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Leo Trotzki 19350404 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 91-95]

4. April

Die ganze Alltagsmisere unseres persönlichen Lebens ist angesichts der Sorge um Serjoscha, A. L. und die Kinder in den Hintergrund getreten. Gestern sagte ich zu N.: »Rückblickend erscheint mir unser jetziges Leben bis zum Erhalt des letzten Briefes von Ljowa als ein herrlicher, sorgenloser Traum…« Mir zuliebe ist N. sehr tapfer, sie erlebt aber alles viel tiefer als ich. Im Rahmen der Unterdrückungspolitik Stalins spielten Motive persönlicher Rache stets eine wesentliche Rolle. Kamenew berichtete mir einmal, wie sie zu dritt – Stalin, Kamenew und Dserschinski – im Sommer 1923 (oder war es 1924?) einen Tag herzinnigen Meinungsaustausches in Subalowo beim Glase Wein verbracht hatten. (Sie fühlten sich durch den Kampf verbunden, den sie gegen mich eröffnet hatten). Nach dem Wein kam es auf der Terrasse zu Gesprächen über gefühlsbetonte Themen: man sprach über den persönlichen Lebensstil und kleine Schwächen, oder so ähnlich. Da sagte Stalin: »Der größte Genuss ist, einen Feind aufs Korn zu nehmen, sich an ihm nach guter Vorbereitung gründlich zu rächen und sich dann einfach ins Bett zu begeben.«

Seine Rachegefühle mir gegenüber sind ganz und gar unbefriedigt: Schläge wurden mir sozusagen körperlich versetzt, moralisch aber ist nichts erreicht worden, kein Arbeitsverzicht, kein »Reuebekenntnis«, keine Isolierung; im Gegenteil, ich habe einen neuen geschichtlichen Anlauf genommen, der nicht mehr aufzuhalten ist. Das ist die Quelle größter Befürchtungen Stalins: dieser Barbar fürchtet die Ideen, da er ihre Sprengkraft und seine Schwäche ihnen gegenüber gut kennt. Zugleich ist er aber auch klug genug, um zu verstehen, dass ich auch heute noch mit ihm nicht tauschen würde: das ist die Quelle der psychologischen Vergiftung, in der er lebt. Da es ihm aber misslungen ist und auch ganz offensichtlich misslingen wird, seine Rachegefühle auf einer höheren Ebene zu befriedigen, bleibt ihm nichts übrig, als sich Genugtuung dadurch zu verschaffen, dass er die mir nahestehenden Menschen durch gezielte Polizeiaktionen trifft. Stalin würde keinen Augenblick zaudern, ein Attentat auf mich anzuzetteln, er fürchtet aber die politischen Folgen: die Schuld würde unausweichlich auf ihn fallen. Die Schläge, die er in Russland gegen die mir persönlich nahestehenden Menschen führt, können ihm die gewünschte »Genugtuung« nicht verschaffen; andererseits sind sie aber in politischer Hinsicht ernstlich unbequem. Soll etwa erklärt werden, dass Serjoscha »im Auftrage ausländischer Geheimdienste« tätig gewesen sei? Das wäre plump, das Motiv der persönlichen Rache würde dann viel zu offen zutage treten und Stalins Person wäre dadurch viel zu stark kompromittiert.

»Zusage der UdSSR: künftig keine kommunistische Propaganda in Großbritannien und den Dominien

London, 3. April – In den kürzlich stattgehabten Gesprächen mit Mr. Eden soll Mr. Litwinow, sowjetischer Außenkommissar, den Lordsiegelbewahrer von dem Beschluss seiner Regierung unterrichtet haben, die kommunistische Propaganda in Großbritannien und den Dominien einzustellen. Es hat den Anschein, als seien die für diesen Zweck vorgesehenen Mittel in den letzten Monaten in zunehmendem Maße gekürzt worden.«1

Das klingt sehr nach Wahrheit. Man muss Litwinow gerechterweise zugute halten, dass er seit langem schon der Meinung war, die Komintern sei eine unrentable und schädliche Institution. Im Grunde war Stalin mit ihm einverstanden. Die Einzelheiten hinsichtlich einer von Monat zu Monat fortschreitenden Einschränkung der Subventionen sind sehr bezeichnend: der Kreml hat für die einzelnen Parteien eine jeweilige »Liquidations«-Zeitspanne festgelegt. Selbstverständlich werden die Sektionen der Komintern auch nach Ablauf dieser Zeitspanne nicht einfach verschwinden, doch werden sie stark schrumpfen und ihren Lebensrhythmus in Übereinstimmung mit dem neuen Etat bringen. Zugleich werden wohl auch personelle Revirements, Austritte, Fahnenflucht und Entlarvungen zu erwarten sein. Eine große Zahl der »Führer«, Journalisten und Propagandisten der Komintern gehört ganz eindeutig zum »Fromagisten«-Typ, das heißt zum Typ des sogenannten Butterbrot-Menschen: wo kein Honorar abfällt, da ist auch die Treue zu Ende. Die Rechtswendung im Bereich der Außen- und Innenpolitik zwingt Stalin, Schläge mit aller Kraft nach links auszuteilen: das ist die Absicherung gegen die Opposition. Es ist aber ein ganz und gar unzuverlässiges Absicherungsverfahren. Die Veränderungen in der gesamten Struktur der Gesellschaft und des alltäglichen Lebens der UdSSR müssen zwangsläufig eine neue akute politische Konvulsion herbeiführen.

Wie schwer ist es gegenwärtig, an dem Buch über Lenin zu arbeiten: die Gedanken lassen sich nicht auf das Jahr 1893 ausrichten! Seit einigen Tagen ist ein krasser Witterungsumschlag eingetreten. Obschon alle Gärten in Blüte sind, schneit es heute seit dem frühen Morgen, weit und breit ist alles schneebedeckt, der Schnee taut; soeben schneit es wieder, aber es taut auf der Stelle. Grauer Himmel, Nebel kriechen von den Bergen ins Tal herab, im Hause ist es feucht und man fröstelt. N, die unter der schweren seelischen Last leidet, macht sich im Haushalt zu schaffen. Das Leben ist eine harte Nuss… will man nicht resignieren oder dem Zynismus verfallen, so lässt es sich nur meistern, wenn man von einer großen Idee beherrscht wird, die den Menschen über sein persönliches Elend, über seine Schwäche und vielerlei Treuebrüche und Gemeinheiten emporhebt.

Gestern habe ich den Roman von V. Margueritte Le Compagnon durchgelesen. Ein ganz schwacher Schriftsteller; seine banale Prosa weist auch nicht die geringste Spur der großen Schule des französischen Romans auf. Die radikalistische Tendenz ist oberflächlich und sentimental. Dieser Radikalismus, mit Feminismus durchsetzt, mag vielleicht dem Zeitalter Louis-Philippes einigermaßen zu Gesicht gestanden haben. In der Gegenwart kann er aber nicht schimmeliger wirken. Die Erotik darin könnte beinahe Abklatsch eines Polizeiberichtes sein.

1 Eingeklebter Ausschnitt aus einer französischen Zeitung

L'U.R.S.S. se serait engagée à mettre fin à la propagande communiste en Grande-Bretagne et dans les dominions.

Londres, 3 avril.Au cours de ses récents entretiens avec M. Eden, M. Litvinoff, commissaire soviétique aux affaires étrangères, aurait informé le lord du Secau privé de la décision du gouvernement de Moscou, de mettre un terme à la propagande communiste en Grande-Bretagne et dans les dominions. Il semble que les fonds, destinés à cette propagande, aient été progressivement supprimés au cours de ses derniers mois.

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