Leo Trotzki: Karl Kautsky [Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 7, Nr. 1 (92), Mitte Februar 1939, S. 3] Der Tod Karl Kautskys ist beinahe unbemerkt vorbeigegangen. Der jungen Generation sagt dieser Name relativ wenig. Es war jedoch eine Zeit, wo Kautsky im wahren Sinne des Wortes der Lehrer der proletarischen Avantgarde war. Allerdings war sein Einfluss in den angelsächsischen Ländern und zum Teil auch in Frankreich weniger stark; das aber erklärt sich aus dem schwachen Einfluss des Marxismus in diesen Ländern überhaupt; in Deutschland. Österreich, Russland und den anderen slawischen Ländern war Kautsky eine unbestrittene marxistische Autorität geworden. Die Versuche der gegenwärtigen Geschichtsschreibung der Komintern, die Dinge so darzustellen, als ob Lenin schon in seinen jungen Jahren in Kautsky einen Opportunisten gesehen und ihm den Krieg erklärt hätte, steilen eine grobe Fälschung der. Fast bis zum Weltkriege sah Lenin in Kautsky den wahren Fortsetzer der Sache von Marx und Engels. Dieser Irrtum findet seine Erklärung im Charakter der Epoche, die eine Ära kapitalistischen Aufschwungs, eine Ära der Demokratie und der Anpassung des Proletariats war. Die revolutionäre Seite des Marxismus hatte sich in eine unbestimmte, jedenfalls ferne Perspektive verwandelt. Kampf um Reformen und Propaganda standen auf der Tagesordnung. Kautskys Werk bestand darin, die Politik der Reformen vom Standpunkt einer revolutionären Perspektive aus zu kommentieren und zu rechtfertigen. Selbstverständlich hätte Kautsky bei einer Änderung der objektiven Bedingungen die Partei mit anderen Methoden ausrüsten können. Das traf jedoch nicht ein. Das Einsetzen einer Epoche großer Krisen und großer Erschütterungen offenbarte den durch und durch reformistischen Charakter der Sozialdemokratie und ihres Theoretikers Kautsky. Zu Beginn des Krieges brach Lenin entschlossen mit Kautsky. Nach der Oktoberrevolution veröffentlichte er ein schonungsloses Buch über den »Renegaten Kautsky». Was den Marxismus angeht, so war Kautskys Haltung seit Beginn des Krieges unbestreitbar die eines Renegaten. Was jedoch seine Person betrifft, so war er seiner Vergangenheit gegenüber sozusagen nur zur Hälfte ein Renegat: als die Probleme des Klassenkampfes sich in ihrer ganzen Schärfe stellten, sah sich Kautsky gezwungen, die letzten Schlussfolgerungen seines organischen Opportunismus zu ziehen. Kautsky hinterlässt zweifelsohne eine Reihe wertvoller Arbeiten auf dem Gebiet der marxistischen Theorie, die er erfolgreich auf den verschiedensten Gebieten anwandte. Sein analytisches Denken zeichnete sich durch eine außergewöhnliche Kraft aus. Aber er besaß nicht den universellen schöpferischen Geist eines Marx, Engels oder Lenin: Kautsky war im Grunde sein Leben lang nur ein talentierter Kommentator. Seinem Charakter und seinem Denken fehlte jene Kühnheit und jener Gedankenflug, ohne die eine revolutionäre Politik unmöglich ist. Beim ersten Kanonenschuss nahm er eine schwankende pazifistische Haltung ein, dann wurde er einer der Führer der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, die eine Internationale 2½ schaffen wollte, um schließlich mit den Trümmern der Unabhängigen Partei In den Schoß der Sozialdemokratie zurückzukehren. Kautsky begriff nichts von der Oktoberrevolution, hatte vor ihr den Schrecken eines kleinbürgerlichen Gelehrten und widmete ihr eine ganze Reihe von Arbeiten, die von einem Geiste erbitterter Feindschaft durchdrungen sind. Seine Werke aus dem letzten Vierteljahrhundert zeichnen sich durch vollständigen theoretischen und politischen Verfall aus. Der Zusammenbruch der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie war ebenfalls der Zusammenbruch der gesamten reformistischen Konzeption Kautskys. Gewiss versicherte er in der letzten Zeit auch weiter noch seine Hoffnung auf eine «bessere Zukunft», auf eine «Wiedergeburt» der Demokratie usw.; dieser passive Optimismus war nur die Erschlaffung eines langen, arbeitsamen Lebens und auf seine Weise ehrlich, aber er enthielt keine selbständige Perspektive. Wir gedenken Kautskys als unseres alten Lehrers, dem wir seinerzeit viel zu verdanken hatten, der sich aber von der proletarischen Revolution lossagte und von dem wir uns folglich lossagen mussten. Coyoacan, D.F., den 8. November 1938. |
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