis des Oktober, die Interessen des Proletariats, und bezeichnet das sowjetische System tatsächlich als sozialistisch. Ohne Risiko, sich zu irren, kann man sagen, dass es in der Geschichte der Menschheit noch nie eine derart verlogene und heuchlerische Regierung gegeben hat, wie die gegenwärtige sowjetische Bürokratie. Die Wahrung der staatlichen Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel an sich hat eine ungeheuer fortschrittliche Bedeutung, da mit Hilfe der Planwirtschaft eine schnelle Entwicklung der Produktivkräfte erreicht werden kann. Zwar verdient die Wirtschaftsstatistik der Bürokratie kein Vertrauen: systematisch übertreibt sie die Erfolge und verheimlicht Misserfolge. Dennoch kann man unmöglich leugnen, dass sich die Produktivkräfte in der Sowjetunion auch heute noch in einem solchen Tempo entwickeln, wie es bisher kein anderes Land der Welt gekannt hat. Wer diese Seite der Angelegenheit nicht sehen will und das sowjetische Regime dem Faschismus gleichsetzt, wie es etwa Max Eastman tut, der schüttet, wie man im Deutschen zu sagen pflegt, das Kind mit dem Bade aus. Die Entwicklung der Produktivkräfte ist der wesentliche Faktor der menschlichen Kultur. Ohne Stärkung der Herrschaft des Menschen über die Natur darf man an die Beseitigung der Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht denken. Man kann den Sozialismus nicht auf Rückständigkeit und Armut errichten. Mit der technischen Vorbedingung für den Sozialismus ist man in den letzten 20 Jahren in der Sowjetunion einen gewaltigen Schritt vorwärts gekommen Das ist jedoch am wenigsten das Verdienst der Bürokratie. Im Gegenteil, die regierende Kaste ist zum größten Hemmschuh für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden. Die sozialistische Wirtschaft muss ihrem Wesen nach von den Interessen der Produzenten und den Bedürfnissen der Konsumenten geleitet werden. Diese Interessen und Bedürfnisse können ihren Ausdruck nur in einer hoch entwickelten Demokratie von Produzenten und Konsumenten finden. Demokratie ist in diesem Fall nicht irgendein abstraktes Prinzip. Sie ist der einzig denkbare Mechanismus zur Vorbereitung und Verwirklichung des sozialistischen Wirtschaftssystems. Die gegenwärtige Regierung hat die Demokratie in Sowjet, Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften durch Behördendirektiven ersetzt. Aber eine Bürokratie, selbst wenn sie durchweg aus Genies bestünde, könnte von ihren Kanzleien aus nicht das notwendige Gleichgewicht aller Wirtschaftszweige garantieren, d.h. die notwendige Entsprechung von Produktion und Konsum. Das, was in der Sprache der stalinistischen Justiz »Sabotage« genannt wird, ist in Wirklichkeit die unglückselige Folge bürokratischer Kommandomethoden. Disproportion, Verschwendung und Durcheinander, die immer weiter um sich greifen, drohen die Grundlagen der Planwirtschaft zu erschüttern. Die Bürokratie sucht starrsinnig nach »Schuldigen«. Das ist in den meisten Fällen der geheime Sinn der sowjetischen Prozesse gegen Saboteure. Das gegenwärtige Regime als persönliche »Herrschsucht« Stalins zu erklären, ist zu oberflächlich. Stalin ist nicht eine Person, sondern das Symbol einer Kaste. Macht ist nichts Körperloses. Macht gibt die Möglichkeit, über materielle Werte zu verfügen und sie sich anzueignen. Natürlich, völlige Gleichheit kann man nicht mit einem einzigen Sprung erreichen. Eine gewisse Differenzierung des Arbeitslohns wird im gegebenen Stadium von den Interessen der Steigerung der Arbeitsproduktivität diktiert. Entscheidende Bedeutung für die Beurteilung