Leo Trotzki: Moralisten und Sykophanten gegen den Marxismus [Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung] Ablasshändler und ihre sozialistischen Verbündeten. Kuckuck in einem fremden Nest. Die Broschüre „Ihre Moral und unsere" hat zumindest das Verdienst, dass sie einige Philister und Sykophanten zwang, sich völlig zu entblößen. Dies zeigen die ersten Meinungen, die ich aus der französischen und belgischen Presse erhielt. Am verständlichsten ist die Rezension der Pariser katholischen Zeitung „La Croix“: Diese Menschen haben ihr System, und sie schämen sich nicht, es zu verteidigen. Sie sind für die absolute Moral und darüber hinaus für den Henker Franco: So ist der Wille Gottes. Sie haben hinter sich eine himmlische Abfallentsorgung, die hinter ihnen allen Dreck entfernt und reinigt. Kein Wunder, wenn sie die unwürdige Moral von Revolutionären verurteilen, die selbst für sich selbst verantwortlich sind. Aber wir interessieren uns jetzt nicht mehr für professionelle Ablasshändler, sondern für Moralisten, die ohne Gott auskommen und versuchen, ihn selbst zu ersetzen. Die Brüsseler „sozialistische" Zeitung „Le Peuple" – hier verbirgt sich die Tugend! – hat in unserem Buch nichts gefunden außer einem verbrecherischen Rezept für die Schaffung geheimer Zellen im Namen des unsittlichsten aller Ziele: das Ansehen und die Einkommen der belgischen Arbeiterbürokratie zu untergraben. Natürlich kann man argumentieren, dass diese Bürokratie mit unzähligem Verrat und direktem Diebstahl besudelt ist (man denke zumindest an die Geschichte der „Arbeiterbank"!); dass sie in der Arbeiterklasse jeden Schimmer von kritischem Denken erstickt; dass sie in ihrer praktischen Moral nicht höher ist als ihr politischer Verbündeter, die katholische Hierarchie. Aber erstens können nur sehr schlecht gebildete Menschen an solche unangenehmen Dinge erinnern; zweitens haben alle diese Herren, egal welches ihre kleinen Sünden, die höchsten Prinzipien der Moral auf Lager: dafür sorgt Henrik de Man, vor dessen hoher Autorität wir Bolschewiki natürlich keinerlei Nachsicht finden können. Bevor wir zu anderen Moralisten weiter gehen, lassen Sie uns für eine Minute bei dem Prospekt Halt machen, die von einem französischen Verleger für unser Buch herausgegeben wurde. Seiner Aufgabenstellung gemäß empfiehlt ein Prospekt entweder ein Buch oder präsentiert zumindest objektiv seinen Inhalt. Wir haben vor uns einen Prospekt ganz anderen Typs. Es genügt, ein Beispiel zu nennen: „Trotzki denkt, dass seine Partei, einst an der Macht, jetzt in der Opposition, immer das wahre Proletariat vertreten hat, und er selbst wahre Moral. Daraus schließt er zum Beispiel folgendes: Das Erschießen von Geiseln hat eine ganz andere Bedeutung, je nachdem, ob der Befehl von Stalin oder Trotzki gegeben wird.... ”. Dieses Zitat reicht aus für die Bewertung des heimlichen Interpreten. Das Recht der Kontrolle des Prospekts ist das unbestrittene Recht eines Autors. Aber da im gegebenen Fall der Autor jenseits des Ozeans ist, kletterte einer der „Freunde", der offensichtlich die Unwissenheit des Verlegers ausnutzte, in das Nest eines anderen und legte dort sein Ei ab – oh natürlich einen sehr kleines, fast jungfräuliches Ei. Wer ist der Autor des Prospekts? Victor Serge, der Übersetzer des Buches und gleichzeitig sein strenger Zensor, kann leicht die notwendigen Informationen erhalten. Ich wäre nicht überrascht, wenn sich herausstellen würde, dass der Prospekt geschrieben wurde … natürlich nicht von Victor Serge, sondern von einem seiner Schüler, der den Lehrer sowohl in seinen Gedanken als auch in seinem Stil imitiert. Aber vielleicht doch durch den Lehrer selbst, also Victor Serge, in der