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Leo Trotzki 19310613 Über die erdrosselte Revolution und ihre Henker

Leo Trotzki: Über die erdrosselte Revolution und ihre Henker

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 740-745, dort mit zahlreichen Fußnoten]

Eine unaufschiebbare Arbeit hat mich seinerzeit daran gehindert, Malraux' Aufsatz, in dem er die Komintern, Borodin, Garin und sich selbst gegenüber meiner Kritik verteidigt, zu lesen. Als politischer Publizist steht Malraux dem Proletariat und der Revolution noch ferner denn als Künstler. Das allein wäre kein Grund für diese Zeilen – muss doch ein talentierter Schriftsteller keineswegs auch ein proletarischer Revolutionär sein. Wenn ich nun dennoch auf die schon früher angeschnittenen Fragen zurückkomme, so des Themas, nicht Malraux' wegen.

Die besten Figuren des Romans, schrieb ich, werden geradezu gesellschaftliche Symbole. Ich muss hinzufügen: Borodin, Garin und alle ihre »Kollegen« symbolisieren die quasirevolutionäre Bürokratie, diesen neuen »sozialen Typus«, der sich dank der Existenz des Sowjetstaats einerseits und eines bestimmten Regimes der Komintern andererseits herausgebildet hat.

Ich habe es abgelehnt, Borodin dem Typus des »Berufsrevolutionärs« zuzurechnen, als der er im Roman charakterisiert wird. Malraux beweist mir nun, dass Garin soundso viel Prozent Mandarinsblut habe, was ihm das Recht auf den genannten Titel gebe. Und Malraux hält es für angebracht hinzuzufügen, dass in Trotzkis Adern noch mehr solches Blut fließe. Ist das nicht lächerlich? Der Typus des Berufsrevolutionärs ist keineswegs irgendein Idealtypus. Aber in jedem Fall ist es ein bestimmter Typus mit einer bestimmten politischen Biographie und deutlich ausgeprägten Zügen. In den letzten Jahrzehnten hat nur Russland diesen Typus hervorgebracht, und in Russland am reinsten die Partei der Bolschewiki. Die Berufsrevolutionäre der Generation, zu der Borodin dem Alter nach gehört, formierten sich schon am Vorabend der ersten Revolution; sie wurden der Probe des Jahres 1905 unterzogen, in den Jahren der Konterrevolution gestählt und geschult (wenn sie nicht verkamen) und bestanden 1917 die größte Prüfung. Von 1903 bis 1918, also während der gesamten Periode, in der sich der Typus des Berufsrevolutionärs in Russland herausbildete, blieben Borodin und mit ihm Hunderte, ja, Tausende seinesgleichen dem Kampf fern. Im Jahr 1918, nach dem Sieg, meldete sich Borodin zum Dienst. Das gereicht ihm zur Ehre, denn es ist ehrenhafter, einem proletarischen Staat zu dienen als einem bürgerlichen. Borodin übernahm riskante Aufträge. Aber auch die Agenten bürgerlicher Staaten in fremden Ländern, vor allem in den Kolonien, führen oft riskante Aufträge aus. Das macht sie noch lange nicht zu Revolutionären. Der Typus des beamteten Abenteurers und der Typus des Berufsrevolutionärs können sich in gewissen Zügen mitunter sehr nahe kommen. Aber sowohl der allgemeinen psychologischen Statur als auch der historischen Funktion nach handelt es sich um einander entgegengesetzte Typen.

Der Revolutionär bahnt sich den Weg gemeinsam mit seiner Klasse. Ist das Proletariat schwach und zurückgeblieben, dann beschränkt er sich auf bescheidene, geduldige, langwierige Kärrnerarbeit, auf den Aufbau von Zirkeln, die Entwicklung der Propaganda und die Ausbildung von Kadern. Gestützt auf die ersten Kader, geht er zur Massenagitation über, je nach den Umständen legal oder im Untergrund. Stets unterscheidet er seine Klasse von der feindlichen Klasse und macht nur die Politik, die der Stärke seiner Klasse entspricht und die ihre Kraft mehrt. Der proletarische Revolutionär, gleichgültig, ob er Franzose, Russe oder Chinese ist, wird in den chinesischen Arbeitern seine eigene heutige oder zukünftige Armee sehen. Der beamtete Abenteurer hingegen erhebt sich über alle Klassen der chinesischen Nation.

