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Leo Trotzki 19390214 Wohin geht die PSOP?

Leo Trotzki: Wohin geht die PSOP?

(Brief an Alfred Rosmer)

[Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung]

Werter Freund!

Ich eile, auf Ihren Brief vom 24. Januar zu antworten, der mir wichtige Informationen über die Lage der Dinge in der PSOP gegeben hat. Ich halte es für notwendig, mich zu den Überlegungen zu äußern, die Marceau Pivert in seinem Gespräch mit Ihnen entwickelt hat.

Er erklärte „volle Solidarität" mit mir bei der Bewertung der Gesamtlage in Frankreich . Unnötig zu sagen, dass ich eine solche Aussage sehr schätze. Aber sie ist noch nicht genug. Für die Möglichkeit gemeinsamen Handelns braucht man nicht nur Einheit der Bewertung – man braucht ein und dieselben praktischen Schlussfolgerungen, zumindest die wichtigsten. In Bezug auf die Junitage 1936 schrieb Marceau Pivert: „Jetzt ist alles möglich.“ Es war eine ausgezeichnete Formel. Sie bedeutete, mit diesem Proletariat kann man bis zum Ende gehen, d.h. direkten Kurs auf die Machteroberung einschlagen. In jenen Tagen schrieb ich: „Die Französische Revolution hat begonnen.“ Die gemeinsame Voraussetzung mit Marceau Pivert war also vorhanden. Aber gerade deswegen konnte ich nicht verstehen, wie Marceau Pivert Blum auch nur ein bedingtes, auch nur ein beschränktes Vertrauen, auch nur ein Halbvertrauen geben konnte, wo es klar war, dass dieser konservative und feige Bourgeois, ein Deserteur von Kopf bis Fuß, nur fähig war, das Proletariat zur Niederlage und Demütigung zu führen?

Aber kehren wir nicht in die Vergangenheit zurück. Nehmen wir die gegenwärtige Lage. Die Frage der Freimaurerei ist in meinen Augen von großer politischer und symptomatischer Bedeutung. In einer Epoche der tiefsten revolutionären Krise, die Frankreich derzeit durchmacht und die vor das Proletariat die Frage des Kampfes um die Macht stellt, ist es die elementare und zwingende Pflicht revolutionärer Führer, alle politischen und moralischen Verbindungen zu den verräterischen Führern des Radikalismus und des offiziellen „Sozialismus" zu zerreißen, die alle gegen die Arbeiter sein werden.

Ich weiß nicht, ob Daladier Freimaurer ist, aber Chautemps ist Freimaurer, und wahrscheinlich mit ihm eine Reihe anderer Minister. Es fragt sich, wie kann man sich ernsthaft gegen die niederträchtige Politik der „Volksfront“, d.h. gegen die politische Unterwerfung des Proletariats unter die radikale Bourgeoisie, aufbäumen und gleichzeitig im Block mit den Führern der radikalen Bourgeoisie, mit diesen Oustricianern1 und Staviskyanern bleiben, die sich als Freimaurer die Aufgabe der „moralischen" Erneuerung der Menschheit stellen? Angesichts eines solchen schreienden Widerspruchs kann jeder Arbeiter mit Recht sagen: „Diese Sozialisten glauben selbst nicht an die sozialistische Revolution, sonst hätten sie nicht in Freundschaft mit den Führern der Klasse bleiben können, gegen die sie die Revolution scheinbar vorbereiteten!

Dank eines glücklichen oder unglücklichen Zufalls (ich weiß nicht, wie ich es sagen soll)2 hatte ich die Gelegenheit einen Winkel der Freimaurerei während meines Aufenthalts in Isère ziemlich nahe zu beobachten. Ich lebte im Haus eines Freimaurers; seine Gäste waren hauptsächlich Freimaurer. Unter meinen jungen Freunden war ein Freimaurer, der bald mit der Freimaurerei brach.3 Ich kann mich daher nicht nur auf allgemeine Überlegungen stützen, die an sich völlig unbestreitbar sind, sondern auch auf lebendige Beobachtungen der Rolle der Freimaurerei im politischen Leben der französischen Provinz.