der Natur einer Gesellschaft hat jedoch die Frage: entwickelt sie sich in Richtung Gleichheit oder in Richtung Privilegierung? Die Antwort auf diese Frage lässt keinen Raum für irgendwelche Zweifel. Die Differenzierung der Gesellschaft hat längst die Grenzen ökonomischer Notwendigkeit überschritten. Die materiellen Privilegien der Bürokratie wachsen lawinenartig. In ihrer Angst vor Isolierung von den Massen versucht die Bürokratie, unter dem Banner der Stachanowerei eine neue Arbeiter- und Kolchos-Aristokratie zu gründen. Die Verteilung des Nationaleinkommens bestimmt seinerseits die politische Ordnung. Die regierende Kaste kann keine Demokratie von Produzenten und Konsumenten zulassen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie die einen wie die anderen unerbittlich ausraubt. Man kann als erwiesen nehmen, dass die Bürokratie nicht weniger als die Hälfte des Fonds verschlingt, der für den nationalen Verbrauch bestimmt ist, wobei nicht nur Wohnungen, Nahrung, Kleidung, Transportmittel und Mittel für Post- und Fernmeldewesen gerechnet werden, sondern auch die für Bildungswesen, Presse, Literatur, Sport, Kino, Radio, Theater, Museen usw. Mit vollem Recht können wir deshalb sagen, dass, obwohl die Bürokratie sich noch mit den Institutionen und Traditionen der Oktoberrevolution einrichten muss, ihre Politik doch Ausdruck ihrer eigenen Interessen ist und den Interessen des Volks und des Sozialismus direkt entgegengesetzt. Diesen grundlegenden Widerspruch kann man auch auf allen anderen Gebieten des öffentlichen Lebens, wie Staat, Armee, Familie, Schule, Kultur, Wissenschaft und Künste usw. nachweisen. Vom Standpunkt des Marxismus aus ist der Staat ein Apparat der Herrschaft einer Klasse über die andere. Die Diktatur des Proletariats ist nur eine zeitweilige Einrichtung, darum für die Werktätigen notwendig, um mit dem Widerstand der Ausbeuter fertig zu werden und die Ausbeutung abzuschaffen. In der klassenlosen Gesellschaft muss der Staat als Gewaltapparat allmählich absterben und durch die freie Selbstverwaltung von Produzenten und Konsumenten ersetzt werden. Doch was geschieht in Wirklichkeit? 20 Jahre nach der Revolution ist der sowjetische Staat ein extrem zentralisierter, despotischer und blutiger Apparat der Gewalt und Unterdrückung geworden. Die Evolution des sowjetischen Staates verläuft also in vollem Widerspruch zu den Prinzipien des bolschewistischen Programms. Die Ursache dafür ist, wie bereits gezeigt, dass die Gesellschaft sich nicht zum Sozialismus hin entwickelt, sondern in Richtung auf eine Wiedergeburt sozialer Unterschiede. Wenn die Entwicklung auf diesem Wege noch weiter fortgeht, wird sie unweigerlich zum Wiederentstehen von Klassen, zur Liquidierung der Planwirtschaft und zur Wiederherstellung des kapitalistischen Eigentums führen. In diesem Fall wird das staatliche Regime unweigerlich zu einem faschistischen. Die Oktoberrevolution hat als eine ihrer Aufgaben die Auflösung der Armee im Volk verkündet. Es war beabsichtigt, bewaffnete Streitkräfte nach dem Prinzip der Miliz aufzubauen. Nur eine solche Armeeorganisation, die das Volk zum bewaffneten Herrn seines Schicksals macht, entspricht der Natur der sozialistischen Gesellschaft. Der Übergang von der kasernierten zu einer Milizarmee wurde im Verlauf der ersten zehn Jahre systematisch vorbereitet. Aber in dem Augenblick, als die Bürokratie endgültig jede Äußerung der Selbständigkeit der Arbeiterklasse unterdrückte, machte sie die Armee offen zum Werkzeug ihrer Herrschaft. Das Milizsystem wurde vollkommen abgeschafft. Die