Er hält sich für berufen, zu herrschen, anzuordnen, zu kommandieren – unabhängig vom inneren Kräfteverhältnis in China. Weil das chinesische Proletariat heute schwach ist und ihm einen Kommandoposten nicht garantieren kann, versöhnt dieser Funktionär verschiedene Klassen und versucht, sie miteinander zu verbinden. Er tritt als Inspektor der Nation auf, als Vize-König in Sachen Kolonialrevolution. Den konservativen Bourgeois kombiniert er mit dem Anarchisten, er improvisiert ein Ad-hoc-Programm, baut seine Politik auf Zweideutigkeiten auf, bildet einen Block aus vier Klassen, schluckt Säbel und tritt Prinzipien mit Füßen. Das Ergebnis? Die Bourgeoisie wird noch reicher, noch einflussreicher, noch erfahrener. Sie zu betrügen, gelingt dem beamteten Abenteurer nicht, statt dessen betrügt er die selbstlosen, aber unerfahrenen Arbeiter und liefert sie der Bourgeoisie aus. Das war die Rolle der Komintern-Bürokratie in der chinesischen Revolution.

Malraux, der es für das selbstverständliche Recht der »revolutionären« Bürokratie hält, unabhängig von der Stärke des Proletariats das Kommando auszuüben, belehrt uns, es sei unmöglich gewesen, an der chinesischen Revolution teilzunehmen, ohne zugleich am Krieg teilzunehmen, und ebenso unmöglich, am Krieg teilzunehmen, ohne zugleich der Guomindang anzugehören usw. Dem fügt er hinzu: Der Bruch mit der Guomindang hätte für die Kommunistische Partei bedeutet, in den Untergrund gehen zu müssen. Bedenkt man, dass diese Argumente die Philosophie der Kominternvertreter in China resümieren, so kann man nicht umhin zu sagen: Ja, die Dialektik des historischen Prozesses treibt zuweilen mit Organisationen, Menschen und Ideen böse Spaße! Wie einfach ist das doch: Will man erfolgreich an dem Geschehen teilnehmen, das von der feindlichen Klasse dirigiert wird, dann muss man sich dieser Klasse politisch unterwerfen; will man Unterdrückungsmaßnahmen von sehen der Guomindang entgehen, muss man sich bloß in den Farben der Guomindang kleiden. Das ist Borodin-Garins ganzes Geheimnis.

Malraux beurteilt die Umstände, Möglichkeiten und Aufgaben im China des Jahres 1925 politisch völlig falsch. Er kommt kaum bis zu dem Punkt, wo die wahren Probleme der Revolution anfangen. Alles Notwendige hierzu habe ich schon an anderer Stelle ausgeführt, und Malraux' Aufsatz gibt keinerlei Veranlassung, das Gesagte zu revidieren. Aber auch wenn man sich Malraux' falsche Beurteilung der Situation zu eigen macht, kann man die Politik von Stalin-Borodin-Garin in keinem Fall rechtfertigen. Um 1925 gegen diese Politik zu protestieren, musste man schon das eine oder andere voraussehen. Um sie 1931 zu verteidigen, muss man hoffnungslos blind sein.

Hat denn die Strategie der Komintern-Funktionäre dem chinesischen Proletariat irgend etwas eingebracht außer Demütigungen, Vernichtung von Kadern und, vor allem, schrecklichem Durcheinander in den Köpfen? Hat denn die schmähliche Kapitulation vor der Guomindang die Partei vor Unterdrückungsmaßnahmen bewahrt? Im Gegenteil, mehr und schlimmere Repressionen waren die Folge. Musste die Kommunistische Partei etwa nicht in den Untergrund gehen? Und wann? Als die Revolution vernichtend geschlagen wurde! Hätten die Kommunisten beim Einsetzen der revolutionären Welle ihre Arbeit im Untergrund begonnen, dann hätten sie die offene Bühne an der Spitze der Massen betreten. Tschiang Kaischek, der die Partei mit Hilfe von Borodin-Garin aus dem Konzept gebracht, ihrer Selbständigkeit beraubt und demoralisiert hatte, konnte sie dann in den Jahren der Konterrevolution um so leichter in den Untergrund treiben. Die Politik von Borodin-Garin war ganz und gar zum Nutzen der chinesischen Bourgeoisie. Die Kommunistische Partei Chinas muss jetzt von vorn anfangen, und zwar in einer Arena voll von Trümmern, belastet mit Vorurteilen, uneingestandenen Fehlern und konfrontiert mit dem Misstrauen der fortschrittlichen Arbeiter. Das ist das Ergebnis!

Der verbrecherische Charakter dieser Politik wird an Einzelfragen besonders deutlich. Malraux rechnet es Borodin und Co. als Verdienst an, dass sie mit der Auslieferung von Terroristen an die Bourgeoisie den Führer der Bourgeoisie, Tscheng-Dai, bewusst dem Terror preisgeben. Eine solche Machination ist eines bürokratischen Borgia oder der »revolutionären« polnischen Szlachta würdig, die es stets vorgezogen hat, hinter dem Rücken des Volkes von fremden Händen morden zu lassen. Nein, die Aufgabe bestand nicht darin, Tscheng-Dai aus dem Hinterhalt zu ermorden, sondern darin, den Sturz der Bourgeoisie vorzubereiten. Wenn die Partei der Revolution gezwungen ist zu töten, dann tut sie das im Namen von Aufgaben und Zielen, die den Massen vertraut und verständlich sind, und übernimmt dafür offen die Verantwortung.