Die obere Schicht sind Radikale oder „Sozialisten", Advokaten, Abgeordnete, Karrieristen, Zyniker, für die die Logen nur ein Wahlapparat sind. Es gibt keine oder fast keine Arbeiter in Grenobles Freimaurerlogen, aber einen bemerkbaren Platz nehmen Meister und das untere Verwaltungspersonal ein. Ich kannte einen der Vorarbeiter4 und hatte interessante Informationen über einen anderen. Ihr Hauptanliegen war es, sich von den Arbeitern abzusondern, in die „gute Gesellschaft" zu gelangen, gebildeten Menschen zuzuhören. Sie blickten mit aufrichtiger Ehrfurcht auf die Anwälte und Professoren, die ihnen humanitäre und pazifistische Banalitäten präsentierten. Die Bosse der Loge, die eine Rolle im kommunalen und politischen Leben von Grenoble spielen, ordnen mit Hilfe der freimaurerischen Rituale sich eine kleinbürgerliche Klientel und eine kleine Gruppe der Arbeiter- oder5 Halbarbeiteraristokratie unter. Einige dieser Herren treten der Freimaurerei nicht selbst bei, sondern ziehen hinter den Kulissen die Fäden. In der Freimaurerei sind all jene parasitären Eigenschaften konzentriert, die nun sowohl von der Zweiten Internationale als auch von der Dritten so abstoßen. Kann man mit der Sozialdemokratie und der Komintern brechen und gleichzeitig mit der schlimmsten Karikatur beider verbunden zu bleiben, nämlich mit der Freimaurerei?

Die Revolution fordert den Mensch vollständig und voll. Äußerst verdächtig sind die Revolutionäre, die in der revolutionären proletarischen Partei keine Befriedigung für ihre politischen und moralischen Bedürfnisse finden und nach etwas „Besserem", „Höherem" in der radikalen bürgerlichen Gesellschaft suchen. Wonach genau suchen sie? Mögen sie das den Arbeitern offen erklären! Das Schwierigste, aber auch das Wichtigste in einer Epoche, wie sie Frankreich durchlebt, ist es, sich vom Einfluss der bürgerlichen öffentlichen Meinung zu befreien, mit ihr innerlich zu brechen, keine Angst vor ihrer Hetze, Lüge, Verleumdung zu haben und ihr Lob, ihre Schmeichelei zu verachten. Nur unter dieser Bedingung kann man sich die notwendige Handlungsfreiheit sichern, die revolutionäre Stimme der Massen rechtzeitig hören und für den entscheidenden Ansturm an ihrer Spitze stehen. Indessen ist die Freimaurerei ihrem eigenen Wesen nach ein Sicherheitsventil gegen revolutionäre Tendenzen. Der bekannte (sehr kleine)6 Prozentsatz an ehrlichen Idealisten im Bestand der Logen erhöht die Gefahr der Freimaurerei.

Deshalb muss ich zu den Schlussfolgerungen gelangen, dass Marceau Pivert aus seinen revolutionären Annahmen nicht die notwendigen Schlussfolgerungen zieht. Und das ist das Gefährlichste in einer revolutionären Epoche. Gerade wegen ihrer Unfähigkeit, die notwendigen praktischen Schlussfolgerungen zu ziehen, zerbrach sich POUM den Kopf. Das ganze Elend liegt anscheinend darin, dass sich Marceau Pivert auch jetzt noch mit seiner radikalen Analyse der Lage zufrieden ist, aber in Unentschlossenheit vor den revolutionären Aufgaben Halt macht, die sich aus dieser Analyse ergeben.

