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Leo Trotzki 19390501 Bonapartistische Staatsphilosophie

Leo Trotzki: Bonapartistische Staatsphilosophie

[Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1185-1195. Dort mit umfangreichen Fußnoten]

Coyoacán, 1. Mai 1939

Kernpunkt von Stalins Referat auf dem 18. Parteitag in Moskau war zweifellos die von ihm verkündete neue Staatstheorie. Stalin wagte sich auf dieses gefährliche Gebiet nicht aus angeborener Neigung, sondern gezwungenermaßen. Erst vor kurzem wurden zwei orthodoxe Stalinisten, die Juristen Krylenko und Paschukanis beseitigt und zertreten, weil sie Marx', Engels' und Lenins Vorstellung, der Sozialismus bedeute das allmähliche Absterben des Staates, verbreitet haben. Der jetzige Kreml kann diese Theorie keineswegs hinnehmen. Wieso denn absterben? Die Bürokratie beginnt doch erst zu leben. Krylenko und Paschukanis, das sind offene »Schädlinge«.

Die Wirklichkeit des Sowjetlebens

Die Wirklichkeit des Sowjetlebens lässt sich tatsächlich nur sehr schwer mit den Grundzügen der alten Theorie in Einklang bringen. Die Arbeiter sind an die Betriebe, die Bauern an die Kolchosen gefesselt. Der Pass wurde eingeführt. Die Bewegungsfreiheit wurde aufgehoben. Zuspätkommen zur Arbeit gilt als kriminelles Delikt. Nicht nur Kritik an Stalin, sondern schon bloßes Abweichen von der selbstverständlichen Pflicht, vor dem »Führer« auf allen Vieren zu kriechen, wird als Verrat bestraft. Die Staatsgrenzen sind wie nirgends anderswo in der Welt von einer ununterbrochenen Kette von Grenztruppen und Polizeihunden bewacht. Praktisch gelangt niemand hinaus und niemand hinein. Ausländer, die früher in das Land geraten sind, werden systematisch vernichtet.

Der Kern der Sowjetverfassung, »der demokratischsten der Welt«, besteht darin, dass jeder Bürger verpflichtet ist, zu bestimmten Zeiten für einen einzigen von Stalin oder seinen Agenten benannten Kandidaten zu stimmen. Presse, Radio, Propaganda, Agitation und Volksbildung befinden sich fest in den Händen der herrschenden Clique. Nach offiziellen Angaben sind nicht weniger als eine halbe Million Mitglieder während der letzten fünf Jahre aus der Partei ausgeschlossen worden. Wie viele von ihnen erschossen, ins Gefängnis und ins Konzentrationslager geworfen oder nach Sibirien verschickt worden sind, wissen wir nicht genau. In jedem Fall handelt es sich jedoch um einige Hunderttausend Parteimitglieder, die das Schicksal von Millionen Parteilosen teilen. Es wäre schwierig, diesen Millionen, ihren Familien, Verwandten und Freunden weiszumachen, dass der Stalinsche Staat abstirbt. Er erdrosselt andere, aber selbst stirbt er keineswegs ab. Im Gegenteil, die staatliche Unterdrückung hat ein in der Menschheitsgeschichte unbekanntes, mörderisches Ausmaß erreicht.