Zweimillionenarmee hat jetzt einen reinen Kasernenhofcharakter. Die Offizierskaste mit Generälen und Marschällen ist wiederhergestellt. Aus einem Werkzeug sozialistischer Verteidigung ist die Armee zum Instrument zur Wahrung der Privilegien der Bürokratie geworden. Doch damit war es nicht zu Ende. Der Kampf zwischen der engen Clique um Stalin und den maßgeblichen und talentiertesten Militärs, die den Interessen der Verteidigung wirklich ergeben waren, führte dazu, dass man die Rote Armee ihrer Spitze beraubte. Die Situation der Frau ist der deutlichste und überzeugendste Gradmesser zur Beurteilung von Sozialordnung und staatlicher Politik. Die Oktoberrevolution hat die Befreiung der Frau auf ihr Banner geschrieben und die fortschrittlichste Ehe- und Familiengesetzgebung geschaffen, die es je in der Geschichte gegeben hat. Das heißt natürlich nicht, dass für die sowjetische Frau damit sofort ein »glückliches Leben« begonnen hat. Eine wirkliche Befreiung der Frau ist ohne allgemeine Anhebung von Wirtschaft und Kultur, ohne Zerstörung der kleinbürgerlichen Familienwirtschaft und ohne Einführung von Gemeinschaftsverpflegung und -erziehung undenkbar. Stattdessen ließ sich die Bürokratie von ihrem konservativen Instinkt leiten und bekam Angst vor der »Zerstörung« der Familie. Sie begann, Lobeshymnen auf Mahlzeit und Waschtag im Einfamilienhaushalt zu singen, d. h. auf die Versklavung der Frau für die Familie. Als Höhepunkt stellte sie Abtreibung unter Strafe und versetzte die Frau damit offiziell wieder in den Status eines Lasttieres. So hat die regierende Kaste in vollem Widerspruch zum kleinen Einmaleins des Kommunismus den reaktionären und finsteren Zellkern der Klassenherrschaft wiedereingeführt, nämlich die kleinbürgerliche Familie. Nicht besser steht es auf dem Gebiet der Kultur. Das Anwachsen der Produktivkräfte hat die materiellen Voraussetzungen für eine neue Kultur geschaffen. Aber die Entwicklung der Kultur ist undenkbar ohne Kritik, ohne Fehler, ohne Irrwege, ohne selbständiges Schaffen, mit einem Wort, ohne Erweckung der Persönlichkeit. Doch die Bürokratie duldet keinerlei unabhängiges Denken auf dem Gebiet schöpferischer Tätigkeit. Und auf ihre Weise hat sie Recht: wenn in der Kunst oder der Pädagogik Kritik wach wird, dann wird sie sich unweigerlich gegen die Bürokratie, gegen ihre Privilegien, ihre Unwissenheit und ihre Willkür richten. Daraus erklärt sich, dass die „Säuberung", nachdem sie in der Partei angefangen hatte, ausnahmslos in alle Sphären des öffentlichen Lebens vorgedrungen ist. Die GPU »säubert« Dichter, Astronomen, Pädagogen und Musiker als »Trotzkisten«, wobei die besten Köpfe der »Mauser« zum Opfer fallen. Kann man unter solchen Umständen überhaupt von einer »sozialistischen« Kultur sprechen? Auf dem Gebiet einfacher Alphabetisierung gibt es zweifellos Erfolge. Viele Millionen haben lesen und schreiben gelernt. Doch haben sie zugleich das Recht verloren, ihren Ansichten und Interessen mit Hilfe des gedruckten Wortes Ausdruck zu verleihen. Die Presse dient allein der Bürokratie. Die so genannten »sozialistischen« Dichter haben nur das Recht, Hymnen auf Stalin zu schreiben. Mit dem gleichen Recht sind auch die Prosaisten ausgestattet. Die Bevölkerung ist verpflichtet, diese Hymnen zu lesen. Das gleiche geschieht im Kino, im Radio, im Theater usw. Vor kurzem wurde in den Schulen ein neues, prämiiertes Lehrbuch der russischen Geschichte eingeführt. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass dieses Lehrbuch ausschließlich aus Fälschungen besteht, die den Despotismus der Bürokratie und die persönliche Autokratie Stalins rechtfertigen sollen. Selbst die Geschichtsbücher der katholischen Kirche, die mit Billigung des Vatikans verlegt werden, sind Vorbilder an wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, verglichen mit den stalinisierten Lehrbüchern der UdSSR. Viele Millionen von Kindergehirnen werden von dieser schändlichen Literatur verseucht und vergiftet. Die Oktoberrevolution hat das Recht einer jeden Nation nicht nur auf eigenständige kulturelle Entwicklung, sondern auch auf staatliche Eigenständigkeit verkündet. In Wirklichkeit hat die Bürokratie die Sowjetunion in ein neues Gefängnis der Völker verwandelt. Zwar bestehen Nationalsprache und Nationalschule weiter; auf diesem Gebiet kann auch der mächtigste Despotismus das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen. Aber die Sprachen der verschiedenen Nationalitäten sind nicht Mittel ihrer eigenständigen Entwicklung, sondern Mittel der bürokratischen Befehlsgewalt über sie. Die Regierungen der nationalen Republiken werden natürlich von Moskau, genauer gesagt von Stalin ernannt. Aber es ist eine merkwürdige Sache: Dreißig dieser Regierungen erweisen sich plötzlich als »Volksfeinde« und Agenten eines ausländischen Staates. Hinter dieser Beschuldigung, die sogar aus dem Munde Stalins und Wyschinskis allzu plump und albern klingt, verbirgt sich in Wirklichkeit der Umstand, dass die Beamten, auch wenn sie vom Kreml eingesetzt worden sind, in den nationalen Republiken in Abhängigkeit von lokalen Bedingungen und Stimmungen geraten und allmählich vom oppositionellen Geist gegen den erstickenden Zentralismus Moskaus angesteckt werden. Sie beginnen, davon zu träumen oder zu reden, dass man den »geliebten Führer« ersetzen und den Schraubstock lockern müsse. Das ist die wirkliche Ursache dafür, dass man vor kurzem alle nationalen Republiken der UdSSR ihrer Spitze beraubt hat. Es ist schwer, in der Geschichte ein Beispiel von Reaktion zu finden, die nicht durch Antisemitismus gefärbt wurde. Dieses eigenartige historische Gesetz wird gegenwärtig in der Sowjetunion voll und ganz bestätigt. In seinem interessanten, wenn auch nicht tief schürfenden Buch Assignment in Utopia zeigt Eugene Lyons, der lange Jahre in Moskau verbracht hat, dass die Bürokratie systematisch, wenn auch in versteckter Form, antisemitische Vorurteile zur Festigung ihrer Herrschaft ausgenutzt hat. Wie könnte es auch anders sein? Der bürokratische Zentralismus ist ohne Chauvinismus undenkbar, und der Antisemitismus war für den Chauvinismus immer der Weg des geringsten Widerstandes. In der Außenpolitik hat sich in diesen 20 Jahren eine Wende vollzogen, nicht weniger radikal als in der Innenpolitik. Nur aus Trägheit oder mit irgendwelchen Hintergedanken beschuldigt die bürgerliche Reaktion Stalin weiterhin, Inspirator der Weltrevolution zu sein. In Wirklichkeit ist der Kreml Stütze der konservativen Ordnung geworden. Die Periode, in der die Moskauer Regierung das Schicksal der Sowjetrepublik mit dem Schicksal des Weltproletariats und der unterdrückten Völker des Ostens verknüpft hat, liegt weit zurück. Die Politik der »Volksfronten«, unabhängig davon, ob sie gut ist oder schlecht, ist immerhin die traditionelle Politik des Menschewismus, gegen die Lenin sein ganzes Leben gekämpft hat. Sie bedeutet eine Absage an die proletarische Revolution zugunsten einer konservativen bürgerlichen Demokratie. Die regierende Kaste in Moskau will jetzt nur das eine: mit allen herrschenden Klassen in Frieden leben. Der Widerspruch zwischen