In Verbindung mit dem Gesagten bewerte ich mit der größten Besorgnis die Vorwürfe und Anschuldigungen, die Marceau Pivert gegen einige der Mitglieder der POI erhebt, die jetzt Mitglieder der PSOP7 sind. Sie erlauben sich, nach seinen Worten, „grobe Angriffe", verwenden einen „falschen Ton", stoßen mit ihrer „Schroffheit" ab, usw. usf. Mir liegt der Gedanke fern, einzelne Beispiele zu analysieren, die ich nicht kenne und von hier aus auch nicht kennen kann. Ich räume ein, dass es in dem einen oder anderen Fall taktlose Auftritte8 gegeben haben könnte. Aber kann das eine ernsthafte politische Bedeutung in den Augen eines Revolutionärs haben? Seit es eine Arbeiterbewegung gibt, wurden gegen die Vertreter des linken Flügels (gegen Marx, gegen Engels, gegen Lenin, gegen R. Luxemburg, gegen Karl Liebknecht) immer Anschuldigungen des schlechten Tons, der Schärfe und Taktlosigkeit erhoben. Dies erklärt sich zum einen daraus, dass 9Sozialisten, die sich nicht bis zum Ende von den Vorurteilen der bürgerlichen öffentlichen Meinung losgerissen haben und selbst die Zwiespältigkeit ihrer Stellung spüren, äußerst empfindlich auf jede Kritik reagieren. Das ist ein psychologisches Gesetz! Auf der anderen Seite neigen diejenigen, die sich in ihrem verzweifelten Kampf gegen die herrschenden Parteien unversöhnliche revolutionäre Ansichten angeeignet haben, immer dazu, gerade in einem kritischen Lage, wie wir sie jetzt haben, Ungeduld, Ausdauer und Gereiztheit im Verhältnis zu zentristischen Elementen an den Tag zu legen, die zögern, abwarten, ausweichen und Zeit verschwenden. Der polemische Dialog zwischen diesen beiden Typen verläuft durch die ganze Geschichte der revolutionären Bewegung.

Auf die Demokratie innerhalb der Partei zu verweisen und gleichzeitig über den „Ton" zu klagen, erscheint mir nicht sehr konsequent. Die Demokratie findet ihre Begrenzung im Zentralismus, d.h. in der Notwendigkeit der Einheit des Handelns. Aber zu sagen: weil es bei uns Demokratie gibt, wage es nicht, deinen Mund zu weit aufzumachen und in einem Ton zu sprechen, den ich nicht mag – das ist falsch. Revolutionäre mögen noch weniger den Ton der Ausflüchte, den Ton der Anpassung, den Ton der Ermahnungen an die Adresse Blums. In beiden Fällen ist der Ton untrennbar mit dem Inhalt der Politik verbunden. Über diesen Inhalt muss man reden!

Wenn irgendeines der ehemaligen Mitglieder der POI die Disziplin des PSOP gebrochen hätte, würde ich nicht nur die Anschuldigungen, sondern auch den Ausschluss aus der Partei verstehen. Jede Organisation hat das Recht, ihre Disziplin zu schützen. Aber wenn ich Vorwürfe höre, dass X und Y zu unhöflich ihre Ansichten verteidigten und dadurch zwei „sehr wertvolle" Genossen zwangen, die Partei zu verlassen, bin ich völlig befremdet. Was ist ein Revolutionär wert, der die Partei verlässt, nur weil jemand seine Ansichten scharf kritisierte? Empfindliche Kleinbürger10, die die Partei als Salon, als Verein von Freunden oder als Freimaurerloge betrachtet, sind für die revolutionäre Epoche nicht geeignet. Wenn sie der Kritik nicht standhalten, zeigen sie nur ihren inneren Bankrott11: Solche Menschen brauchen nur einen schicklichen12 Vorwand um die Barrikade zu verlassen.13