Unterdessen wurde die Verwirklichung des Sozialismus proklamiert. Der offiziellen Version zufolge befindet sich das Land auf dem Wege zum vollendeten Kommunismus. Wer daran zweifelt, der wird von Beria überzeugt. Doch zeigt sich hier eine grundlegende Schwierigkeit. Folgt man Marx, Engels und Lenin, so ist der Staat die Organisation der Klassenherrschaft. Alle anderen Definitionen des Staates hat der Marxismus seit langem als theoretische Fälschung entlarvt, die der Verschleierung der Interessen der Ausbeuter dienen. Welche Bedeutung hat aber der Staat in einem Land, in dem die Klassen beseitigt sind? Über diese Frage haben sich die Weisen des Kremls nicht zum ersten Mal den Kopf zerbrochen. Zunächst einmal verhafteten sie jeden, der sie an die Marxsche Staatstheorie erinnerte. Das allein erwies sich jedoch als ungenügend. Es war immerhin nötig, sich den Anschein einer theoretischen Erklärung des Stalinschen Absolutismus zu verschaffen. Diese Erklärung wurde in zwei Stufen gegeben. Zur Zeit des 17. Parteitages, vor fünf Jahren, hatten Stalin und Molotow erklärt, dass der Polizeistaat für den Kampf gegen die »Überreste« der alten herrschenden Klassen und besonders gegen die »Splitter« des Trotzkismus erforderlich sei. Zwar waren diese Überreste und Splitter ihren eigenen Worten zufolge zweifellos unbedeutend; da sie aber aufs äußerste »erbittert« seien, erfordere der Kampf gegen sie höchste Wachsamkeit und Unerbittlichkeit. Diese Theorie überraschte vor allem durch ihre Dummheit. Warum war für den Kampf mit den kraftlosen »Überresten« ein totalitärer Staat notwendig, während sich für den Sturz der herrschenden Klassen selbst die Sowjetdemokratie als gänzlich hinreichend erwiesen hatte? Diese Frage ist nie beantwortet worden.

Dessen ungeachtet blieb die Theorie des 17. Parteitags in Kraft. Die vergangenen fünf Jahre waren in beträchtlichem Maße der Ausrottung der »Splitter des Trotzkismus« gewidmet. Partei, Regierung, Armee und diplomatisches Korps wurden enthauptet und ausgeblutet. Das ging so weit, dass sich Stalin auf dem letzten Parteitag zur Beschwichtigung seines eigenen Apparats zu dem Versprechen gezwungen sah, künftig keine summarischen Säuberungen mehr durchzuführen. Das war natürlich eine Lüge: Der bonapartistische Staat wird auch in Zukunft gezwungen sein, die Gesellschaft nicht nur geistig, sondern auch physisch zu verschlingen. Das kann Stalin jedoch nicht offen eingestehen. Er schwört, dass es keine neuen Säuberungen geben wird. Wenn dem so ist, dass die »Splitter des Trotzkismus« zusammen mit den »Überresten« endgültig beseitigt worden sind, dann stellt sich doch die Frage: Gegen wen ist ein Staat eigentlich notwendig?

Stalin gibt darauf die Antwort: »Die Notwendigkeit des Staates ergibt sich aus der kapitalistischen Einkreisung und der daraus resultierenden Gefahr für das Land des Sozialismus.« Mit der ihm eigenen Monotonie des Seminaristen wiederholt und variiert er diesen Gedanken auf verschiedene Art: »Die Funktion der militärischen Unterdrückung innerhalb des Landes kam in Wegfall – starb ab... Die Funktion des militärischen Schutzes des Landes vor Überfällen von außen blieb völlig erhalten.« Und weiter: »Was unsere Armee, die Straforgane und den Nachrichtendienst anbelangt, so ist nun ihre Spitze nicht nach dem Innern des Landes gerichtet, sondern nach außen, gegen die äußeren Feinde.«

Stalin widerlegt seine alte Theorie

Nehmen wir einmal an, das sei wirklich so. Nehmen wir an, die Notwendigkeit der Erhaltung und des Ausbaus des zentralisierten bürokratischen Apparates werde ausschließlich durch den imperialistischen Druck hervorgerufen. Indes bedeutet der Staat seinem Wesen nach die Herrschaft des Menschen über den Menschen. Aufgabe des Sozialismus hingegen ist es, die Herrschaft des Menschen über den Menschen in all ihren Formen abzuschaffen. Wenn der Staat nicht nur beibehalten, sondern ausgebaut und immer hemmungsloser wird, so heißt das, dass der Sozialismus noch nicht verwirklicht ist. Wenn der privilegierte Staatsapparat Frucht der kapitalistischen Einkreisung ist, dann bedeutet das, dass Sozialismus in einem einzelnen, sozialistischen Land in kapitalistischer Einkreisung nicht möglich ist. Indem Stalin versucht, den Schwanz herauszuwinden, gerät er mit der Schnauze in die Falle. Indem er seine bonapartistische Herrschaft zu rechtfertigen versucht, widerlegt er nebenbei sein theoretisches Grundkonzept über den Aufbau des Sozialismus in einem Lande.

