Leo Trotzki: Wohin wird die Stalinbürokratie die Sowjetunion führen? [Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der IKD, 3. Jahrgang 1935, Nr. 2, Anfang März 1935 (Nr. 54), S. 1-3] Allgemeine Rechtswendung In der Geschichte der Sowjetunion ist ein neues Kapitel aufgeschlagen. Der Schuss auf Kirow kam für die meisten wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Indes, der Himmel war nicht heiter. In der Sowjet-Wirtschaft haben sich trotz ihren Erfolgen, großenteils wegen dieser Erfolge, tiefe Widersprüche gehäuft, die sich mit bloßen Erlassen und Vorschriften von oben unmöglich beseitigen oder auch nur mildern lassen. Gleichzeitig hat sich der Gegensatz zwischen den bürokratischen Verwaltungsmethoden und den Erfordernissen der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung im Ganzen ungemein verschärft. Der überraschende terroristische Anschlag und vor allem die darauf folgenden Prozesse, administrativen Strafmaßnahmen und die neue Parteisäuberung gaben der in den letzten anderthalb Jahren sich anbahnenden allgemeinen Wendung in der Sowjetpolitik nach außen hin die dramatische Form. Die Gesamtrichtung der Wendung ist: nach rechts, rechter, und immer weiter nach rechts. Politik des Status quo Die Zertrümmerung des deutschen Proletariats infolge der verheerenden Politik der Komintern, die die Verräterrolle der Sozialdemokratie vervollständigte, hat die Sowjetunion zum Eintritt in den Völkerbund veranlasst. Mit dem ihr eigenen Zynismus stellt die Bürokratie diesen Schritt nicht als einen erzwungenen Rückzug dar, Folge der Verschlechterung der internationalen Lage der Sowjets. sondern umgekehrt, als einen gewaltigen Erfolg. In Hitlers Sieg über das deutsche Proletariat sollen die Sowjetarbeiter und -bauern einen Sieg Stalins über den Völkerbund erblicken. Aus Litwinows Reden, Abstimmungen in Genf und seinen Interviews erhellt zur Genüge das Wesen der Wendung: hat die Sowjetdiplomatie einen Sieg errungen, so über den letzten Rest von Beschränkung gegenüber der proletarischen Öffentlichkeit. Die Kriterien der Klasse und der nationalen Befreiung in der internationalen Politik und ein für alle Mal zum alten Eisen geworfen. Das einzige leitende Prinzip ist nunmehr: Status quo! Dementsprechend vollzog die Komintern - natürlich ohne Diskussion und ohne den versprochenen Kongress (sind denn Kongresse etwa für ernste Dinge da) – die halsbrecherischste Wendung ihrer ganzen Geschichte. Von der Theorie und Praxis der „dritten Periode“ und des „Sozialfaschismus“ ging sie über zur Dauerkoalition nicht allein mit der Sozialdemokratie, sondern sogar mit den Radikalsozialisten, der Hauptstütze der nationalen Regierung in Frankreich. Ein Programm des Kampfes um die Macht gilt heute als konterrevolutionäre Provokation. Die Politik des vasallenhaften Bündnisses mit der Kuomintang (1926-1927) ist glücklich auf europäischen Boden verpflanzt. Der Zweck der Wendung ist immer derselbe: Wahrung des europäischen Status quo! Wendung zum Markt Im Bereich der Sowjetwirtschaft ist die Wendung ihren Tendenzen nach nicht minder tiefgreifend. Das Planwerk hat die ihm innewohnende Kraft offenbart Doch zugleich auch die Grenzen seiner Anwendbarkeit. Der vorgefasste Wirtschaftsplan ist im Allgemeinen – wie viel mehr in einem zurückgebliebenen Land mit einer 170-Millionenbevölkerung, tiefen Gegensätzen zwischen Stadt und Land – keine militärische Order, sondern eine Arbeitshypothese, die sorgfältiger Nachprüfung und Umgestaltung im Verlauf seiner Durchführung unterliegt. Zur Regulierung des Plans müssen zwei Hebel dienen, der finanzielle und der politische: ein festes Geldsystem und ein aktives Reagieren der betreffenden Bevölkerungsgruppen auf die Unstimmigkeiten und Lücken des Plans. Aber das politisch selbständige Wirken der Bevölkerung ist unterdrückt. Die Notwendigkeit einer festen Währung nannte Stalin