Eigenschaft als „Freund" des Autors? „Hottentotten-Moral!" Souvarine und andere Sykophanten griffen natürlich sofort die zitierten Satz des Prospekts auf, der sie von der Notwendigkeit befreit, sich um die Suche nach vergifteten Sophismen zu bemühen. Wenn Trotzki Geiseln nimmt, dann ist das gut, wenn Stalin, dann schlecht. In Bezug auf diese „Hottentotten-Moral" ist es nicht schwer, edle Entrüstung zu zeigen. Nichts ist jedoch leichter, als gerade an diesem jüngsten Beispiel die Leere und Falschheit dieser Entrüstung zu entdecken. Victor Serge schloss sich öffentlich der POUM an, der katalanischen Partei, die an der Front des Bürgerkriegs ihre eigene Miliz hatte. An der Front schießt und tötet man bekanntlich. Man kann also sagen, dass „Töten1 für V. Serge eine ganz andere Bedeutung annimmt in Abhängigkeit davon, ob der Befehl von General Franco oder den Führern von Victor Serges Partei erteilt wurde". Wenn unser Moralist versuchte, seine eigenen Handlungen zu verstehen, bevor er andere schulmeisterte, hätte er wahrscheinlich aus diesem Anlass gesagt: Aber schließlich kämpften die spanischen Arbeiter für die Befreiung des Volkes und Francos Banden für seine Versklavung! Keinerlei andere Antwort könnte Serge finden. Mit anderen Worten, er wird nur das „Hottentoten"* -Argument Trotzkis in Beziehung zu den Geiseln wiederholen. Noch einmal über Geiseln Es ist jedoch möglich und sogar wahrscheinlich, dass unser Moralist nicht offen aussprechen wird, was ist, sondern versuchen wird, sich herauszuwinden: „Töten an der Front ist das eine, das Erschießen von Geiseln etwas anderes!" Dieses Argument ist, wie wir weiter unten zeigen werden, einfach dumm. Aber stellen wir uns für eine Minute auf den Boden, den unser Gegner angeboten hat. Die Einrichtung von Geiseln, sagen Sie, ist unsittlich „an sich"? Gut, das wollten wir wissen. Aber diese Einrichtung wurde in allen Bürgerkriegen der alten und neuen2 Geschichte praktiziert. Offensichtlich entspringt sie aus der Natur des Bürgerkriegs. Daraus kann man nur eine Schlussfolgerung ziehen, nämlich, dass seiner Natur nach der Bürgerkrieg unsittlich sei. Das ist die Sichtweise der Zeitung La Croix, die glaubt, dass der Macht gehorcht werden müsse, denn die Macht komme von Gott. Und Victor Serge? Er hat keine schlüssige Sichtweise. Ein Ei in das Nest eines anderen zu legen, ist das eine, aber eine Einstellung zu verwickelten historischen Problemen zu bestimmen, ist etwas ziemlich anderes. Ich gebe voll und ganz zu, dass Menschen mit einer so hohen3 Moral wie Azaña, Caballero, Negrin und Co dagegen waren, Geiseln aus dem Lager der Faschisten zu nehmen: hier wie dort waren Bourgeois, durch Verwandtschaft und Eigentum4 verbunden und zuversichtlich, dass sie auch im Falle einer Niederlage nicht nur gerettet würden, sondern auch ihr eigenes Beefsteak5 haben würden. Auf ihre Weise hatten sie Recht. Aber die Faschisten nahmen Geiseln aus dem Milieu der proletarischen Revolutionäre, und die Proletarier auf ihrer Seite nahmen Geiseln aus dem Milieu der faschistischen Bourgeoisie, weil sie wussten, was ihnen oder jedem ihrer Klassenbrüder selbst bei einer teilweisen und vorübergehenden Niederlage drohte. Victor Serge kann sich selbst nicht beantworten, was er eigentlich will: den Bürgerkrieg von der Einrichtung der Geiseln befreien oder die Menschheitsgeschichte vom Bürgerkrieg befreien? Der kleinbürgerliche Moralist denkt episodisch, in kleinen Teilen und Fetzen und ist unfähig, die Erscheinungen in ihrem inneren Zusammenhang zu erfassen. Die künstlich abgesonderte Frage der Geiseln ist für ihn ein selbständiges sittliches Problem, unabhängig von den allgemeinen Bedingungen, die bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Klassen