Leo Trotzki: Brief an Lilia Estrin und Mark Zborowski (17. Februar 1939) [Eigene Übersetzung nach der französischen Übersetzung, dort unter dem Titel „Questions du travail russe“, Fragen der russischen Arbeit] Werter Genosse, Ich habe Ihren Brief Nr. 3 vom 26. Januar und die beigefügten Notizen und Auszüge erhalten. Zum Inhalt der von Ihnen angesprochenen Fragen: 1. Was den Begriff der „alten Bolschewiki" betrifft, so glaube ich, dass man sich vor jeder Pedanterie hüten muss. Selbstverständlich muss man zuerst das chronologische Kriterium festlegen. Aber man muss es durch ein politisches Kriterium ergänzen. Man kann von vielen Persönlichkeiten nicht sprechen, wenn man nicht den Begriff „alte Bolschewiki" ganz einfach auf den Begriff „alte Revolutionäre" oder gar „Revolutionär" erweitert. Die Frage, die uns beschäftigt, ist die Vernichtung von zwei oder drei Generationen von Revolutionären durch die bonapartistische Bürokratie. Das politische Kriterium muss Vorrang vor dem einfachen chronologischen Kriterium und vor dem formalen Kriterium der Parteizugehörigkeit haben. Ich glaube, dass Sie durch die Kombination von formalen und politischen Kriterien das notwendige Ergebnis erzielen werden. Diese Arbeit ist äußerst wertvoll und wird zweifellos ein internationales Echo haben. 2. Zum Thema Aleksandrowa: Ich glaube nicht, dass das Problem der Definition der UdSSR, ob „Arbeiterstaat" oder nicht, an sich ein unüberwindbares Hindernis für die politische Annäherung darstellen kann. Selbst in den Reihen der Vierten Internationale erhoben sich viele Genossen gegen die Definition der UdSSR als „Arbeiterstaat". Die Ursache dieser Ablehnung liegt meiner Meinung nach in den meisten Fällen in einem Mangel an Dialektik bei der Herangehensweise an das Problem. Meistens geben diese Genossen die gleiche Einschätzung der UdSSR wie wir. Aber sie neigen dazu, das Konzept des Arbeiterstaates als eine logische und sogar etwas ethische Kategorie zu verwenden und nicht als eine historische Kategorie, die an den Rand ihrer eigenen Negation gerückt ist. Es würde ein historisches Großereignis erfordern, eine Umkehrung der Lage in der UdSSR, den Zusammenbruch der stalinistischen Clique, damit sich diese Genossen sagen können: „Ja, bis jetzt hatten wir einen degenerierten Arbeiterstaat. » Noch ernster ist Aleksandrowas Position zum Krieg. Stimmt sie beispielsweise mit dem im Artikel „Lehren der gegenwärtigen Lage" entwickelten Standpunkt überein? Ich bin der Ansicht, dass eine Einigung in dieser Frage sowie beim Programm der Übergangsforderungen unendlich wichtiger ist als eine (vielleicht nur terminologische) Divergenz zur UdSSR. Die Zersetzung des alten Menschewiki-Kerns zeigt sich in der Lektüre des Sozialistitscheskij Westnik: Es gibt Unterschiede in der Einschätzung der grundlegenden Fragen des Imperialismus und des Krieges. Das ist nicht verwunderlich: Der Krieg naht heran! Wenn Sie es schaffen, Aleksandrowa zu gewinnen, die sicherlich ein fähiger und nachdenklicher Mensch ist, werden wir Ihnen einen Orden geben – zum Beispiel den von Alexander Newski (er ist im Moment in Mode). 3. Was Grasset betrifft, so schreibe ich an Denise; ich hoffe, sie wird zustimmen. 4. In New York fanden wir Schumjazkis Broschüre, Turuchanska. 5. Das schwierigste und bei weitem wichtigste Problem ist das „Aufkommen des Thermidor“, der Geisteswandel in den tiefen Massen, in der Partei und im Sowjetapparat. Dieses Kapitel ist am schwierigsten. Ich habe es in meiner Autobiographie erwähnt. Aber damals habe ich mich auf persönliche Eindrücke und allgemeine Überlegungen gestützt. In meiner Geschichte der Russischen Revolution habe ich versucht, die verschiedenen Phasen des Eintritts der Massen in den revolutionären Prozess zu charakterisieren. Man muss nun den Film in die andere Richtung abrollen, d.h. den Niedergang, die Dekadenz des revolutionären Geistes, das Fallen der Massen in Gleichgültigkeit, das Erwachen alter Ideologien, die sich kein Jota verändert haben, und andererseits das Entstehen konservativer, thermidorianischer Strömungen in den herrschenden Schichten zeigen. Es gibt keine – oder fast keine – Bücher oder Artikel zu diesem Thema. Aber man findet hier und da in verschiedenen Publikationen isolierte Daten, Hinweise, Bemerkungen, Fakten, Episoden. Haben Sie eine Ahnung, was man in Paris dazu zusammenstellen kann? Auch einzelne Details können hier sehr nützlich sein, um diesen Zeitraum als Ganzes zu charakterisieren. |
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