auf dem letzten Parteikongress ein „bürgerliches Vorurteil“. Dieses glücklichen Aphorismus heißt es des Näheren zu begehen, wie den anderen, nicht weniger berüchtigten von den „Zwillingen“ Faschismus und Sozialdemokratie. Wie lange ist es her, dass Stalin gelobte, die NEP, d.h. den Markt, „zum Teufel" zu jagen? Wie lange ist es her, dass die gesamte Politik von der endgültigen Ersetzung des Kaufs und Verkaufs durch die „unmittelbare sozialistische Verteilung" posaunte? Das äußere Zeichen dieser „Verteilung“ war die Lebensmittelkarte. Das Sowjetgeld selbst sollte, dieser Theorie zufolge, sich bereits am Ende des zweiten Fünfjahresplans in einfache Verbrauchskarten verwandeln, in der Art von Theaterbiletten oder Straßenbahnfahrkarten. Ja, in der Tat, was brauchte es in der sozialistischen Gesellschaft, wo es weder Klassen, noch soziale Unterschiede gibt, wo die Produkte nach einem im Voraus festgelegten Plan verteilt werden, auch wohl Geld? Doch all diese Versprechungen verflüchtigen sich immer mehr, je näher das Ende des zweiten Fünfjahresplans heranrückte. Die Bürokratie muss jetzt „zum Teufel“ gehen mit der untertänigen Bitte, den ihm zur Aufbewahrung überlassenen Markt wieder herauszugeben. Zwar soll von Rechts wegen der Handel nur über die Organe des Staatsapparats vor sich geben. Die Zukunft wird zeigen, wie weit es gelingen wird, das System einzuhalten. Wenn die Kolchose handelt, dann tut es auch der Kolchosbauer. Es ist nicht so einfach die Grenze zu bestimmen. wo der Handel treibende Kolchosbauer zum Händler wird. Der Markt hat seine Gesetze. Übergang zur Geldrechnung Das System der Verbrauchskarten, angefangen mit den Brotkarten, wird allmählich abgeschafft. Die Beziehungen zwischen Stadt. Land und Staat sollen in steigendem Grade durch die Geldrechnung geregelt werden. Dazu ist ein fester Tscherwonez erforderlich. Enorme und nicht erfolglose Anstrengungen werden gemacht hinsichtlich der Goldgewinnung. Die Übertragung der Wirtschaftsbeziehungen in die Sprache des Geldes ist augenblicklich, im Anfangsstadium der sozialistischen Entwicklung, vollkommen unerlässlich, um sich von den tatsächlichen gesellschaftlichen Nutzen und dem wirtschaftlichen Wirkungsgrad des von den Arbeitern und Bauern geleisteten Aufwands an Arbeitskraft ein Bild zu machen: nur auf diesem Wege kann man durch die Planregulierung die Wirtschaft rationalisieren. Auf die Notwendigkeit einer festen Geldeinheit, deren Kaufkraft nicht von den Plänen abhängt, sondern diese überprüfen hilft, ist von uns in den letzten Jahren viele Dutzend Male hingewiesen worden. Die Sowjettheoretiker sahen in diesem Vorschlag nichts als unser Trachten nach der Restaurierung des Kapitalismus. Jetzt heißt es eilends umzulernen. Das ABC des Marxismus hat seine Vorzüge. Wer wird für die Fehler zahlen? Der Übergang zum Geldrechnungssystem bedeutet unvermeidlich und vor allem eine Übertragung aller versteckten und verschleierten Gegensätzen der Wirtschaft in die klingende Sprache des Geldes. Tür die angehäuften Fehlberechnungen und Disproportionen wird jedoch irgendjemand zahlen müssen. Die Bürokratie? Natürlich sie nicht: Buchhaltung und Kasse befinden sich ja in ihren Händen. Die Bauern? Aber die Reformen geschehen ja in erheblichem Maße unter ihrem Druck und wird sich, wenigstens in der kommenden Periode, für die Oberschichten des Dorfes überaus vorteilhaft auswirken. [Es] werden zahlen müssen die Arbeiter; die Fehler des Bürokratismus werden auf Kosten ihrer Lebensbedürfnisse berichtigt werden. Die Abschaffung der Verbrauchskarten trifft am unmittelbarsten die Arbeiter, besonders ihre untersten, ungemein schlecht entlohnten Schichten, d.h. die überwältigende Mehrzahl. Wo ist nun die endgültige Vernichtung der Klassen? Hauptziel der Rückkehr zum Markt und zur festen Währung (diese ist bis jetzt nur geplant), ist die Kolchosbauern unmittelbar