hervorrufen. Der Bürgerkrieg ist selbst der extremste Ausdruck des Klassenkampfes. Der Versuch, ihn abstrakten „Normen" unterzuordnen, bedeutet in der Tat, die Arbeiter gegenüber einem bis an die Zähne bewaffneten Feind zu entwaffnen. Der kleinbürgerliche Moralist ist der jüngere Bruder des bürgerlichen Pazifisten, der den Krieg „humanisieren" will, den Einsatz von Gasen, das Bombardieren offener Städte verbietet usw. Politisch dienen solche Programme nur dazu, die Gedanken der Menschen von der Revolution abzulenken, die das einzige Mittel ist, mit dem Krieg Schluss zu machen. Angst vor der bürgerlichen öffentlichen Meinung Der sich verheddernde Moralist versucht vielleicht darauf zu verweisen, dass der „offene" und „bewusste" Kampf der beiden Lager eine Sache sei, und die Gefangennahme von nicht am Kampf Beteiligten eine andere Sache sei. Dieses Argument ist jedoch nur eine klägliche und unkluge Ausflucht. Im Lager Francos kämpften Zehntausende von betrogenen und gewaltsam rekrutierten Menschen. Die republikanischen Truppen beschossen und töteten diese unglücklichen Gefangenen6 des reaktionären Generals. Ist das sittlich oder unsittlich? Und außerdem führt der gegenwärtige Krieg mit Langstreckenartillerie, Flugzeugen, Gasen und schließlich mit dem Gefolge von Verwüstungen, Hungersnöten, Bränden und Epidemien unweigerlich zum Tod von Hunderttausenden und Millionen von Menschen, die nicht direkt in den Kampf verwickelt sind, einschließlich von Alten und Kindern. In der Eigenschaft von Geiseln nimmt man zumindest Personen, die durch Bande der Klassen- und familiären Solidarität7 mit einem bestimmten Lager oder mit den Führern dieses Lagers verbunden sind. Beim Nehmen von Geiseln ist eine bewusste Wahl möglich. Eine Granate, die aus einer Kanone abgefeuert oder aus einem Flugzeug abgeworfen wird, ist ziellos gerichtet und kann leicht nicht Feinde, sondern Freunde oder deren Väter8 und Kinder vernichten. Warum sondern unsere Moralisten dann die Frage der Geiseln aus und verschließen die Augen vor dem gesamten Inhalt des Bürgerkriegs? Weil sie nicht sehr mutig sind. In der Eigenschaft als „Linke" haben sie Angst, offen mit der Revolution zu brechen. In der Eigenschaft als Kleinbürger haben sie Angst, die Brücken zur offiziellen öffentlichen Meinung zu zerstören. In der Verurteilung des Systems der Geiseln fühlen sie sich in einer guten Gesellschaft – gegen die Bolschewiki. Zu Spanien schweigen sie feige. Dagegen, dass spanische Arbeiter, Anarchisten und Poumisten Geiseln genommen haben, wird Victor Serge protestieren.... in 20 Jahren. Der Sittenkodex des Bürgerkriegs Zur gleichen Kategorie gehört auch eine weitere Entdeckung Victor Serges, nämlich: die Degeneration des Bolschewismus habe in dem Moment begonnen, als die Tscheka das Recht erhielt, in geschlossenen Sitzungen über das Schicksal von Menschen zu entscheiden. Serge spielt mit dem Begriff der Revolution, schreibt Gedichte über sie, kann sie aber nicht so verstehen, wie sie ist. Ein öffentliches Gericht ist nur unter den Bedingungen eines stabilen Regimes möglich. Der Bürgerkrieg ist ein Zustand extremer Instabilität der Gesellschaft und des Staates. So wie es unmöglich ist, in den Zeitungen die Pläne der eigenen Stabes zu drucken, so ist es auch nicht möglich, in öffentlichen Prozessen die Bedingungen und Umstände von Verschwörungen offenzulegen, da sie eng mit dem Verlauf des Bürgerkriegs verbunden sind. Bei geheimen Gerichten nimmt die Möglichkeit von Fehlern zweifellos extrem zu. Das bedeutet nur, wie wir gerne zugeben, dass das Umfeld eines Bürgerkriegs ungünstig für die Ausübung unparteiischer Justiz ist. Und was weiter? Wir schlagen vor, V. Serge