Leo Trotzki: Ex-radikale Intellektuelle und Weltreaktion [Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung] Die ältere Generation radikaler Intellektueller befand sich im letzten Jahrzehnt unter dem starken Einfluss des Stalinismus. Jetzt verbreitet sich die Abwendung vom Stalinismus mehr und mehr, zumindest in den entwickelten Ländern. Die einen sind wirklich enttäuscht von ihren Illusionen, während andere einfach sehen, dass das Schiff in Gefahr ist, und es eilig haben, es zu verlassen. Es wäre naiv zu erwarten, dass diese „Enttäuschten" zum Marxismus zurückkehren, den sie in der Tat nie kannten. Die Abkehr vom Stalinismus bedeutet für die meisten Intellektuellen einen vollständigen Bruch mit der Revolution und eine passive Versöhnung mit der nationalen1 Demokratie. Solche „Desillusionierten" bilden auf ihre Weise eine Brutstätte für die Bazillen von Skepsis und Pessimismus. „Jetzt kann man nichts machen“, sagen sie, „Europa wird sowieso völlig unter die Macht des Faschismus fallen, und die Bourgeoisie in den Vereinigten Staaten ist zu mächtig. Revolutionäre Wege führen nirgendwo hin. Man muss sich an das demokratische Regime anzupassen; man muss es vor Angriffen schützen. Die Vierte Internationale hat keine Zukunft, zumindest für die nächsten zwei oder drei Jahrzehnte", usw. usf. Unter den Enttäuschten sind nicht nur Stalinisten, sondern auch zeitweilige Weggefährten des Bolschewismus. Viktor Serge, um ein Beispiel zu nennen, erklärte kürzlich, dass der Bolschewismus eine Krise durchlaufe, die eine „Krise des Marxismus" ankündige. In seiner theoretischen Unschuld stellt sich Serge vor, dass er der Erste sei, der diese Entdeckung gemacht habe. Indessen haben in allen reaktionären Epochen Dutzende und Hunderte von instabilen Revolutionären die „Krise des Marxismus" ausgerufen, die letzte, endgültige, tödliche Krise. Dass die alte bolschewistische Partei verbraucht, degeneriert, gestorben ist – das ist unbestreitbar. Aber der Tod einer bestimmten historischen Partei, die sich in einer gewissen Periode auf die marxistische Doktrin stützte, bedeutet nicht den Tod dieser Doktrin. Die Niederlage einer Armee hebt die Grundprinzipien der Strategie nicht auf. Wenn ein Artillerist Fehlschüsse macht, fällt dadurch nicht die Ballistik, d.h. die Algebra2 der Artillerie, weg. Wenn die Armee des Proletariats besiegt wird oder seine Partei degeneriert, wird dadurch nicht der Marxismus widerrufen, der die Algebra der Revolution ist. Dass Viktor Serge eine „Krise" durchmacht, d.h. hoffnungslos verwirrt ist, wie Tausende anderer Intellektueller, ist klar. Aber eine Krise des Victor Serge ist keine Krise des Marxismus. Auf jeden Fall wird nicht ein ernsthafter Revolutionär den Gang der Geschichte an dem Maßstab verwirrter Intellektueller, desillusionierter Stalinisten und verzagter Skeptiker messen. Die Weltreaktion hat zweifellos eine ungeheure Wucht erreicht. Aber damit hat sie selbst die größte revolutionäre Krise vorbereitet. Der Faschismus kann ganz Europa erobern. Jedoch sich in ihm halten kann er nicht nur nicht für „tausend Jahre“, wie Hitler träumt, sondern auch nicht für zehn Jahre. Die Faschisierung Europas bedeutet eine monströse Verschärfung der Klassen- und internationalen Widersprüchen. Es ist absurd, unwissenschaftlich, unhistorisch, zu denken, dass sich die Reaktion so langsam entfalten wird, wie sie sich angesammelt hat. Reaktion bedeutet eine mechanische Unterdrückung der Widersprüche. Auf einem bestimmten Niveau ist eine Explosion unvermeidlich. Die Weltreaktion wird gestürzt werden durch die größte historische Katastrophe oder, richtiger, durch eine Serie revolutionärer Katastrophen. Der bevorstehende Krieg, den jeder jetzt in kürzester Zeit erwartet, wird den Zusammenbruch aller Illusionen nicht nur in Reformismus, Pazifismus und Demokratismus3, sondern auch in den Faschismus bedeuten. Ein einziger Leuchtturm wird sich über dem blutigen Chaos erheben: der Leuchtturm des Marxismus. Hegel sagte4: Was vernünftig ist, das ist wirklich. Das bedeutet: Jede Idee, die den objektiven Bedürfnissen der Entwicklung entspricht, kommt zum Triumph und zum Sieg5. Nicht ein intellektuell ehrlicher Mensch kann leugnen, dass die Analyse und Prognose, die von den Bolschewiki-Leninisten (IV. International) im Verlauf der letzten fünfzehn Jahren gegeben wurde, in den Ereignissen unserer Tage volle Bestätigung fanden und finden. Es ist gerade diese Gewissheit ihrer Richtigkeit, die die wesentlichen Sektionen der IV Internationale6 stark und unverwüstlich macht. Die Katastrophen des europäischen und Weltkapitalismus, die über der Menschheit aufziehen, machen den Weg frei für die gehärteten Kader der revolutionären Marxisten. Mögen die Entmutigten ihre Toten begraben. Die Arbeiterklasse7 ist nicht tot. Auf ihr hält sich nach wie vor die Gesellschaft. Sie braucht eine neue Führung. Sie wird sie nirgendwo finden, außer bei der IV Internationale. Was vernünftig ist, ist wirklich, d.h. real. Sozialdemokratie und Stalinokratie stellen bereits jetzt grandiose Fiktionen dar. Nur die IV. Internationale stellt eine unzerstörbare Realität dar. 1In der englischen und französischen Übersetzung: „nationalistischen“ 2In der französischen Übersetzung hier und im nächsten Satz: „Wissenschaft“ 3In der französischen Übersetzung: „Demokratie“ 4In der englischen und französischen Übersetzung: „liebte zu sagen“ 5In der französischen Übersetzung: „siegt und triumphiert“ 6In der französischen Übersetzung: „die Vierte Internationale konstituierenden Sektionen“ 7In der französischen Übersetzung: „Klasse der Werktätigen“ |
Leo Trotzki > 1939 >