Leo
Trotzki: Mehr über die Niederschlagung Kronstadts [Nach W. I. Lenin, L. Trotzki, V. Serge, Kronstadt, Frankfurt/Main 1981, S. 90-92] In meinem letzten Artikel über Kronstadt versuchte ich die Frage auf einer politischen Ebene zu stellen. Aber viele sind am Problem persönlicher „Verantwortlichkeit" interessiert. Souvarine, der von einem trägen Marxisten zu einem erhabenen Kriecher wurde, versichert in seinem Buch über Stalin, dass ich in meiner Autobiographie bewusst über die Kronstädter Rebellion schwieg; es gibt „Heldentaten" – sagt er sarkastisch – deren man sich nicht brüstet. Ciliga zählt in seinem Buch „Im Land der Großen Lüge" auf, dass bei der Niederschlagung von Kronstadt „mehr als zehntausend Seeleute" von mir erschossen wurden. (Ich bezweifle, dass die ganze baltische Flotte zu dieser Zeit so viele hatte.) Andere Kritiker drücken sich so aus: ja, objektiv hatte die1 Rebellion einen konterrevolutionären Charakter, aber warum benutzte Trotzki solch gnadenlose Repression bei der Befriedung und hinterher? Ich habe diese Frage niemals berührt. Nicht weil ich etwas zu verbergen hätte, sondern im Gegenteil genau deshalb, weil ich dazu nichts zu sagen hatte. Die Wahrheit jener Geschichte ist, dass ich persönlich nicht im Mindesten an der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands teilgenommen habe, noch in der Repression nach der Niederschlagung. In meinen Augen ist diese Tatsache von keiner politischen Bedeutung. Ich war Mitglied der Regierung, ich fand die Bekämpfung des Aufstands notwendig und trage deshalb Verantwortung für dessen Niederschlagung. Nur in diesen Grenzen habe ich bis jetzt der Kritik geantwortet. Aber wenn Moralisten mich persönlich belangen, mich anklagen, Grausamkeit auszuüben, die unter Umständen nicht nötig war, denke ich, dass ich das Recht habe zu sagen: „Meine Herren Moralisten, sie lügen ein wenig". Der Aufstand brach während meines Aufenthalts im Ural aus. Vom Ural kam ich sofort zum Zehnten Parteitag nach Moskau. Die Entscheidung, den Aufstand mit militärischer Gewalt niederzuschlagen, falls die Festung nicht zur Übergabe bewegt werden konnte, zuerst durch Friedensverhandlungen dann durch ein Ultimatum – dieser allgemeine Beschluss wurde mit meiner direkten Teilnahme gefällt. Aber nachdem der Beschluss gefällt war, blieb ich weiterhin in Moskau, nahm nicht direkt noch indirekt an den militärischen Operationen teil. Was die Repression hinterher betrifft, so war sie vollständig Angelegenheit der Tscheka. Wie kam es dazu, dass ich nicht persönlich nach Kronstadt ging? Der Grund war politischer Natur. Der Aufstand brach während der Diskussion über die sogenannte Gewerkschaftsfrage aus. Die politische Arbeit in Kronstadt war ganz in der Hand des Petersburger Komitees, an dessen Spitze Sinowjew stand. Derselbe Sinowjew war der hauptsächliche, unermüdlichste und leidenschaftlichste Anführer im Kampf gegen mich in der Diskussion. Vor meiner Abreise in den Ural war ich in Petersburg und sprach auf einer Versammlung kommunistischer Seeleute. Der allgemeine Geist der Versammlung machte einen extrem ungünstigen Eindruck auf mich. Dandyhafte und wohlgenährte Matrosen, Kommunisten nur dem Namen nach, erweckten den Eindruck von Parasiten im Vergleich mit den Arbeitern und Rotarmisten jener Zeit. Von Seiten des Petersburger Komitees wurde die Kampagne auf extrem demagogische Weise geführt. Das Kommandopersonal der Flotte war isoliert und verängstigt. Sinowjews Resolution erhielt wahrscheinlich 90% der Stimmen. Ich erinnere mich, bei dieser Gelegenheit zu Sinowjew gesagt zu haben: „Alles ist sehr gut hier, bis es sehr schlecht wird." Danach war Sinowjew mit mir im Ural wo er eine dringende Nachricht erhielt dass die Dinge in Kronstadt „sehr schlecht" würden. Die überwältigende Mehrheit der Matrosen-„Kommunisten", die Sinowjews Resolution unterstützt hatten nahm am Aufstand teil. Ich schlug vor – und das Politische Büro machte keine Bedenken geltend – dass Verhandlungen mit den Matrosen und, falls notwendig ihre Befriedung, jenen Führern überlassen werden solle, die noch gestern das politische Vertrauen jener Matrosen genossen. Andernfalls hätten die Kronstädter die Angelegenheit so angesehen, als ob ich gekommen wäre, um „Rache" dafür zu nehmen, dass sie während der Parteidiskussion gegen mich gestimmt hatten. Ob richtig oder nicht, jedenfalls waren es genau diese Überlegungen, die meine Haltung bestimmten. Ich trat völlig und demonstrativ von dieser Sache zurück. Was die Repression betrifft, hatte Dserschinski, soweit ich mich erinnere, persönlich dieses Amt übernommen, und Dserschinski duldete niemandes Einmischung in seine Funktionen (und völlig zu recht). Ob es unnötige Opfer gegeben hat, weiß ich nicht. Bei dieser Abrechnung vertraue ich Dserschinski mehr als seinen verspäteten Kritikern. Mangels Daten kann ich es nicht heute im Nachhinein entscheiden, wer hätte bestraft werden müssen und wie. Victor Serges Schlussfolgerungen bezüglich dieser Abrechnung – aus dritter Hand – haben in meinen Augen keinen Wert. Aber ich bin bereit, anzuerkennen, dass Bürgerkrieg keine Schule des Humanismus ist. Idealisten und Pazifisten haben die Revolution immer der „Exzesse" angeklagt. Aber die Hauptsache ist, dass „Exzesse" gerade von der Natur der Revolution als solcher herrühren, welche selbst nichts anderes als ein „Exzess" der Geschichte ist. Wer immer es wünscht, möge auf dieser Grundlage (in kleinen Artikeln) Revolution im Allgemeinen zurückweisen. Ich weise sie nicht zurück. In diesem Sinn trage ich voll und ganz die Verantwortung für die Niederschlagung des Aufstands von Kronstadt. 1Der Beginn des Satz fehlt in der isp-Ausgabe und ist hier nach dem englischen Text ergänzt |
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