Aber Stalins neue Theorie ist nur soweit wahr, wie sie die alte Theorie widerlegt; ansonsten ist sie völlig wertlos. Es versteht sich von selbst, dass der Arbeiterstaat für seinen Kampf gegen die kapitalistische Bedrohung einer Armee, eines Generalstabs, einer Spionageabwehr usw. bedarf. Bedeutet das jedoch, dass der Arbeiterstaat Obersten, Generäle und Marschälle mit den entsprechenden Gehältern und Privilegien benötigt? Am 31. Oktober 1920, als es in der spartanischen Roten Armee noch kein besonderes Offizierskorps gab, hieß es in einem speziellen Erlass für die Armee: »Innerhalb der Militärorganisation ... besteht Ungleichheit, die in einigen Fällen völlig verständlich und unvermeidlich, aber in anderen Fällen völlig unangebracht, übertrieben und manchmal geradezu verbrecherisch ist.« Der Schlusssatz der Anordnung lautete: »Ohne die unerfüllbare Aufgabe der sofortigen Beseitigung aller und jeglicher Privilegien in der Armee zu stellen, müssen wir systematisch diese Vorrechte auf das unvermeidliche Minimum reduzieren. Möglichst schnell sollen alle Vorrechte abgeschafft werden, die nicht aus militärischen Erfordernissen erwachsen und darum das Gefühl der Rotarmisten für Gleichheit und Kameradschaft verletzen müssen.« Das war die Grundlinie der Sowjetmacht in dieser Periode. Die heutige Politik schlägt eine direkt entgegengesetzte Richtung ein. Wenn jedoch die herrschende Kaste, Militär wie Zivil, wächst und stärker wird, dann bedeutet das, dass sich die Gesellschaft vom sozialistischen Ideal entfernt, anstatt sich ihm zu nähern, – und zwar unabhängig davon, wer daran mehr Schuld hat: die ausländischen Imperialisten oder die einheimischen Bonapartisten.

Dasselbe gilt für den Geheimdienst, in dem Stalin die Quintessenz des Staates sieht. »Der Geheimdienst«, belehrte er den Parteitag, auf dem die Agenten der GPU nahezu die Mehrheit ausmachten, »ist notwendig, um die Spione, Mörder und Saboteure, die ausländische Geheimdienste in unser Land schicken, zu fassen und zu bestrafen.« Natürlich wird niemand bestreiten, dass gegen die Intrigen des Imperialismus ein Geheimdienst notwendig ist. Entscheidend ist jedoch, welche Stellung die Organe des Geheimdienstes gegenüber den Sowjetbürgern einnehmen. In einer klassenlosen Gesellschaft muss innere Solidarität vorhanden sein. Über diese Solidarität, die sattsam bekannte »monolithische Geschlossenheit«, hat Stalin in seinem Vortrag mehrfach gesprochen. Spione, Schädlinge und Saboteure benötigen jedoch einen Unterschlupf und ein sympathisierendes Milieu. Je größer die Solidarität in einer Gesellschaft und je größer ihre Verbundenheit mit einem bestehenden Regime ist, um so weniger Raum bleibt für antisoziale Elemente. Wie ist dann aber zu erklären, dass in der UdSSR, wenn man Stalin Glauben schenkt, überall Verbrechen begangen werden, wie es sie selbst in der verfaulenden bürgerlichen Gesellschaft nicht gibt? Die Bösartigkeit der imperialistischen Staaten alleine reicht dazu nicht aus. Die Aktivität von Mikroben wird nicht so sehr durch ihre Virulenz als vielmehr durch die Widerstandskraft eines lebenden Organismus bestimmt. Auf welche Weise können die Imperialisten in einer »monolithischen« sozialistischen Gesellschaft eine solche Unzahl von Agenten, dazu noch in den exponiertesten Stellungen, finden? Oder anders gesagt: Wie können Spione und Saboteure in einer sozialistischen Gesellschaft Stellungen erlangen, wie die von Regierungsmitgliedern, oder gar die eines Regierungsoberhaupts, von Mitgliedern des Politbüros und von hervorragendsten Armeeführern? Wenn die sozialistische Gesellschaft so sehr an innerer Elastizität verloren hat, dass sie nur noch durch einen allmächtigen, universalen und totalitären Geheimdienst zu retten ist, muss es sehr schlecht um sie stehen. Wenn an der Spitze des Geheimdienstes gar solche Halunken wie Jagoda stehen, die man erschießen muss, oder solche wie Jeschow, die man mit Schimpf und Schande verjagen muss, worauf kann man dann noch Hoffnungen setzen? Auf Beria? Auch ihm schlägt bald die Stunde!