zum Vorsitzenden einer Kommission zu ernennen, die sich beispielsweise aus Marceau Pivert, Souvarine, Waldo Frank, M. Eastman, Magdeleine Paz usw. zusammensetzt, um einen Sittenkodex für den Bürgerkrieg auszuarbeiten. Sein allgemeiner Charakter ist im Voraus klar. Beide Lager verpflichten sich, keine Geiseln zu nehmen. In Kraft bleibt das öffentliche Gericht. Für sein reibungsloses Funktionieren bleibt während der Zeit des Bürgerkriegs volle Pressefreiheit gewahrt. Das Bombardieren von Städten, da es dem öffentlichen Gerichtsverfahren, der Pressefreiheit und der Unantastbarkeit der Person Schaden zufügt, ist absolut verboten. Aus den gleichen und vielen anderen Gründen ist der Einsatz von Artillerie verboten. Und da Gewehre, Handgranaten und sogar Bajonette zweifellos eine schädliche Wirkung auf die einzelne Person und die Demokratie insgesamt haben, ist es strengstens verboten, im Bürgerkrieg sowohl Stich- als auch Feuerwaffen einzusetzen. Ein perfekter Code! Ein großartiges Denkmal für die Rhetorik von Victor Serge und Magdeleine Paz! Bislang wurde ein solcher Kodex jedoch nicht von der Führung aller Unterdrücker und Unterdrückten angenommen, die kriegführenden Klassen werden mit allen Mitteln nach dem Siege streben, während kleinbürgerliche Moralisten weiterhin zwischen beiden Lagern herumirren werden. Subjektiv sympathisieren sie mit den Unterdrückten - daran zweifelt niemand. Objektiv bleiben sie Gefangene der Moral der herrschenden Klasse und versuchen, sie den Unterdrückten aufzuzwingen, anstatt ihnen zu helfen, die Moral des Aufstands zu entwickeln. Die Massen haben nichts damit zu tun Victor Serge enthüllte im Vorbeigehen die Ursache für den Zusammenbruch der bolschewistischen Partei: übermäßiger Zentralismus, Misstrauen gegenüber dem ideologischen Kampf, Mangel an freiheitsliebendem (libertaire, im Wesentlichen anarchistischem) Geist. Mehr Vertrauen in die Masse, mehr Freiheit! All dies jenseits von Zeit und Raum. Aber die Massen sind sich überhaupt nicht gleich: Es gibt revolutionäre Massen, es gibt passive Massen, es gibt reaktionäre Massen. Ein und dieselben Massen werden zu verschiedenen Perioden durch unterschiedliche Gefühle und Losungen9 begeistert. Deshalb ist eine zentralisierte Organisation der Avantgarde notwendig. Nur eine Partei, die von gewonnener Autorität Gebrauch macht, kann die Schwankungen der Massen selbst überwinden. Den Massen Merkmale der Heiligkeit zu verleihen und sein Programm auf eine formlose „Demokratie"10 zu reduzieren, bedeutet, sich in der Klasse, wie sie ist, aufzulösen, sich von einer Avantgarde in eine Nachhut zu verwandeln und damit die revolutionären Aufgaben aufzugeben. Auf der anderen Seite, wenn die Diktatur des Proletariats überhaupt eine Bedeutung hat, dann ist sie genau das, was die Avantgarde der Klasse mit staatlichen Mitteln zur Abwehr von Gefahren ausstattet, unter ihnen auch von denen, die von den rückständigen Schichten des Proletariats selbst ausgehen. All dies ist einfach; all dies wird durch die Erfahrung Russlands belegt, durch die Erfahrung Spaniens bestätigt. Aber das Geheimnis liegt darin, dass mit der „Forderung nach Freiheit für die Massen" Victor Serge in der Tat Freiheit für sich und seinesgleichen, Freiheit von jeglicher Kontrolle, jeglicher Disziplin, wenn möglich sogar von jeglicher Kritik fordert. Die „Massen" haben nichts damit zu tun. Wenn unser „Demokrat" sich von rechts nach links und von links nach rechts wälzt und Verwirrung und Skepsis sät, scheint ihm das die Verwirklichung einer rettenden Gedankenfreiheit zu sein. Wenn wir das von einem marxistischen Gesichtspunkt aus als Schwankungen eines verwirrten kleinbürgerlichen Intellektuellen beurteilen, erscheint