Leo Trotzki: Wie sie Geschichte und Biographie schreiben [Nach Unser Wort, Halbmonatszeitung der IKD, 3. Jahrgang, Nr. 10. (62), Anfang Oktober 1935, S. 2 f., gezeichnet „Alpha“] Ein erklecklicher Teil der «Prawda» vom 5. August ist dem 40. Todestag Engels gewidmet. Armer Engels! Wahrlich, diesen Hohn hat er nicht verdient. Engels war nicht nur ein genialer Kopf, sondern auch die Gewissenhaftigkeit selbst. In seinen literarischen Arbeiten wie in praktischen Dingen vertrug er keine Schlamperei, Unsorgsamkeit, Ungenauigkeit. In den nachgelassenen Werken Marx' prüfte er jedes Komma (im wahren Sinne des Wortes) und führte einen Briefwechsel wegen zweitrangigen Schreibfehlern. Musste darum das Zentralorgan der Moskauer Bürokratie den großen Denker und Schriftsteller mit diesem Strom von Artikeln überschütten, wo neben der tendenziösen, sozusagen Standardlüge, auf Schritt und Tritt die unfreiwillige, durch Unwissenheit, Nachlässigkeit und Verantwortungslosigkeit erzeugte Lüge anzutreffen ist? Der Leitartikel lässt verlauten: «Kaum war das letztes Rollen der Schüsse auf den Barrikaden der bürgerlichen Revolution verhallt…, als Marx und Engels schon auf die erhabene Gestalt des Proletariats hinwiesen, diesen Totengräber…» usw. usw. Von welchen «bürgerlichen Revolutionen» ist hier die Rede? Während der 1830er Barrikaden waren Marx und Engels noch Knaben und konnten auf »die erhabene Gestalt des Proletariats» noch nicht hinweisen. Folglich kann es sich nur um die Revolutionen von 1848 handeln. Aber «Die Lage der arbeitenden Klasse in England», die geniale Arbeit des jungen Engels, erschien bereits im Jahre 1845. Schließlich haben Marx und Engels durchaus nicht die Schüsse von 1848 abgewartet, um der Welt die Doktrin des wissenschaftlichen Sozialismus vorzulegen: «Das Kommunistische Manifest» – das wird der Prawdaredaktion doch bekannt sein – erschien nicht nach dem «Verhallen der letzten», sondern vor dem Erschallen der ersten Schüsse der 1848er Revolution. Doch was schert den Beamten, der seine Literatenpflicht tat, die Chronologie der Revolutionen und die geistige Entwicklung von Marx und Engels? Nicht umsonst sagte Bismarck: «Gebt mir einen Journalisten und ich werde aus ihm einen guten Beamten machen; aber auch aus einem Dutzend Beamten werde ich keinen guten Journalisten machen». Nach dem Zitat eines Satzes aus dem Nekrolog der «Neuen Zeit» (1895), das besagt, dass mit Engels Tod «auch Marx endgültig starb», fügt der Leitartikel unerwarteterweise hinzu: «Die im Sumpf des Revisionismus und Opportunismus suhlenden Führer der Sozialdemokratie beeilten sich, zusammen mit Engels Asche auch die revolutionäre Lehre des Marxismus zu begraben». Das nennt man daneben gehauen! Der Revisionismus tauchte erst im Jahre 1897 auf, das Wort selbst erschien noch später, die Wochenzeitung «Die Neue Zeit» war das Organ nicht des Revisionismus sondern des Kampfes gegen den Revisionismus. Der oben zitierte Satz bedeutete durchaus nicht, dass zusammen mit Engels auch der revolutionäre Marxismus zu Grabe getragen wurde. Wer der «Neuen Zeit» von 1895 einen solchen Gedanken zuschreibt, ist in der Geschichte des Marxismus ein Grünschnabel. Der Gedanke der «Neuen Zeit» war in Wirklichkeit der, dass mit Engels Tode auch der Teil der lebendigen Persönlichkeit Marxens starb, der in Engels fortgelebt halte. In diesen Worten ist vortrefflich der Gedanke jener fast unteilbaren schöpferischen Einheit ausgedrückt, die Marx und Engels darstellen. Aber der seine Schreiberpflicht tuende Beamte glaubt seiner verspäteten Feindschaft gegen den Revisionismus am besten Ausdruck zu verleihen, wenn er einen vernünftigen und richtigen Gedanken einen läppischen und zänkischen Gehalt unterschiebt. Und das in einem Augenblick, wo die gesamte Kominternpolitik sich im Flussbett des Revisionismus bewegt! Das Marx-Engels-Lenin-Institut publiziert in derselben Nummer einen Brief Engels an Kautsky, wo er die lassalleanische Formel von der «einen reaktionären Masse der