In Wirklichkeit vernichtet die GPU bekanntlich nicht Spione und imperialistische Agenten, sondern die politischen Gegner der herrschenden Clique. Stalin versucht einfach, seine eigenen Fälschungen auf ein »theoretisches« Niveau zu heben. Was zwingt eigentlich die Bürokraten dazu, ihre wirklichen Ziele zu verschleiern und ihre revolutionären Gegner als ausländische Spione auszugeben? Die imperialistische Einkreisung erklärt diese Lügen nicht. Die Gründe dafür müssen innerer Art sein, d. h. der Struktur der Sowjetgesellschaft entspringen.

Versuchen wir, bei Stalin selbst weitere Hinweise zu finden. »An Stelle der Funktion der Unterdrückung«, sagt er ohne Zusammenhang mit dem Rest seines Referats, »erhielt der Staat die Funktion des Schutzes des sozialistischen Eigentums vor Dieben und Vergeudern des Volksguts.« Es erweist sich so, dass der Staat nicht wegen der ausländischen Spione, sondern auch wegen der einheimischen Diebe besteht. Deren Bedeutung ist offenbar so groß, dass sie die Existenz einer totalitären Diktatur rechtfertigen und sogar als Begründung für eine neue Staatsphilosophie dienen. Wenn die einen Leute die anderen bestehlen, bedeutet das offenkundig, dass in der Gesellschaft noch bittere Not und erhebliche Ungleichheit herrschen, die zum Diebstahl anstiften. Hier kommen wir der Wurzel des Problems schon näher. Soziale Ungleichheit und Not sind sehr wichtige historische Faktoren, die an sich schon das Bestehen eines Staates erklären. Ungleichheit bedarf immer der Bewachung, Privilegien erfordern immer Absicherung, und Übergriffe der Armen erfordern Bestrafung. Darin genau besteht die Funktion des Staates in der Geschichte!

Was Stalin verschweigt

Nicht das, was Stalin zur Struktur der »sozialistischen« Gesellschaft in seinem Referat gesagt hat, ist wichtig, sondern das, was er verschwieg. Die Zahl der Arbeiter und Angestellten hat sich nach seinen Worten von 22 Millionen im Jahre 1933 auf 38 Millionen im Jahre 1938 erhöht. Die Kategorie der »Angestellten« umfasst hier nicht nur die Beschäftigten eines Genossenschaftsladens, sondern auch die Mitglieder des Rats der Volkskommissare. Arbeiter und Angestellte sind hier wie immer in der Sowjetstatistik, zusammengefasst, um nicht die numerische Größe der Sowjetbürokratie, ihr schnelles Anwachsen und vor allem das rasche Ansteigen ihrer Einkünfte zu enthüllen.