Revolutionäre Moral – das sind nicht Kants abstrakte Normen. Das sind Verhaltensregeln, die den Revolutionär der Kontrolle durch die Aufgaben und Ziele der Klasse unterstellen. Borodin und Garin waren nicht eins mit den Massen, sie waren nicht von Verantwortungsgefühl gegenüber der Klasse durchdrungen. Sie waren bürokratische Übermenschen, überzeugt davon, dass »alles erlaubt« sei ... im Rahmen des von oben erteilten Mandats. Letzten Endes kann sich das Wirken solcher Menschen, wie effektvoll es in gewissen Momenten auch gewesen sein mag, nur gegen die Revolution richten.

Nach der Ermordung Tscheng-Dais durch Hong liefern Borodin und Garin Hong und seine Gruppe der Hand der Henker aus. Das prägt ihrer ganzen Politik das Kainszeichen auf. Auch hier tritt Malraux als Apologet auf. Mit welchem Argument? Lenin und Trotzki hätten auch grausam mit den Anarchisten abgerechnet! Es ist schwer zu glauben, dass dies ein Mensch sagt, der sich auch nur für kurze Zeit der Revolution angeschlossen hat. Malraux vergisst oder begreift nicht, dass es bei der Revolution um die Herrschaft einer Klasse über eine andere Klasse geht, und dass die Revolutionäre nur aus dieser ihrer Aufgabe das Recht auf Gewalt ableiten. Die Bourgeoisie vernichtet die Revolutionäre, zuweilen auch die Anarchisten (dies immer seltener, denn sie werden zunehmend friedlicher), um das Regime der Ausbeutung und der Niedertracht aufrechtzuerhalten. Unter der Herrschaft der Bourgeoisie haben die Bolschewiki die Anarchisten vor den Chiappes stets standhaft verteidigt. Nach der Eroberung der Macht haben die Bolschewiki alles unternommen, um die Anarchisten auf die Seite der Diktatur des Proletariats zu ziehen. Die Mehrheit von ihnen haben sie tatsächlich mitgerissen. Ja, die Bolschewiki haben jene Anarchisten streng bestraft, die die Diktatur des Proletariats untergruben. Hatten wir damit recht oder nicht? Das hängt davon ab, wie man die von uns vollbrachte Revolution und das durch sie entstandene Regime beurteilt. Aber könnte man sich auch nur eine Minute lang vorstellen, dass die Bolschewiki – unter dem Fürsten Lwow, unter Kerenski, unter einem bürgerlichen Regime – als Agenten der Ausrottung von Anarchisten aufgetreten wären? Es genügt, diese Frage klar zu stellen, um sich mit Abscheu abzuwenden.

Wie Brid'Oison am Wesen der Sache vorbeigeht und sich nur für ihre Form interessiert, so interessieren sich die quasirevolutionäre Bürokratie und ihr literarischer Advokat nur für die Mechanik der Revolution und ignorieren die Frage, welcher Klasse und welchem Regime sie dienen soll. Hier liegt zwischen dem Revolutionär und dem Revolutionsbeamten ein Abgrund.

Was Malraux über den Marxismus sagt, ist eher kurios. Eine marxistische Politik war demnach in China nicht anwendbar, weil das Proletariat kein Klassenbewusstsein hatte. Man sollte meinen, dass sich daraus die Aufgabe ergebe, dieses Klassenbewusstsein zu wecken. Malraux aber zieht daraus eine Rechtfertigung für eine Politik, die sich gegen die Interessen des Proletariats richtet.

Nicht überzeugender und noch komischer ist ein anderes Argument: Trotzki spricht vom Nutzen des Marxismus für eine revolutionäre Politik – aber Borodin ist ein Marxist, und auch Stalin ist einer, also ist es keine Frage des Marxismus. Ich verteidige die revolutionäre Doktrin gegen Garin, wie ich die medizinische Wissenschaft gegen einen prätentiösen Quacksalber verteidigen würde. Als Antwort aber weist mich der Quacksalber darauf hin, dass auch patentierte Arzte Kranke nicht selten zugrunde richten. Dieses Argument ist nicht nur eines Revolutionärs, sondern selbst eines durchschnittlich gebildeten Spießbürgers unwürdig. Dass die Medizin nicht allmächtig ist, dass ein Arzt nicht immer heilt, dass es unter den Doktoren Stümper, Dummköpfe und sogar Giftmischer gibt – ist das ein Argument dafür, Quacksalbern, die nie Medizin studiert haben und deren Bedeutung abstreiten, die Approbation zu erteilen?

Eine Korrektur muss ich nach der Lektüre von Malraux' Artikel vornehmen. In meinem Aufsatz habe ich geschrieben, eine Dosis Marxismus wäre für Garin nützlich gewesen. Das behaupte ich nun nicht mehr.

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