ihm das als ein Anschlag auf seine Individualität. Dann tritt er in ein Bündnis mit all den Wirrköpfen ein im Namen eines Kreuzzugs gegen unseren Despotismus und unser Sektierertum. Die innere Demokratie einer revolutionären Partei ist kein Selbstzweck. Sie muss durch Zentralismus ergänzt und begrenzt werden. Für einen Marxisten stellt sich die Frage immer so: Demokratie – für was, für welches Programm? Der Rahmen des Programms ist auch der Rahmen der Demokratie. Victor Serge forderte, dass die Vierte Internationale all den Wirrköpfen, Sektierern, Zentristen vom Typ POUM, Vereeken, Marceau Pivert, bürokratischen Konservativen wie Sneevliet und reinen Abenteurern wie R. Molinier Handlungsfreiheit gebe. Auf der anderen Seite hilft Victor Serge systematisch zentristischen Organisationen, aus ihren Reihen die Anhänger der Vierten Internationale zu vertreiben. Diese Demokratie kennen wir sehr gut: Sie ist nachgiebig, umgänglich, versöhnlich – nach rechts und gleichzeitig anspruchsvoll, wählerisch und gehässig – nach links. Sie stellt einfach das Regime der Selbstverteidigung des kleinbürgerlichen Zentrismus dar. Kampf gegen den Marxismus Wenn sich Victor Serge ernsthaft zu den Problemen der Theorie verhalten würde, würde er sich schämen, uns als „Innovator" zurück zu Bernstein, Struve und all den Revisionisten des letzten Jahrhunderts zu ziehen, die versuchten, dem Marxismus den Kantianismus aufzupfropfen, d.h. den Klassenkampf des Proletariats Prinzipien unterzuordnen, die sich angeblich über ihn erheben. Wie auch Kant selbst stellten sie den „kategorischen Imperativ" (die Idee der Pflicht) als eine gewisse für alle absolute Norm der Moral dar. In Wirklichkeit ging die Sache um die „Pflicht" gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft. Bernstein, Struve, Vorländer, nahmen Theorie auf ihre Weise ernst; sie forderten offen eine Rückkehr zu Kant. Victor Serge und seinesgleichen empfinden nicht die geringste Verpflichtung im Verhältnis zu wissenschaftlichem Denken. Sie beschränken sich auf Andeutungen, Insinuationen bestenfalls belletristische Verallgemeinerungen.... Jedoch, wenn man ihre eigenen Gedanken zum Ende führt, erscheint es, dass sie sich an eine alte, seit langem kompromittierte Sache gemacht haben: den Marxismus mit Hilfe des Kantianismus zu zähmen; die sozialistische Revolution mit „absoluten" Normen zu paralysieren, die in der Tat eine philosophische Verallgemeinerung der Interessen der Bourgeoisie darstellen, es stimmt, nicht der derzeitigen, sondern der dahingeschiedenen Bourgeoisie der Ära des Freihandels und der Demokratie. Die imperialistische Bourgeoisie befolgt diese Normen noch weniger als ihre liberale Großmutter. Aber sie schaut wohlwollend darauf, wie kleinbürgerliche Prediger Verwirrung, Zwist und Schwanken in die Reihen des revolutionären Proletariats bringen. Das Hauptziel nicht nur Hitlers, sondern auch der Liberalen und Demokraten ist: den Bolschewismus in einer Zeit zu kompromittieren, in der seine historische Richtigkeit für die Massen völlig offensichtlich zu werden droht. Bolschewismus, Marxismus – das ist der Feind! Als der „Bruder" Victor Basch, der Hohepriester der demokratischen Moral, mit Hilfe seines „Bruders" Rosenmark zur Verteidigung der Moskauer Prozesse Fälschungen beging und öffentlich überführt wurde, da schlug er sich auf die Brust und rief aus: „Bin ich voreingenommen? Ich habe immer den Terror Lenins und Trotzkis entlarvt.