Leo Trotzki: Bilanz der Säuberungen [Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1205-1208. Dort mit umfangreichen Fußnoten] Coyoacán, 10. Juni 1939 Walter Duranty, Korrespondent der New York Times, dem der Kreml stets die schmutzigsten journalistischen Aufgaben anvertraut, glaubt uns mitteilen zu müssen, dass die Säuberung Ausmaße erreicht hat, die weit über das hinausgehen, was im Ausland bekannt ist. Die Hälfte der ausgeschlossenen Kommunisten seien in die Reihen der Partei zurückgekehrt. Aber wie viel unschuldige Parteilose hätten gelitten und ähnliches mehr. Walter Duranty entrüstet sich auch diesmal im Auftrag des Kremls. Stalins eigene Lakaien müssen sich jetzt so laut wie möglich über die begangenen Ausschreitungen und Verbrechen empören. Sie sollen damit der öffentlichen Meinung suggerieren, Stalin selbst sei entrüstet, und die Fälschungen, Provokationen, die willkürlichen Verbannungen und Erschießungen hätten ohne sein Wissen und gegen seinen Willen stattgefunden. So etwas können natürlich immer nur ausgesprochene Narren glauben. Aber selbst Leute, die nicht einfältig sind, neigen dazu, Stalin zumindest in diesem Punkt auf halbem Wege entgegenzukommen; ja, sagen sie, Stalin war zweifellos an der letzten gigantischen Terrorwelle schuld; aber er wollte sie im Rahmen des politisch Zweckmäßigen halten, das heißt, er wollte diejenigen vernichten, deren Vernichtung für seine Herrschaft nötig war. Stattdessen dehnten die unvernünftigen und demoralisierten Erfüllungsgehilfen, von niedrigeren Interessen geleitet, die Säuberung in einem ganz ungeheuerlichen Maße aus und riefen dadurch allgemeine Entrüstung hervor. An diesen Übertreibungen, an dieser selbst aus der Sicht des Kremls sinnlosen Vernichtung Hunderttausender »neutraler« Personen, ist Stalin natürlich nicht schuld. Wie weit diese Vorstellungen auch das Denken des Mannes auf der Straße gewinnen mögen, so sind sie doch von Anfang bis Ende falsch. Sie setzen vor allem voraus, dass Stalin beschränkter ist, als es tatsächlich der Fall ist. Doch er verfügt, besonders auf diesem Gebiet, über genug Erfahrung, um vorhersagen zu können, welches Ausmaß eine Säuberung in dem Apparat annehmen muss, den er selbst maßgeblich geschaffen und geformt hat. Wie bekannt, wurde sie mit langer Hand vorbereitet, Sie begann im Jahre 1935 mit dem Parteiausschluss Zehntausender Oppositioneller, die längst abgeschworen hatten. Niemand verstand diese Maßnahmen. Am wenigsten natürlich die Ausgeschlossenen selbst. Stalins Aufgabe bestand darin, die Vierte Internationale zu vernichten und dabei auch die Generation der alten Bolschewiki auszurotten, und aus den folgenden Generationen alle jene, die mit der Tradition der bolschewistischen Partei moralisch verbunden waren. Um einen derart ungeheuerlichen Plan auszuführen, für den es in der Menschheitsgeschichte nichts Vergleichbares gibt, musste der Apparat selbst in die Zange genommen werden. Man musste jeden GPU-Agenten, jeden Verwaltungsfunktionär, jedes Parteimitglied fühlen lassen, dass die geringste Abweichung von diesem oder jenem verbrecherischen Auftrag den Tod des Widerspenstigen und die Zerstörung seiner Familie und Freunde bedeuten würde. Jeder Gedanke an Widerstand in der Partei oder in den arbeitenden Massen musste von vornherein erstickt werden. Es handelte sich somit nicht um zufällige »Übertreibungen«, nicht um unvernünftigen Eifer auf Seiten der Vollstrecker, sondern um eine unentbehrliche Vorbedingung zum Gelingen des eigentlichen Plans. Als Vollstrecker bedurfte es eines hysterischen Schurken wie Jeschow; Stalin kannte seinen Charakter und die Art seiner Arbeit im Voraus und plante, sich von ihm zu distanzieren, wenn sein Hauptziel erreicht war. Auf diesem Gebiet ging alles nach Plan. Noch während der Auseinandersetzung mit der Linken Opposition machte Stalin die Clique seiner nächsten Gesinnungsgenossen mit seiner größten soziologischen und historischen Entdeckung bekannt: Alle Regime der Vergangenheit sind durch die Unentschlossenheit und den Wankelmut der herrschenden Klasse zusammengebrochen. Geht die Staatsmacht im Kampf gegen ihre Feinde erbarmungslos genug vor und schreckt sie vor Massenvernichtung nicht zurück, wird sie stets mit allen Gefahren fertig werden. Schon im Herbst 1927 wurde diese Weisheit von Stalins Agenten in allen Tonarten propagiert mit der Absicht, die öffentliche Meinung der Partei auf die kommenden Säuberungen und Prozesse vorzubereiten. Heute mag es den Herren im Kreml so scheinen — jedenfalls schien es ihnen gestern so —, als sei das große Theorem Stalins durch Tatsachen bestätigt worden. Doch die Geschichte wird auch diesmal die polizeilichen Illusionen scheitern lassen. Wenn ein soziales oder politisches Regime in unversöhnliche Widersprüche zu den Erfordernissen der Entwicklung des Landes gerät, können Repressionen sicherlich seine Existenz eine Zeitlang verlängern, letztendlich jedoch wird der Unterdrückungsapparat selbst allmählich zerbrechen, abstumpfen und auseinander zu fallen beginnen. Stalins Polizeiapparat tritt gerade in dieses Stadium ein. Das Schicksal Jagodas und Jeschows kündigt das zukünftige Schicksal nicht nur Berias an, sondern auch das des gemeinsamen Herrn dieser drei. |
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