Leo Trotzki: Tagebucheintrag [Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 114-118] 10. April Während meines heutigen Spaziergangs mit N. in den Bergen (es war ein Tag fast wie im Sommer) beschäftigte ich mich in Gedanken mit dem Gespräch, das ich mit Lenin über die Gerichtsverhandlung gegen den Zaren hatte. Möglicherweise ließ sich Lenin neben den Überlegungen hinsichtlich der Zeit (»wir werden es nicht schaffen«, einen langwierigen Gerichtsprozess zu Ende zu führen, da entscheidende Ereignisse an der Front schon früher eintreten können) auch von anderen Überlegungen in Bezug auf die Zarenfamilie bestimmen. Die Liquidierung der Familienangehörigen des Zaren wäre auf dem juristischen Wege natürlich nicht möglich gewesen. Die Zarenfamilie war das Opfer jenes Prinzips, das die Achse der Monarchie bildet: des Prinzips der dynastischen Erbfolge. Keine Nachrichten über Serjoscha, vielleicht wird es noch lange keine geben. Die dauernde Spannung der Erwartung hat der Besorgnis der ersten Tage die Schärfe des Empfindens genommen. Als ich mich zu meiner ersten Reise an die Front, in der Zeit zwischen dem Fall von Simbirsk und Kasan, vorbereitete, war Lenins Stimmung düster. »Der russische Mensch ist weich«, »der russische Mensch ist ein Schlappschwanz, eine Memme…«, »Wir haben keine Diktatur, sondern einen Sauhaufen…« Ich sagte ihm darauf: »Truppe auf der Grundlage starker revolutionstreuer Kernkader aufbauen, die von innen heraus eiserne Disziplin gewährleisten müssen; zuverlässige Sperreinheiten aufstellen, die von außen her gemeinsam mit den inneren revolutionären Kernkadern der Truppe wirken müssen, ohne vor der Massenerschießung der Fliehenden zurückzuschrecken; Kompetenz der Befehlsgewalt sicherstellen, indem über jeden Spez1 ein pistolenbewaffneter Kommissar gestellt wird; Schaffung von militärischen Revolutionstribunalen und Stiftung eines Ordens, der für persönliche Tapferkeit vor dem Feind zu verleihen ist.« – Lenin antwortete sinngemäß: »Alles richtig, absolut richtig – aber wir haben zu wenig Zeit; wenn man die Sache hart anpackt (was absolut notwendig ist), wird uns die eigene Partei in den Arm fallen: sie werden nörgeln, alle Telefone bimmeln lassen, sich an unsere Rockschöße klammern, kurzum, sie werden stören. Freilich, die Revolution macht hart, aber die Zeit reicht nicht…« Als Lenin auf Grund unserer Gespräche die Überzeugung gewann, dass ich an den Erfolg glaubte, unterstützte er mein Reisevorhaben uneingeschränkt, kümmerte sich um alles, war besorgt, fragte bis zu zehnmal am Tage übers Telefon nach dem Stand der Reisevorbereitungen und ob es nicht ratsam wäre, ein Flugzeug im Frontzug mitzunehmen usw. – Kasan war gefallen. Lenin wurde beim Attentat der Sozialrevolutionärin Kaplan verwundet. Kasan wurde von uns wieder besetzt. Auch Simbirsk wurde von uns zurückerobert. Ich kam auf einen Sprung nach Moskau. Als Wiedergenesender wohnte Lenin damals auf dem Gut Gorki. Swerdlow sagte zu mir: »Iljitsch bittet Sie, zu ihm zu kommen. Fahren wir zusammen?