an den Erzeugnissen ihrer Hand zu interessieren und damit die negativsten Folgen der Zwangskollektivierung zu beseitigen. Dieser Rückzug ist ohne Frage durch die vorangegangene Politik diktiert. Man darf jedoch nicht die Augen davor verschließen, dass die Wiederauferstehung der Marktverhältnisse unvermeidlich eine Stärkung der individualistischen und zentrifugalen Tendenzen in der Landwirtschaft, zunehmende Differenzierung zwischen und in den Kolchosen mit sich bringen wird. Die Politabteilungen auf dem Lande wurden, auf Stalins Anordnung eingeführt als der Partei und den Sowjets übergeordnete militarisierte Apparate zur scharfen Kontrolle über die Kolchosen. Die Parteipresse verherrlichte die Politabteilungen als das letzte Wort des „genialen Denkens des Führers“. Heute, nach einjähriger Tätigkeit, werden die Politabteilungen still und leise liquidiert, fast ohne jeden Nachruf: die Bürokratie weicht vor dem Muschik zurück, der administrative Druck wird ersetzt durch die Smytschka vermittelst des Tscherwonez, damit muss die Zwangsnivellierung der Differenzierung Platz machen. Am Ende des zweiten Fünfjahresplans sehen wir also nicht die Liquidierung der „letzten Reste“ der Klassengesellschaft, wie es die eingebildeten und ungebildeten Bürokraten ankündigten. Nach der Epoche der administrativen „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“ treten wir in eine Epoche ökonomischer Zugeständnisse an die Kulakentendenzen des „wohlhabenden Kolchosbauern“. Im höchsten Fieber der durchgängigen Kollektivierung haben die Bolschewiki-Leninisten die Unvermeidlichkeit des Rückzuges vorausgesagt. Sinowjew bekam zehn Jahre Gefängnis, weil er an der Verwirklichung der durchgängigen Kollektivierung zu zweifeln gewagt hatte (andere Beschuldigungen gegen ihn gab es keine!). Was hat die Erfahrung gezeigt? Der Rückzug hat begonnen. Wo er halt machen wird, ist noch nicht abzusehen. Die Stalinbürokratie hat wieder einmal gezeigt, dass sie den morgigen Tag niemals voraussieht. Ihr kurzsichtiger Empirismus, Ergebnis der Unterdrückung aller Kritik und allen Denkens, reißt böse Witze über sich selbst und was viel schlimmer ist, über das Land des sozialistischen Aufbaus. Neo-NEP und Unruhe im Land Bevor noch die in keinem Plan vorgesehene Neo-NEP wirtschaftliche Ergebnisse zeitigte, hat sie bereits sehr schwere politische Folgen gehabt. Die Wendung nach rechts in der Außen- und Innenpolitik musste bei den bewusstesten Elementen des Proletariats Unruhe hervorrufen. Zur Unruhe gesellte sich Unzufriedenheit infolge der erheblichen Verteuerung der Lebenshaltung. Die Stimmung der Bauern bleibt unsicher und gespannt. Dahinzu kommt noch eine tiefe Gärung in der Jugend, besonders dem Teil, der der Bürokratie nahesteht, die Willkür, Privilegien und Missbräuche beobachtet. In dieser stickigen Atmosphäre ertönte Nikolajews Schuss. Opposition und Terror Die Stalinpresse versucht den terroristischen Anschlag von 1934 aus der oppositionellen Plattform von 1926 abzuleiten. „Alle Opposition“, wird uns gesagt, „führt unweigerlich zur Konterrevolution“. Macht man den Versuch, hier einen politischen Sinn zu finden, so ist es ungefähr folgender: zwar schließt die Plattform als solche den Gedanken des individuellen Terrors aus, aber sie weckt die Kritik und Unzufriedenheit; da aber die Unzufriedenheit keinen normalen Abfluss durch den Partei-, Sowjet- oder Gewerkschaftskanal finden kann, muss sie notwendigerweise zum Schluss die aus dem Gleichgewicht Geratenen zu terroristischen Akten treiben. In dieser Betrachtung steckt ein Kern Wahrheit, es heißt nur, ihn herauszuschälen verstehen. Kritik und Unzufriedenheit führen bekanntlich nicht immer zu Attentaten und Morden, sondern nur unter außergewöhnlichen Umständen, wenn die Gegensätze aufs Äußerste zugespitzt sind, die Atmosphäre mit Elektrizität geladen ist, Unzufriedenheit breit