In den fünf Jahren zwischen den beiden letzten Parteitagen ist der jährliche Lohnfonds der Arbeiter und Angestellten nach Stalins Worten von 35 Milliarden auf 96 Milliarden Rubel, d.h. fast auf das Dreifache gestiegen (wenn man den Kaufkraftverlust des Rubels unberücksichtigt lässt). Wie verteilen sich aber diese 96 Milliarden auf die verschiedenen Kategorien der Arbeiter und Angestellten? Dazu hört man kein Wort. Stalin teilt uns nur mit, »der mittlere Jahreslohn der Arbeiter der Industrie, der im Jahre 1933 1.513 Rubel betrug, hob sich auf 3.447 Rubel im Jahre 1938.« Plötzlich wird nur noch von Arbeitern gesprochen; es ist aber nicht schwer nachzuweisen, dass es sich auch hier um Arbeiter und Angestellte handelt: Es genügt, den durchschnittlichen Jahreslohn (3.447 Rubel) mit der Gesamtzahl der Arbeiter und Angestellten (28 Millionen) zu multiplizieren, und wir erhalten die von Stalin genannte Jahreslohnsumme der Arbeiter und Angestellten, nämlich 96 Milliarden Rubel. Um die Lage der Arbeiter zu beschönigen, gestattet sich der »Führer« die schäbigsten Verdrehungen, derer sich selbst der gewissenloseste bürgerliche Journalist schämen würde. Wenn wir die Kaufkraftveränderung des Geldes außer acht lassen, bedeutet ein Durchschnittsjahreslohn von 3.447 Rubel folglich nur, dass bei Zusammenziehung der Löhne von ungelernten, qualifizierten und Stachanowarbeitern, von Ingenieuren, Trustdirektoren und Volkskommissaren der Industrie ein Jahresdurchschnittslohn von weniger als 3 500 Rubel pro Person herauskommt. Um wie viel ist in den letzten fünf Jahren der Lohn von Arbeitern, Ingenieuren und leitendem Personal gewachsen? Darüber kein Wort. Zu den Durchschnittswerten für Arbeitslöhne, Gehälter usw. haben immer nur die minderwertigsten Apologeten der Bourgeoisie Zuflucht genommen. In entwickelten Industrieländern ist man von dieser Methode fast völlig abgekommen, weil man damit niemanden mehr täuschen kann. Dafür wurde sie zur beliebten Methode im Lande des verwirklichten Sozialismus, wo sich alle sozialen Beziehungen durch völlige Transparenz auszeichnen sollten. »Sozialismus ist Buchhaltung«, sagte Lenin. »Sozialismus ist Betrug«, lehrt Stalin.