« Wir fuhren los. Die Art, in der ich von Marja Iljinitschna und Nad(eschda) Konst(antinowna) empfangen wurde, ließ mich verstehen, wie groß die Ungeduld und die innere Bewegung waren, mit denen ich erwartet wurde. Lenin war ausgezeichneter Laune, sah auch körperlich gut aus. Es schien mir, als sähe er mich gleichsam mit anderen Augen an. Er verstand es, sich in Menschen zu verlieben, wenn sie ihm eine besondere Seite ihres Wesens offenbarten. In seiner von der Erregung getragenen Aufmerksamkeit schwang diese »Verliebtheit« mit. Er hörte sich alles, was ich über die Frontlage zu berichten hatte, begierig an und seufzte mehrmals erleichtert, ja fast selig auf. »Das Spiel, die Partie ist gewonnen«, sagte er wiederholt –, indem er plötzlich einen ernsten harten Ton anschlug –, »wenn wir es verstanden haben, Ordnung in der Armee zu schaffen, werden wir auch überall Ordnung schaffen. Revolution und Ordnung aber werden zusammen unbesiegbar sein.« Als Swerdlow und ich uns in den Wagen setzten, blieben Lenin und N. K. auf dem Balkon über dem Eingangsportal des Hauses, und wieder fühlte ich den leicht verlegenen und umhüllenden Blick Lenins auf mir ruhen. Offenbar empfand er das Bedürfnis, mir noch etwas zu sagen, konnte sich aber nicht fassen. Ganz unerwartet begann nun ein Mann der Leibwache Topfblumen heranzuschleppen und sie in den Wagen zu verfrachten. Lenins Gesichtsausdruck verdüsterte sich. – »Wird es Ihnen nicht unangenehm sein?« fragte er. Ich hatte den Blumen keine Beachtung geschenkt und daher den Grund seiner Besorgnis gar nicht verstanden. Erst als wir uns Moskau näherten – dem hungrigen, schmutzigen Moskau der Herbstmonate 1918 –, durchzuckte mich das peinliche Gefühl: geht es denn überhaupt an, heutzutage in einem blumengefüllten Wagen daherzukommen? Sofort wurde mir der Grund für Lenins Besorgnis klar: gerade diese peinliche Lage hatte er vorausgesehen. Er besaß die Gabe der Voraussicht. Bei meinem nächsten Besuch sagte ich zu ihm: »Voriges Mal haben Sie mich wegen der Blumen gefragt, ich habe es aber in der Hitze unserer Unterhaltung gar nicht mitgekriegt, was für eine Unannehmlichkeit es eigentlich war, die Sie gemeint hatten. Erst als wir in die Stadt hineinfuhren, ertappte ich mich darauf…« –, »Sie meinen, dass Sie wie ein Meschetschnik2 aussahen«, erwiderte Lenin lebhaft mit einem leisen Lachen. Und wieder fing ich seinen besonders freundschaftlichen Blick auf, in dem das Vergnügen aufzuleuchten schien, das er darüber empfand, dass ich ihn verstanden hatte… Wie schön, plastisch und unverwischbar haben sich auch die geringsten Einzelheiten unserer Begegnung in Gorki meinem Gedächtnis eingeprägt! Mit Lenin hatte ich aber auch erbitterte Zusammenstöße, denn ich pflegte in den Fällen, in denen unsere Meinungen hinsichtlich eines ernsteren Problems auseinandergingen, den Kampf bis zu Ende durchzustehen. Verständlicherweise prägten sich solche Fälle dem Gedächtnis aller ein, darüber ist dann von den Epigonen viel geredet und geschrieben worden. Doch die Zahl derjenigen Fälle, in denen ich mich mit Lenin bei der leisesten Andeutung verstanden habe, ist hundertfach größer, wobei unsere gegenseitige Übereinstimmung die Gewähr dafür bot, dass die betreffende Angelegenheit im Politbüro reibungslos durchging. Diese Solidarität wurde von Lenin sehr geschätzt. 1 Führungs- und Fachoffizier der ehem. Kaiserlichen Armee – d. Übers. 2 von Meschok, russ. ein Sack, daher: Rucksackschieber während der Hungerjahre der bolschewistischen Revolution –, d. Übers. |
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