“ Basch offenbarte wunderschön die innere Sprungfeder der Moralisten der Demokratie: Einige von ihnen mögen über die Moskauer Prozesse schweigen, andere mögen die Prozesse angreifen, andere mögen die Prozesse verteidigen; aber ihre gemeinsame Sorge ist es, die Prozesse einzusetzen, um die „Moral" Lenins und Trotzkis zu verurteilen, d.h. die Methoden der proletarischen Revolution. In diesem Bereich sind sie Brüder. Der oben zitierte skandalöse Prospekt besagt, dass ich meine Ansichten zur Moral „gestützt auf Lenin" dargelegt hätte. Diese unbestimmte Phrase, die in anderen Publikationen wiedergegeben wurde, kann in dem Sinne verstanden werden, dass ich theoretische Sätze Lenins entwickle. Aber Lenin hat, soweit ich weiß, nicht über Moral geschrieben. Victor Serge will eigentlich etwas anderes sagen, nämlich, dass meine unmoralischen Ideen eine Verallgemeinerung der Praxis des „Amoralisten" Lenin darstellen. Er will Lenins Persönlichkeit mit meinen Ansichten kompromittieren und meine Ansichten mit Lenins Persönlichkeit. Er schmeichelt sich einfach in die allgemeine reaktionäre Tendenz ein, die sich gegen den Bolschewismus und den Marxismus in der Gesamtheit richtet. Der Sykophant Souvarine Der Ex-Pazifist, Ex-Kommunist, Ex-Trotzkist, Ex-demokratische-Kommunist, Ex-Marxist.... fast Ex-Souvarine attackiert mit desto größerer Unverschämtheit die proletarische Revolution und die Revolutionäre, je weniger er weiß, was er will. Dieser Mensch liebt und weiß, wie man Zitate, Dokumente, Kommas und Anführungszeichen sammelt, ein Dossier zusammenstellt und hat zudem einen geübten Stil. Zuerst hoffte er, dass dieses Gepäck für das ganze Leben ausreichen würde. Aber dann musste er sich überzeugen, dass man auch noch denken können muss …11 Sein Buch über Stalin ist trotz der Fülle interessanter Zitate und Fakten ein Selbstzeugnis seiner eigenen Armut. Souvarine versteht weder, was Revolution ist, noch was Konterrevolution ist. Er wendet auf den historischen Prozess die Kriterien eines kleinen Räsonneurs12 an, der sich ein für allemal von der unzulänglichen Menschheit verletzt fühlt. Die Disproportion zwischen seiner Kritik und seiner schöpferischen Ohnmacht frisst ihn wie eine Säure auf. Daher die ständige Verbitterung und der Mangel an elementarer Gewissenhaftigkeit bei der Bewertung von Ideen, Menschen und Ereignissen, verdeckt durch trockenes Moralisieren. Wie alle Misanthropen und Zyniker neigt Souvarine organisch zur Reaktion. Hat Souvarine offen mit dem Marxismus gebrochen? Wir haben davon nie gehört. Er bevorzugt die Zweideutigkeit: Das ist sein heimisches Element. „Trotzki“ … – schreibt er in der Rezension meiner Broschüre – „sitzt erneut auf seinen eigenen Steckenpferd Klassenkampf auf." Denn für den gestrigen Marxisten ist Klassenkampf .... „Trotzkis Steckenpferd". Kein Wunder, wenn Souvarine selbst lieber auf dem toten Hund ewige Moral aufsitzt. Die marxistische Konzeption stellt er „einem Gefühl der Gerechtigkeit … unabhängig von Klassenunterschieden" gegenüber. Erfreulich zumindest, sich bewusst zu werden, dass unsere Gesellschaft auf einem „Gefühl der Gerechtigkeit" beruht. Zur Zeit des nächsten Krieges wird Souvarine seine Entdeckung zweifellos den Soldaten in den Schützengräben und in der Zwischenzeit den Invaliden des letzten Krieges, den Arbeitslosen, verlassenen Kindern und Prostituierten präsentieren. Wir geben im Voraus zu: Wenn er dabei gehauen wird, dann wird unser „Gefühl für Gerechtigkeit" nicht auf seiner Seite sein … Die kritische Notiz dieses schamlosen Apologeten bürgerlicher Gerechtigkeit „unabhängig von Klassenunterschieden", stützt sich vollständig auf den von Victor Serge angeregten Prospekt. Seinerseits geht dieser Letztere bei all seinen „theoretischen" Versuchen nicht weiter als zu halbherzigen Entlehnungen von Souvarine. Und trotz alledem hat Letzterer einen Vorteil: Er beendet, was Victor Serge nicht zu sagen wagt. Mit gefälschter Entrüstung – bei diesem Menschen