herrschenden Klasse» einer Kritik unterzieht. Die Absicht dieser Veröffentlichung ist ganz klar: das Institut der Fälschung des Marxismus und des Leninismus will mit Hilfe dieser Zitate die Koalitionspolitik mit der «demokratischen» Bourgeoisie unterstützen. Hier bei dem politischen Schmuggel zu verweilen, ist nicht nötig: wie die Herren Beamten es auch anstellen mögen, Engels zum Theoretiker der Versöhnung mit der Bourgeoisie zu machen, das wird ihnen nicht gelingen. Auf jeden Fall haben diese Herren vergessen, uns darüber aufzuklären, wie die Ablehnung der «einen reaktionären Masse der herrschenden Klasse» sich verträgt mit dem unsterblichen Aphorismus Stalins: Faschismus und Sozialdemokratie sind Zwillinge. Doch bemerkenswert ist Folgendes: Bei der Veröffentlichung des Briefes mit der eigenen schöpferischen Unterschrift macht das Institut in seiner kurzen Einleitung auf acht Zeilen zwei, wenn nicht drei gröbste Fehler. «In diesem Brief», schreibt das gelehrte Institut, «kritisiert Engels den Erfurter Programmentwurf, in den Kautsky, Marx' und Engels' Anweisungen zuwider, die lassalleanische These von der einen reaktionären Masse einschmuggelte». Anweisungen Marxens an Kautsky konnte es schon aus dem Grunde nicht geben, weil Marx acht Jahre vor der Aufstellung des Erfurter Programms starb; der einzige Brief, den Marx Kautsky zu schreiben Gelegenheit hatte (im Jahre 1881) sagt entschieden nichts zu der uns interessierenden Frage. Was Engels betrifft, so hat er tatsächlich in dem Brief an Kautsky den Satz von der «einen reaktionären Masse» einer unbarmherzigen Kritik unterzogen. Doch schrieb er diese keineswegs für Kautsky; er wusste, dass der Satz von irgendjemandem (offenbar von Wilhelm Liebknecht) in Kautskys anfänglichen Entwurf, den Engels im Wesentlichen billigte, eingefügt worden war. Der kritische Brief Engels' halte den Zweck, Kautsky gegen Liebknecht und besonders gegen die alten Lassalleaner eine Stütze zu geben. »Einfache» Sterbliche haben das Recht, das nicht zu wissen. Aber das gelehrte Marx-Engels-Lenin-Institut?!… »Die Anweisungen Engels an die Führer der deutschen Sozialdemokratien, lesen wir weiter, «wurden bei der Ausarbeitung des endgültigen Programmtextes nicht ausgeführt» (von uns unterstrichen). Bemerkenswert allein schon der Stil: die «Anweisungen» des Abteilungschefs wurden von den Bürovorstehern nicht «ausgeführt». Doch Engels war nicht der eine und unteilbare «Führer». Er gab niemandem «Anweisungen». Er war einfach ein genialer Denker und gab den verschiedenen Parteien theoretische und politische Ratschläge. Niemand war gezwungen «auszuführen». Der dem Stil nach bemerkenswerte Salz ist, was noch schlimmer ist, dem Wesen nach unwahr. Die Formel «eine reaktionäre Masse» ist aus dem Text des Erfurter Programms entfernt worden, und Engels hat aus diesem Anlass seine volle Befriedigung ausgesprochen. So vermag das gelehrte Institut in acht Zeilen zu belügen! In dem dritten Artikel, der dem Verhältnis Engels' zur russischen Revolution gewidmet ist, wird mitgeteilt, dass Engels in einem Briefe an die Gruppe «Oswoboshdenie Truda» (Befreiung der Arbeit) diese vor einer mechanischen, doktrinären Auffassung des Marxismus warnte. Dem fügt die weise «Prawda» hinzu: «Ach! Die Angehörigen dieser Gruppe zogen aus dieser Warnung Engels' wenig Nutzen (!); zwei Jahrzehnte später standen sie im Lager der Menschewiki…» Was aber ging in diesen zwanzig Jahren vor sich? Der prachtvolle und siegreiche Kampf Plechanows gegen den philosophischen Idealismus, den historischen Subjektivismus und die ökonomischen Vorurteile der Narodniki; die ganze an Tapferkeit und Ausdauer beispiellose Arbeit der Gruppe «Befreiung der Arbeit», eine Arbeit, an der sich unmittelbar die alte Generation der russischen Marxisten, einschließlich Lenin, schulte – all das ist «wenig» für die ungebildete und großmäulige «Prawda». Und dabei war Lenin von Plechanow begeistert, seiner eigenen Äußerung nach in Plechanow «verliebt», und vergaß