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Leo Trotzki 19350400 Wie die Stalinisten die Moral der Roten Armee untergraben

Leo Trotzki: Wie die Stalinisten die Moral der Roten Armee untergraben

(Notizen eines Journalisten)

[Nach Unser Wort, Halbmonatszeitung der IKD, 3. Jahrgang, Nummer 4 (56), Anfang Mai 1935, S. 3]

In den letzten Monaten hat sich der Kreml wieder einmal – und mit welch wütendem Eifer! – mit der Umarbeitung der Geschichte der Roten Armee befasst. Der Zweck dieser Umarbeitung ist, nachzuweisen, dass Trotzki. wenn nicht in der Form, so im Wesen im Lager der Weißen gegen die Sowjets stand. Wir übertreiben nicht im Geringsten. Trotzki, so stellt sich heraus, legte in den Armeen der Ostfront «weißgardistische Nester» an, die unweigerlich die Sache der Revolution zugrunde gelichtet haben würden, hatte nicht Stalin rechtzeitig eingegriffen und die Armee von Trotzkis Agenturen gesäubert. Gleichzeitig erschoss Trotzki Kommunisten, die tapfer in den Reihen der Roten Armee gefochten hatten, und die Sache würde unausbleiblich mit einer Katastrophe geendet haben, wäre nicht wieder der rettende Eingriff Stalins gewesen, der offenbar schon damals entschied, dass Kommunisten in Friedenszeiten zu erschießen sind.

Diese interessanten und in gewisser Hinsicht «sensationellen» Enthüllungen fordern zu einigen Fragen heraus.

Erstens: Warum kommen die Enthüllungen so spät? Weil die jungen Sowjetgelehrten in den Archiven eine Reihe überraschender Entdeckungen gemacht haben? Oder weil eine neue Generation aufwuchs, die von der Vergangenheit nichts weiß?

Zweitens: In welcher Beziehung stehen die neuesten Enthüllungen zu den früheren? Ende 1923 wurde Trotzki Unterschätzung der Bauernschaft und Eiferertum für die «permanente Revolution» vorgeworfen. Heute heißt es, Trotzki sei seit 1917 eigentlich ein Agent der Weißen in der von Stalin geschaffenen Roten Armee gewesen. Wozu dann jahrelang der Menschheit den Schädel plagen mit der «Unterschätzung der Bauernschaft» und ähnlichem Kleinkram, wenn es sich gar nicht um einen Revolutionär, sondern um einen Konterrevolutionär handelte?

Drittens: Warum ließ die bolschewistische Partei sieben Jahre lang (1918-1925) an der Spitze der Roten Armee einen Menschen, der sie zerstörte, und warum berief sie dahin nicht Stalin, der sie geschaffen hatte? Das ist mit der bekannten Bescheidenheit Stalins nicht zu erklären, ging es doch um Tod und Leben der Revolution! Man kann auch nicht sagen, dass die Partei nicht unterrichtet gewesen sei: Stalin wusste doch, was er tat. als er die Rote Armee von den durch Trotzki angelegten konterrevolutionären Nestern säuberte und der Erschießung von Kommunisten Einhalt gebot, dieses Gebiet ausschließlich sich selbst vorbehaltend. Stalin aber konnte nicht anders als auf Geheiß des Politbüros gehandelt haben, d.h. die oberste Körperschaft der Partei war auf dem Laufenden.

Zwar bestand das Politbüro damals zur Mehrheil aus Konterrevolutionären oder Kandidaten der Konterrevolution (Trotzki, Kamenew, Sinowjew). Aber Lenin? Geben wir zu, dass er sich in Sachen und Menschen schlecht auskannte (sein «Testament» lässt diesen Schluss zu). Aber Stalin selbst? Warum rollte er nicht vor dem ZK und vor der Partei die Frage der Schädlingsarbeit Trotzkis in der Roten Armee während des Bürgerkrieges auf?

Der des Lesens kundige und vernünftige Rotarmist, der in alte Bücher und Zeitschriften guckt, muss sich sagen:

«Sieben Jahre lang stand Trotzki an der Spitze der Roten Armee und Flotte. Man ernannte ihn zum Organisator und Führer der Streitkräfte der Sowjetrepubliken, Trotzki nahm den Rotarmisten den Eid ab. Stellt sich heraus, dass er ein Verbrecher war. Sein verbrecherisches Tun verursachte Hunderttausende von überflüssigen Opfern, Das heißt, man hat uns betrogen. Wer hat uns betrogen? Das Politbüro mit Lenin an der Spitze. Das heißt, im Politbüro saßen Verräter und Helfershelfer von Verrätern.

Heute sagt man mir, die wirklichen Schöpfer und Führer der Roten Armee seien Stalin und Woroschilow. Aber vielleicht betrügt man mich wieder? Vom Verrat Trotzkis hat man mir erst zehn Jahre nach seiner Absetzung erzählt. Wann wird man mir von Stalins und Worochilows Verrat erzählen? Wem soll man denn überhaupt noch glauben?»

So wird der nachdenkende junge Rotarmist reden. Der alte Kämpfer, der aus der Erfahrung weiß, wie die Dinge sich abgespielt haben, wird ungefähr folgende Überlegung anstellen:

«Als sie Trotzki „Unterschätzung der Bauernschaft" vorwarfen, dachte ich, das kann wohl wahr sein: die Frage ist kompliziert und da kennt man sich schwer aus. Aber wenn man mir sagt, Trotzki habe in der Roten Armee weiße Nester angelegt, so sage ich geradeheraus: unsere Führer lügen! Wenn sie aber so frech lügen in Bezug auf den Bürgerkrieg, so werden sie wahrscheinlich auch m Bezug auf die Unter Schätzung der Bauernschaft lügen.»

Das Resultat der neuen sensationellen Entlarvungskampagne kann nur eines sein: Untergrabung des Vertrauens zur Führung, zur alten wie zur neuen, zu überhaupt jeder Führung.

Man muss sich fragen: Warum hält es die Stalinclique heute – im Jahre 1935! – für nötig, sich mit so zweischneidigen Entlarvungen abzugeben, die wenigstens zu 50 Prozent Selbstentlarvungen sind? Hat man doch den Trotzkismus schon 1925 erschlagen, 1927 dann ergänzend erschlagen, 1928 endgültig erschlagen (Verbannung Trotzkis nach Alma-Ata); immer neue Ausrottungen der «letzten Reste», «kläglichen Splitter» folgten der Verbannung Trotzkis ins Ausland, wo dieser sich endgültig als Agent des Imperialismus «selbst entlarvte». Es scheint, es wäre Zeit, zur Tagesordnung überzugehen. Aber nein, die Herren Führer können nicht ruhig auf dem Platze sitzen, belieben sich aufzuregen, schwitzen vor Anstrengung ihres Hirns: kann man nicht noch etwas erfinden, etwas schlagkräftigeres, wirksameres, giftigeres, um diesen siebenfach erschlagenen Trotzkismus endgültig und wirklich zu erschlagen…

Alpha.

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