ist nichts echt – schreibt Souvarine, dass, da Trotzki die Moral von Demokraten, Reformisten, Stalinisten und Anarchisten verurteilt, sich herausstellt, dass nur „die Partei Trotzkis" eine Retterin der Sittlichkeit sei, und da diese Partei „nicht existiert“, zu guter Letzt Trotzki selbst die Verkörperung der Moral sei. Wie kann man bei diesem Thema nicht kichern? Souvarine stellt sich anscheinend vor, dass er zwischen dem, was existiert, und dem, was nicht existiert, unterscheiden kann. Das ist sehr einfach, solange die Sache von Rührei und Hosenträger handelt. Aber im Maßstab des historischen Prozesses ist eine solche Unterscheidung für Souvarine eindeutig zu hoch. Das „Bestehende" wird geboren oder stirbt, entwickelt sich oder zerfällt. Das Bestehende begreifen kann nur, wer seine inneren Tendenzen versteht. Die Anzahl der Menschen, die zu Beginn des letzten imperialistischen Krieges eine revolutionäre Position einnahmen, konnte man an den Fingern abzählen. Unterschiedliche Schattierungen des Chauvinismus nahmen fast das gesamte Feld der offiziellen Politik ein. Liebknecht, Luxemburg, Lenin schienen kraftlose Einzelgänger zu sein. Kann man jedoch daran zweifeln, dass ihre Moral höher war als die Hundemoral der „heiligen Einheit"13? Liebknechts revolutionäre Politik war keineswegs „individualistisch", wie es damals dem durchschnittlichen patriotischen Philister erschien. Im Gegenteil, Liebknecht, und nur er, reflektierte und antizipierte tiefe Untergrundströmungen unter den Massen. Der weitere Verlauf der Ereignisse bestätigte dies vollständig. Heute den völligen Bruch mit der offiziellen öffentlichen Meinung nicht fürchten, um das Recht zu gewinnen, den Gedanken und Gefühlen der aufständischen Massen morgen Ausdruck zu geben, ist eine besondere Art der Existenz, die sich von der empirischen Existenz der Müßiggänger unterscheidet. Unter den Trümmern der aufziehenden Katastrophe werden alle Parteien der kapitalistischen Gesellschaft, alle ihre Moralisten und alle ihre Sykophanten untergehen. Die einzige Partei, die überleben wird, das ist die Partei der Sozialistischen Weltrevolution, obwohl sie für blind geborene Räsonneure jetzt belanglos14 zu sein scheint, wie im letzten Krieg die Partei Lenins und Liebknechts belanglos zu sein schien. Revolutionäre und Träger des Marasmus15 Engels schrieb einmal, dass er und Marx ihr ganzes Leben lang in der Minderheit blieben und sich dabei „sehr gut fühlten". Solche Perioden, in denen die Bewegung der unterdrückten Klasse auf die Ebene der allgemeinen Aufgaben der Revolution aufsteigt, stellen die seltenste Ausnahme in der Geschichte dar. Niederlagen der Unterdrückten sind bei weitem häufiger als Siege. Nach jeder Niederlage setzt eine lange Zeit der Reaktion ein, die Revolutionäre in einen Zustand grausamer Isolation versetzt. Die angeblichen16 Revolutionäre, die „Ritter für eine Stunde", nach dem Ausdruck eines russischen Dichters, verraten entweder offen in solchen Perioden die Sache der Unterdrückten oder suchen nach einer Rettungsformel, die es ihnen ermöglichen würde, mit keinem der Lager zu brechen. In unserer Zeit eine Versöhnungsformel im Bereich der politischen Ökonomie oder Soziologie zu finden, ist undenkbar: die Klassenwidersprüche haben unwiderruflich die Formel der liberalen „Harmonisten" und demokratischen Reformisten untergraben. Es bleiben der Bereich der Religion oder der transzendentalen Moral. Russische „Sozialrevolutionäre" versuchen, die Demokratie durch die Vereinigung mit der Kirche zu retten. Marceau Pivert ersetzt die Kirche durch die Freimaurerloge. Victor Serge ist offenbar noch nicht in die Loge eingetreten, findet aber leicht eine gemeinsame Sprache mit Pivert gegen