um sich gegriffen hat, wenn die Bürokratie die vorgeschrittenen Elemente bei der Gurgel gepackt hält. Mit ihrem Aphorismus: Alle Opposition führt unvermeidlich zur Konterrevolution übt die Stalinpresse die aller grausamste und schwärzeste Kritik am stalinistischen Regime. Und diesmal spricht sie die Wahrheit. Zur Sicherung der Wendung nach rechts ein Schlag nach links Die Antwort der Bürokratie auf Nikolajews Schuss war eine wütende Attacke gegen den linken Flügel der Partei und die Arbeiterklasse. Stalin wartete scheinbar nur auf den Anlass, um mit Sinowjew, Kamenew und ihren Freunden abzurechnen. Die Zeitungen entfalten wie 1924 bis 1929 eine ganz unvorstellbare Kampagne gegen den „Trotzkismus". Es mag genügen, dass Trotzki heute in der „Prawda“ als Anleger von „konterrevolutionären Nestern“ in der Roten Armee während des Bürgerkrieges geschildert wird; die Errettung der Revolution von diesen „Nestern“ ist natürlich Stalins große Tat. In den Schulen, Universitäten, Zeitschriften. Kommissariaten werden immer wieder neue „Trotzkisten“ entdeckt, zumeist Rückfällige. Verhaftungen und Verbannungen haben wiederum Massencharakter angenommen. Aus der mehrfach gesäuberten Partei sind neuerdings wieder 15 bis 20 Prozent entfernt worden, rund 300.000 Personen. Heißt das. dass die Bolschewiki-Leninisten in letzterer Zeit so große Fortschritte gemacht haben? Eine solche Schlussfolgerung wäre übereilt. Die Unzufriedenheit unter den Arbeitern hat zweifellos zugenommen; zugenommen hat auch die Sympathie mit der linken Opposition. Doch noch mehr der Argwohn und die Furcht der Bürokratie. Sie ist bereits außerstande, auch nur die aufrichtigen Kapitulanten zu assimilieren. Für die scharfe Wendung nach rechts braucht sie eine massive Amputation links. Nikolajews Schuss war es beschieden, Stalins politische Chirurgie von außen her zu rechtfertigen. Abenteurertum des individuellen Terrors Der individuelle Terror ist seinem ganzen Wesen nach abenteuerhaft: seine politischen Folgen sind nicht vorauszusehen und entsprechen fast nie seinen Absichten. Was wollte Nikolajew? Wir wissen es nicht. Höchstwahrscheinlich wollte er gegen das Parteiregime, die unkontrollierte Bürokratie oder den rechten Kurs protestieren. Und das Resultat? Zertrümmerung der Linken und Halblinken durch die Bürokratie, Verstärkung des Drucks und der Kontrolllosigkeit, präventiver Terror gegen alles, was mit der Rechtswendung unzufrieden sein kann. Jedenfalls bezeugt die Tatsache, dass Nikolajews Schuss so unverhältnismäßig große Wirkungen hervorrufen konnte, unwiderleglich, dass diese Wirkungen schon in der politischen Situation lagen und nur auf den Anlass warteten, um hervorzubrechen. Versicherung nach zwei Fronten Die Bürokratie tritt in eine Periode der Bilanzprüfung zweier Fünfjahrespläne und sucht sich eilig im Voraus zu sichern. Sie ist bereit, der Bauernschaft, d.h. ihren kleinbürgerlichen Interessen und Tendenzen, wirtschaftliche Zugeständnisse zu machen. Doch ja keine Zugeständnisse an die politischen Interessen der proletarischen Vorhut. Im Gegenteil, sie beginnt ihre neue Wendung zum wohlhabenden Kolchosbauern mit einem wütenden Polizeiausfall gegen alles Lebendige und Denkende in der Arbeiterklasse und der studierenden Jugend. Man kann schon jetzt vorhersehen, dass auf den Ausfall gegen die Linken früher oder später ein Ausfall gegen die Rechten folgen wird. Der bürokratische Zentrismus, der sich in eine Sowjetform des Bonapartismus verwandelt hat, wäre nicht er selbst, wenn er sein Gleichgewicht anders aufrechterhalten könnte als durch ständige Attacken „nach beiden Fronten“, d.h. letzten Endes gegen den proletarischen Internationalismus und gegen de Tendenzen zur kapitalistischen Restauration. Hauptaufgabe der Bürokratie ist, die eigene Haut zu verteidigen. Die Feinde und Gegner der regierenden Clique oder einfach ihre nicht genügend zuverlässigen Freunde werden zu rechten oder linken „Agenturen der Intervention“ gestempelt, nicht selten einfach je nach den technischen Erfordernissen des Amalgams. Der Ausschluss aus der Partei des ehemaligen Volkskommissars für Landwirtschaft, Smirnow, ist eine delikate Warnung an die Rechten: „Rührt euch nicht, denkt an morgen!