der Oktoberrevolution und der thermidorianischen Bürokratie hat seinen dramatischsten Ausdruck in der Ausrottung der alten Generation der Bolschewiki gefunden. Wyschinski, Jeschow, Trojanowski, Maiski, Agenten der Komintern und der GPU, Journalisten vom Typ Durantys und Louis Fischers, Advokaten vom Typ Pritts werden die Meinung der Weltöffentlichkeit nicht täuschen. Kein einziger zurechnungsfähiger Mensch glaubt noch, dass Hunderte von alten Revolutionären, die Führer der bolschewistischen Partei in der Illegalität, die leitenden Köpfe des Bürgerkriegs, die revolutionären Sowjetdiplomaten, die Befehlshaber der Roten Armee, die Spitzen von 30 nationalen Sowjetrepubliken, alle auf einmal, wie auf Kommando, zu Agenten des Faschismus geworden sind. Die New Yorker Untersuchungskommission, die aus unbescholtenen und unvoreingenommenen Leuten besteht, hat nach neunmonatiger Arbeit die Moskauer Richter der grandiosesten Fälschung in der Geschichte der Menschheit beschuldigt. Es geht jetzt nicht mehr darum zu beweisen, dass Sinowjew, Kamenew, Smirnow, Pjatakow, Serebrjakow, Sokolnikow, Radek, Rakowski, Krestinski, Tuchatschewski und Hunderte anderer das Opfer einer Fälschung geworden sind. Das steht fest. Jetzt geht es darum zu erklären, wie und warum die Kreml-Clique sich zu einer so ungeheuerlichen Fälschung entschließen konnte. Die Antwort darauf ergibt sich aus all dem Vorausgegangenen. Im Kampf um Macht und Einkünfte war die Bürokratie gezwungen, diejenigen Gruppen zu zerschlagen und zu vernichten, die mit der Vergangenheit verbunden waren, das Programm der Oktoberrevolution kannten und erinnerten, und die den Aufgaben des Sozialismus aufrichtig ergeben waren. Die Ausrottung der alten Generation der Bolschewiki und der sozialistischen Elemente der mittleren und jüngeren Generation ist ein notwendiges Teilstück der Anti-Oktober-Reaktion. Darum tritt in den Prozessen der ehemalige Weißgardist Wyschinski als Ankläger auf. Das ist der Grund, weshalb die UdSSR in Washington vom ehemaligen Weißgardisten Trojanowski und in London von Maiski, einem ehemaligen Minister Koltschaks, vertreten wird usw. usf. Die rechten Leute kommen an die rechte Stelle. Wohl kaum jemand wird sich von der Komödie der letzten Moskauer Wahlen täuschen lassen. Hitler und Goebbels haben schon verschiedentlich das Gleiche getan – mit denselben Methoden. Man muss nur lesen, was die sowjetische Presse über Hitlers Volksabstimmungen geschrieben hat, um das Geheimnis von Stalins »Erfolg« zu verstehen. Totalitäre Parlamentserfahrungen zeugen nur für das eine: wenn man alle Parteien, darunter auch die eigene, vernichtet, wenn man die Gewerkschaften erstickt, die Presse, das Radio und das Kino der Gestapo oder der GPU unterwirft, Arbeit und Brot nur an Gehorsame oder Schweigsame vergibt und jedem Wähler die Pistole auf die Brust setzt, dann erreicht man »einmütige« Wahlen. Aber diese Einmütigkeit ist nicht ewig und nicht dauerhaft. Die Traditionen der Oktoberrevolution sind aus dem öffentlichen Leben verschwunden, aber sie leben im Gedächtnis der Massen weiter. Unter dem Schutz von Justiz- und Wahlfarcen werden die Widersprüche immer schärfer und müssen letztlich zu einem Ausbruch führen. Die reaktionäre Bürokratie muss gestürzt werden und wird es auch. Eine politische Revolution in der UdSSR ist unvermeidbar. Sie bedeutet Befreiung der Elemente der neuen Gesellschaft von der usurpatorischen Bürokratie. Nur unter dieser Bedingung kann sich die UdSSR in Richtung Sozialismus entwickeln. |
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