den Marxismus. Zwei Klassen entscheiden über das Schicksal der modernen Gesellschaft: die imperialistische Bourgeoisie und das Proletariat. Die letzte Ressource der Bourgeoisie ist der Faschismus, der soziale und historische Kriterien durch biologische und zoologische ersetzt, um sich auf diesem Wege von allen Beschränkungen im Kampf um das kapitalistische Eigentum zu befreien. Die Kultur retten kann nur die sozialistische Revolution. Das Proletariat braucht all seine Kraft, seine Entschlossenheit, seinen Mut, seine Leidenschaft, seine Unbarmherzigkeit, um den Umsturz zu vollziehen. Zuerst braucht es völlige Unabhängigkeit von den Fiktionen der Religion, der „Demokratie" und der transzendenten Moral – von den geistigen Ketten, die der Feind für seine Zähmung und Versklavung geschaffen hat. Sittlich ist das und nur das, was den vollständigen und endgültigen Sturz der imperialistischen Bestialität vorbereitet. Das Wohl der Revolution ist höchstes Gesetz! Ein klares Verständnis der Beziehung zwischen den beiden Hauptklassen: der Bourgeoisie und dem Proletariat in der Zeit ihres tödlichen Kampfes offenbart uns die objektive Bedeutung der Rolle der kleinbürgerlichen Moralisten. Ihr Hauptmerkmal ist ihre Kraftlosigkeit: sozial – kraft des wirtschaftlichen Verfalls des Kleinbürgertums; ideenmäßig17 – kraft des Erschreckens des Kleinbürgertum vor der ungeheuren Zügellosigkeit des Klassenkampfes. Daher das Streben des Kleinbürgertums, sowohl des gebildeten als auch des ungebildeten, den Klassenkampf einzudämmen. Wenn dies mit Hilfe der ewigen Moral nicht gelingt – und das kann nicht gelingen –, stürzt sich der Kleinbürger in die Arme des Faschismus, der den Klassenkampf mit Mythos und Beil18 bändigt. Der Moralismus von Victor Serge und seinesgleichen ist eine Brücke von der Revolution zur Reaktion. Souvarine ist bereits auf der anderen Seite der Brücke. Das geringste Zugeständnis an solche Tendenzen bedeutet den Beginn der Kapitulation vor der Reaktion. Mögen diese Träger des Marasmus Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier moralische Regeln auferlegen. Uns genügt das Programm der proletarischen Revolution. L. Trotzki. Coyoacán, 9. Juni 1939 1In der französischen Übersetzung: „Massaker“ * Wir werden nicht auf den obszönen Brauch eingehen, die Hottentotten verächtlich zu behandeln, damit die Moral der weißen Sklavenhalter umso strahlender erscheine. Darüber wurde genug in der Broschüre gesagt. 2In der englischen und französischen Übersetzung: „antiken und modernen“ 3In der englischen und französischen Übersetzung: „transzendentalen“ 4In der französischen Übersetzung: „materielle und Familienbande“, in der englischen Übersetzung: „Familien- und materielle Bande“ 5In der französischen Übersetzung: „Existenzmittel“ 6In der französischen Übersetzung: „beschossen … und töteten viele von ihnen“ 7In der französischen Übersetzung: „Klassenbande und familiäre Solidarität“ 8In der englischen und französischen Übersetzung: „Eltern“ 9In der englischen und französischen Übersetzung: „Ziele“ 10In der französischen Übersetzung ohne Anführungszeichen 11In der französischen Übersetzung ohne Pünktchen 12In der englischen Übersetzung: „Rationalisierers“ 13„Union sacrée“ (Heilige Einheit) war im Ersten Weltkrieg das französische Gegenstück zum deutschen „Burgfrieden“ 14In der englischen und französischen Übersetzung zweimal: „nicht-existent“ 15In der englischen und französischen Übersetzung: „Infektion“ 16In der englischen und französischen Übersetzung: „Pseudo-“ 17In der englischen und französischen Übersetzung: „ideologisch“ 18In der englischen und französischen Übersetzung: „Henkersbeil“ |
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