“ Heute jedenfalls richtet sich der Schlag gänzlich nach links. Dreifache Formel des Stalinschen Bonapartismus Diplomatischer Rückzug vor der Weltbourgeoisie und dem Reformismus., ökonomischer Rückzug vor den kleinbürgerlichen Tendenzen des Landes, politischer Angriff auf die Vorhut des Proletariats – das ist die dreifache Überschrift des neuen Kapitels in der Entwicklung des stalinschen Bonapartismus. Was wird am Ende dieses Kapitels stehen? Jedenfalls nicht die klassenlose Gesellschaft mit der friedlich in ihr sich auflösenden Bürokratie. Im Gegenteil, der Arbeiterstaat tritt von Neuem in eine Periode offener politischer Krise ein. Ihre unerhörte Schärfe verdankt sie heute nicht den Widersprüchen der Übergangswirtschaft, so tief diese an sich auch sein mögen, sondern der außerordentlichen Lage der Bürokratie, die der Vorhut der Werktätigen Zugeständnisse nicht nur nicht machen will, sondern auch nicht kann. Selbst Gefangene des Systems, das sie schuf, ist die Stalinclique heute die Hauptursache der politischen Krämpfe im Lande. Die Hauptgefahr droht der Sowjetunion vom Stalinismus Wie weit die Rechtswendung auf dem Gebiet der Politik, der Komintern und der Wirtschaft gehen, und welche neuen sozialen Auswirkungen sie für die Sowjetunion haben wird, das wird man nur auf Grund einer aufmerksamen Berücksichtigung aller Entwicklungsetappen in den nächsten Jahren beurteilen können. Die Komintern wird jedenfalls durch nichts mehr zu retten sein. Von Stufe zu Stufe sinkend, wird ihre ganz und gar verkommene Bürokratie buchstäblich die vitalsten Interessen des Weltproletariats verraten für die Gnade vor der Stalinclique. Doch der von der Oktoberrevolution geschaffene Staat lebt. Die Jahre der forcierten Industrialisierung und Kollektivierung, mit der Knute und bei gelöschten Lichtern, haben zusammen mit großen Errungenschaften allergrößte Schwierigkeiten geschaffen. Der heutige Rückzug fügt, wie immer, neue hinzu, wirtschaftliche und politische. Schon heute kann man jedoch mit voller Gewissheit sagen: die vorn bürokratischen Absolutismus erzeugte politische Krise stellt für die Sowjetunion eine viel unmittelbarere und schärfere Gefahr dar als alle Disproportionen und Widersprüche der Übergangwirtschaft. Das Sowjetproletariat Sich selbst reformieren will die Bürokratie nicht nur nicht, sondern kann sie auch nicht. Den Sowjetstaat gesunden vermittelst rücksichtsloser Siebung des bürokratischen Apparats, bei der Spitze angefangen könnte allein die Avantgarde des Proletariats. Doch dazu muss diese selbst wieder aufstehen, ihre Reihen sammeln. die revolutionäre Partei, die Sowjets und Gewerkschaften wiederherstellen, richtiger, neu schaffen. Liegt diese Aufgabe in ihrer Macht? Die Arbeiterklasse in der Sowjetunion ist zahlenmäßig enorm gewachsen. Ihre Rolle in der Produktion ist an Bedeutung noch unermesslich mehr angewachsen als ihre Zahl. Das soziale Gewicht des Sowjetproletariats ist heute gewaltig. Seine politische Schwäche ist bestimmt durch die Verschiedenartigkeit seiner sozialen Zusammensetzung, durch den Mangel an revolutionärer Erfahrung bei der jungen Generation, durch die Zersetzung der Partei, durch die unterbrochenen und schweren Niederlagen des Weltproletariats. Die letztgenannte Ursache ist in der augenblicklichen Etappe ausschlaggebend. Infolge des Abhandenseins internationaler Perspektiven ziehen sich die russischen Arbeiter notgedrungen in die nationale Kapsel, zurück und dulden die Theorie vom „Sozialismus in einem Lande“ mitsamt der aus dieser Theorie