Revolutionäre, die offen, wenn auch hart ihre Meinung äußern, sind ungefährlich für die PSOP. Gefährlich für sie sind skrupellose Intriganten, Menschen, die fähig sind, sich zu tarnen, bereit sind, sich hinter irgendwelchen Ideen zu verstecken, heute das eine, morgen das andere verteidigen, Abenteurer vom Typ Raymond Molinier, die versuchen, ihren Einfluss nicht durch ideologischen Kampf, sondern durch Methoden der Intrigen hinter den Kulissen zu gewinnen. 14Gefährlich sind selbstverliebte und völlig sterile Sektierer wie der belgischen Vereeken, die die Partei nur als Publikum für ihre Nachtigallentriller15 brauchen. Der Vorzug der Vierten Internationale ist, dass sie sich systematisch von solchen Elementen befreit hat. Das Gleiche sollte man auch der PSOP wünschen!

Ich möchte hier nicht bei der Frage nach der POUM verweilen: Wer es mit der Sache ernst meint, muss unsere Kritik an der POUM beantworten. Die Ereignisse bestätigten sie voll und ganz. Über die ILP (Independent Labour Party) auch nur zu sprechen, ist nicht nötig: Im Vergleich zu Maxton und Co war der verstorbene Führer der Menschewiki, Martow, ein wahrer Revolutionär. Aber wir wollen von Lenin lernen, nicht von Martow. Nicht wahr, Marceau Pivert?

Die PSOP spaltete sich von der opportunistischen Partei nach links ab, in einem sehr wichtigen und kritischen Moment. Wie ich höre, wird die PSOP von Arbeitern dominiert. Beide Umstände sind sehr wertvolle Pfänder für die mögliche revolutionäre Entwicklung der Partei. Damit diese Möglichkeit Wirklichkeit werden kann, muss die PSOP ein Stadium der breitesten und mutigsten, durch keine äußeren oder fremden16 Erwägungen beschränkten Diskussion durchlaufen. Es handelt sich nicht um den Ton der Kritik, sondern um ihren Inhalt. Es handelt sich nicht um persönliche Selbstliebe17, sondern um das Schicksal des französischen Proletariats. Die kommenden Monate und sogar Wochen werden wahrscheinlich zeigen, ob die PSOP den Weg des Marxismus, also des Bolschewismus, einschlagen kann und will: diese beiden Begriffe fallen für unsere Zeit völlig zusammen.

Ich schüttele Ihnen fest die Hände.

Ihr L. Trotzki

14. Februar 1939 Coyoacán

1In der englischen Übersetzung: „Schurken“

2In der französischen Übersetzung: „durch einen glücklichen Zufall (oder einen unglücklichen, ich weiß es nicht)“

3In der englischen Übersetzung: „vor kurzem … gebrochen hatte“. Der Satz fehlt in der französischen Übersetzung

4Im russischen Text das französische Wort „contremaître“ in kyrillischer Schrift („контрмэтр“)

5In der englischen Übersetzung fehlt: „Arbeiter- oder“

6In der englischen Übersetzung nicht eingeklammert

7In der englischen Übersetzung: „gerade der PSOP beigetreten“

8In der englischen Übersetzung: „Vorfälle, bei denen es an Takt fehlte“, in der französischen Übersetzung fehlt der Satz

9 In der französischen Übersetzung eingefügt: „französischen“

10In der englischen Übersetzung: „kleinbürgerliche Sympathisanten“

11In der englischen Übersetzung: „innere Leere“, in der französischen Übersetzung: „innere Inkonsistenz“

12Fehlt in der englischen Übersetzung

13In der französischen Übersetzung: „verlassen die Barrikade beim kleinsten Vorwand“

14In der französischen Übersetzung statt dem Rest des Absatzes: „Sie sind es, die eine Gefahr für die PSOP darstellen!“

15In der englischen Übersetzung: „Gezwitscher“

16In der englischen und französischen Übersetzung: „zweitrangigen“

17In der englischen Übersetzung: „Stolz“

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