Trotz alledem wäre es ein schwerer Fehler zu denken, dass in den von Stalin genannten Mittelwerten das gesamte Einkommen der höchsten »Angestellten«, d. h. der herrschenden Kaste eingeschlossen wäre. In Wirklichkeit erhalten so genannte »verantwortliche Mitarbeiter« zusätzlich zum offiziellen, vergleichsweise bescheidenen Gehalt geheime Einkünfte aus der Kasse des Zentralkomitees oder der örtlichen Komitees; Automobile stehen ihnen zur Verfügung (es gibt sogar besondere Fabriken zur Herstellung von Luxusautomobilen für »verantwortliche Mitarbeiter«), prächtige Wohnungen, Datschen, Sanatorien und Krankenhäuser. Zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse oder ihrer Eitelkeit werden alle Arten von »Sowjetpalästen« gebaut. Hochschulen, Theater usw. monopolisieren sie nahezu. All diese enormen Einkünfte (für den Staat sind es Ausgaben) gehen natürlich nicht in die von Stalin erwähnten 96 Milliarden ein. Davon abgesehen, wagte es Stalin jedoch nicht einmal, die Frage anzuschneiden, wie der legale Lohnfonds (96 Milliarden) zwischen Arbeitern und Angestellten, zwischen ungelernten und Stachanowarbeitern, zwischen niedrigen und hohen Angestellten aufgeteilt wird. Zweifellos fällt der Löwenanteil am Zuwachs des offiziellen Lohnfonds an die Stachanowarbeiter bzw. in Form von Prämien an die Ingenieure. Wenn Stalin mit Durchschnittsziffern operiert, die an sich schon keinerlei Vertrauen verdienen; wenn er die Arbeiter und Angestellten in einer Kategorie zusammenfasst; wenn er die Spitzen der Bürokratie zu den Angestellten zählt; wenn er geheime Milliardenfonds verschweigt; wenn er »vergisst«, bei der Bestimmung des Durchschnittslohnes die Angestellten zu erwähnen und nur von den Arbeitern spricht, dann verfolgt er damit ein einfaches Ziel: die Arbeiter zu betrügen, die ganze Welt zu betrügen, und die gewaltigen und stetig anwachsenden Einkünfte der privilegierten Kaste zu verheimlichen.

Daran zu glauben, dass dieser Staat friedlich »absterben« könne, hieße, in einer Welt theoretischen Fieberwahns zu leben. Die bonapartistische Kaste muss zerschlagen werden. Der Sowjetstaat muss wieder belebt werden. Erst dann eröffnen sich Aussichten auf das Absterben des Staates.

Ein Werkzeug für Räuber und Plünderer

»Der Schutz des sozialistischen Eigentums vor Dieben und Plünderern« bedeutet daher in neun von zehn Fällen den Schutz der Einkünfte der Bürokratie vor Übergriffen durch die nicht privilegierten Schichten der Bevölkerung. Man muss noch hinzufügen, dass die geheimen Einkünfte der Bürokratie, die sich weder durch die Prinzipien des Sozialismus noch durch die Landesgesetze rechtfertigen lassen, nichts anderes sind als Diebstahl. Neben diesem legalisierten Diebstahl gibt es noch zusätzlich illegalen Diebstahl, über den Stalin hinwegsehen muss, weil die Diebe seine wichtigsten Stützen sind. Der bonapartistische Staatsapparat ist folglich ein Organ zum Schutz der bürokratischen Diebe und Räuber des Volkseigentums. Diese theoretische Formel kommt der Wahrheit um vieles näher.

Stalin muss über die soziale Natur seines Staates aus demselben Grund lügen, aus dem er über den Lohn der Arbeiter lügen muss; in dem einen wie in dem anderen Fall tritt er als Repräsentant der privilegierten Parasiten auf. In einem Land, das die proletarische Revolution vollzogen hat, kann man nur dann die Ungleichheit kultivieren, eine Aristokratie schaffen und Privilegien anhäufen, wenn man die Massen in eine Flut von Lügen und immer ungeheuerlicherer Unterdrückung stößt.

Unterschlagung und Diebstahl, die Haupteinnahmequellen der Bürokratie, stellen kein Ausbeutungssystem im wissenschaftlichen Sinn des Wortes dar. Aber von der Interessenlage der Volksmassen her sind sie unermesslich schlimmer als jede »organische« Ausbeutung. Im wissenschaftlichen Sinn des Wortes ist die Bürokratie keine besitzende Klasse. Aber sie trägt in verzehnfachtem Maße alle Laster einer besitzenden Klasse in sich. Gerade das Fehlen entfalteter Klassenbeziehungen und deren Unmöglichkeit auf den sozialen Grundlagen der Oktoberrevolution verleihen der Arbeit der Staatsmaschine einen konvulsivischen Charakter. Zum Schutz des systematischen Diebstahls der Bürokratie muss ihr Apparat zu systematischer Gewalttat Zuflucht nehmen. Alles das zusammen macht das System des bonapartistischen Gangstertums aus.

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