sich ergebenden Vergötzung der nationalen Bürokratie. Um wieder Vertrauen in die eigene Kraft zu gewinnen müssen die Sowjetarbeiter wieder an die Kraft des Weltproletariats glauben. Der Hauptschlüssel zur Lage Der Kräftestreit innerhalb der UdSSR und die Zickzacks des Kremls sind gewiss von gewaltiger Bedeutung im Sinne einer Beschleunigung oder umgekehrt Hinausschiebung der Lösung. Aber der Hauptschlüssel zur inneren Lage der Sowjetunion liegt jetzt bereits außerhalb der UdSSR. Wenn das westliche Proletariat den europäischen Kontinent dem Faschismus überlässt, dann, wird der einzige und tief entartete Arbeiterstaat nicht lange standhalten. Nicht, weil er unvermeidlich unter den Schlägen der Militärintervention zusammenbrechen muss: unter gewissen Bedingungen könnte eine Sowjetintervention umgekehrt den Faschismus stürzen. Sondern, die inneren Gegensätze der UdSSR sind schon heute durch die Siege der Weltkonterrevolution zu höchster Spannung gediehen. Eine weitere Ausbreitung des Faschismus würde die Widerstandskraft des Sowjetproletariats noch tiefer herabdrücken und so die Ersetzung der bröckelnder bonapartistischen Ordnung durch eine wieder aufstehende Sowjetordnung vereiteln Die politische Katastrophe würde unvermeidlich sein, ihre Folge aber wäre die Wiedereinführung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. „Sozialismus in einem Lande“ Im Lichte der heutigen Weltlage steht die Theorie des „Sozialismus in einem Lande“, dies Evangelium der Bürokratie, vor uns in seiner ganzen nationalistischen Beschränktheit und falschen Prahlerei. Es ist natürlich nicht die Rede von der rein abstrakten Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Aufbaus sozialistischen Gesellschaft in diesem oder jenem geographischen Rahmen – das ist ein Thema für Scholastiker – sondern wir denken an eine sehr viel näherliegende und konkretere, lebendige, geschichtliche und keine metaphysische Frage: kann der isolierte Sowjetstaat in der kapitalistischen Umkreisung, inmitten eines immer enger werdenden Ringes faschistischer Konterrevolutionen sich unbegrenzt lange halten? Nein, antwortet der Marxismus. Nein, antwortet die innere Lage der USSR. Der imperialistische Druck von außen, die Verausgabung der Kräfte und Mittel für die Verteidigung, die Unmöglichkeit regulärer internationaler Wirtschaftsbeziehungen – diese Schwierigkeiten sind an sich schon tief und ernst genug, doch noch viel wichtiger ist, dass die Niederlagen der Weltrevolution den lebendigen Träger des Sowjetsystems, das Proletariat, unvermeidlich zermürben, es zwingen, gehorsam den Nacken zu beugen unter das Joch der nationalen Bürokratie, die ihrerseits von allen Übeln des Bonapartismus angefressen ist. Außerhalb der Weltrevolution ist keine Rettung vorhanden! „Pessimismus!" werden die dressierten Papageien der sogenannten Kommunistischen Internationale sagen. „Verteidigung des Kapitalismus!“ werden die bezahlten Scharlatane heulen, die schon lange allen Glauben an die Revolution und den Marxismus aufgegeben haben. Was uns betrifft, so blicken wir tatsächlich ohne jeden „Optimismus" auf das stalinsche System der Verwaltung, will sagen der Niedertrampelung des Arbeiterstaates. Der Zusammenbruch dieses Systems ist bei allen Varianten der geschichtlichen Entwicklung gleich unvermeidlich. Aber nur in dem Falle wird die Sowjetbürokratie den Arbeiterstaat nicht mit in den Abgrund reißen. wenn das Proletariat Europas und der Welt den Weg des Angriffs und der Siege beschreitet. Die Befreiung der Weltvorhut aus der tödlichen Umklammerung des Stalinismus ist die erste Voraussetzung des Erfolges. Allen Hindernissen, allein vom mächtigen Apparat geschleuderten Lügen und Verleumdungen zum Trotz, diese Aufgabe wird gelöst werden zum Besten des Weltproletariats wie der Sowjetunion! 30. Januar 1935. |
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