dessen große marxistische Verdienste selbst in der Periode des unversöhnlichen Kampfes gegen ihn nicht. Ja auch Engels selbst hatte nach dem Brief an Sassulitsch von 1883 noch fast zwölf Jahre lang Gelegenheit, unmittelbar der Wirksamkeit der Gruppe «Befreiung der Arbeit» zu folgen und äußerte sich über Plechanows Arbeiten voll außerordentlichem Lob, mit dem der Alte im Allgemeinen geizte. Aber der Beamte, der weder Engels noch Lenin noch Plechanow begriffen hat, fällt über die Tätigkeit der Gruppe »Befreiung der Arbeit» sein gestrenges Urteil: «wenig Nutzen». Wie soll man da nicht ausrufen: von solchen bürokratischen Insekten ist eines allein bereits vom Übel. Ähnliche Perlen könnte man zu Dutzenden herausfischen: hat doch jeder der Autoren irgendetwas zu dem gemeinsamen Schatz der Unbildung beizusteuern. Aber der Leser ist auch ohnehin bis über den Hals satt. Nur noch einige Worte über das bürokratische Pathos. Der Leitartikel spricht von dem «erwärmenden leidenschaftlichen revolutionären Hass gegen die Ausbeuter und der eisigen erstaunlichen philosophischen Tiefe der Kapitel des Kapital und des Anti-Dühring»… Besser schreiben ist unmöglich. Die philosophische Tiefe, die zu Eis gestarren macht, während zu gleicher Zeit der Hass erwärmt. Gewiss beim bloßen Ansehen des »Kapital» wird den Redakteuren der »Prawda» heiß und kalt. Des Weiteren wird gesprochen von den «unsterblichen und vernichtenden (?) Zeilen über das Gothaer Programm» und von dem «feuerspeienden Pamphlet» über die Pariser Kommune. Mit einem Wort, hervorragend schreiben die feuerspeienden Beamten im Dienst: der Leser bedeckt sich mit Blasen und Beulen. Jedoch die Palme des Vorrangs gebührt ohne Zweifel D. Saslawski. Im literarischen Sinne ist er viel gebildeter als die anderen, doch was das feuerspeiende Pathos betrifft, so ist er dem besten von ihnen hundertfach überlegen. Seinen Artikel beendet Saslawski mit den Worten; «Die denkenswerte, nachahmenswürdige Freundschaft Marx-Engels, wiederholte sich nicht zufällig in dem denkenswerten Freundespaar, in der großen Freundschaft Lenin-Stalin», Bei einem unsterblichen russischen Satiriker heißt es in dieser Beziehung: «Und danach macht der Hundesohn hübsch Männchen und wartet auf Aufmunterung.» Marx und Engels waren durch vierzig Jahre titanischer geistiger Arbeit verbunden. Die beschlagensten, und tiefstschürfenden Marxforscher wie Rjasanow vermögen nicht – denn das ist überhaupt unvorstellbar – die Scheidelinie zwischen beider Schaffen zu Ende zu ziehen. Was Lenin und… Stalin betrifft, so möge man uns nicht die Scheide-, sondern die Verbindungslinie zeigen. In der titanischen geistigen Arbeit Lenins nahm Stalin den Platz eines mittelmäßigen «Praktikers» ein, unter Dutzenden anderen. Was aber die «Freundschaft» betrifft, so genügt es zu erinnern an Lenins Testament und an seinen Brief vor dem Tode, wo er mit Stalin alle persönlichen und kameradschaftlichen Beziehungen abbricht. Doch D. Saslawski…, was kann man von ihm schon anderes erwarten? Dies ist derselbe Literat, der 1917 in einer bürgerlichen chauvinistischen Zeitung gegen Lenin hetzte als einen gekauften Agenten des deutschen Kaisers. In einer ganzen Reihe von Artikeln nannte Lenin Saslawski nicht anders als die «Kanaille». Erst nach der NEP und nach dem ersten Pogrom gegen die Linke Opposition trat dieses Subjekt in den Dienst der Sowjetbürokratie. In einem blieb er sich jedenfalls treu: verleumdete er Lenin zu Lebzeiten, so hört er damit auch nach seinem Tode nicht auf. Solche Herren werden wohl noch zum 18. Jahrestag vom Oktober vorschlagen, die Dutzende von Lenins Bänden umzutaufen in «Gesammelte Werke Stalins», nach derselben Methode, wie man irgendein Zarizyn umgetauft hat in Stalingrad: ein Dekret, und – fertig. Doch wie die Lakaien auch schwitzen mögen, ihr Ziel werden, sie nicht erreichen! Marx, Engels, Lenin werden wir gegen alle Institute und gegen alle Saslawski beschirmen. |
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