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Leo Trotzki 19350403 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 88-91]

3. April

Ganz offensichtlich habe ich die unmittelbare praktische Bedeutung der Erklärung über den »trotzkistischen Abschaum« (vgl. 30. März) unterschätzt: die Speerspitze dieser »Aktion« ist diesmal gegen die mir persönlich nahestehenden Menschen gerichtet. Als ich gestern Abend den Brief meines älteren Sohnes aus Paris N. gab, sagte sie: »Sie werden ihn in keinem Fall deportieren; sie werden ihn foltern, um aus ihm irgend etwas herauszupressen, und dann werden sie ihn vernichten.«

Offenbar stellte die Deportation von 1074 Personen die gezielte Vorwegnahme der neuen gegen die Opposition gerichteten Aktion dar.* Die »Grafen, Gendarmeriebeamten und Fürsten« bilden die erste Hälfte des Amalgams, sein Grundelement. Doch es ist besser, einen Auszug aus der Prawda anzuführen:

»Gegen die Umtriebe der Feinde müssen durchweg reale Maßnahmen ergriffen werden. Oblomowismus, Vertrauensduselei und opportunistische Leutseligkeit den parteigegnerischen Elementen und Feinden gegenüber, die im Auftrage ausländischer Geheimdienste wirken, führen dazu, dass Einbrüche in unseren Apparat bisweilen gelingen.

Der Abschaum der Sinowjewmitläufer, Trotzkisten, ehemaliger Fürsten, Grafen und Gendarmeriebeamten, dieses ganze Pack, das gemeinsame Sache macht, versucht, die Mauern unseres Staates zu untergraben.«1

Auf wen beziehen sich die Worte für die »ausländischen Geheimdienste«? Auf die Fürsten oder auf die Trotzkisten? Die Prawda fügt hinzu, dass diese »gemeinsame Sache machen«. Der Sinn der Klitterung liegt jedenfalls darin, dass der GPU dadurch ermöglicht werden soll, »Trotzkisten« und »Sinowjewanhänger« als Agenten ausländischer Geheimdienste zu belangen. Das liegt auf der Hand. Hier ist die ursprüngliche Mitteilung über die 1074:

»In Leningrad ist während der letzten Tage eine Gruppe von Personen aus den Kreisen der ehemaligen Aristokratie, der zaristischen Würdenträger, Großkapitalisten, Gutsbesitzer, Gendarmerie- und Polizeibeamten und anderen wegen Übertretung der für das Wohnmeldewesen geltenden Bestimmungen und wegen Verletzung des Personalausweisgesetzes verhaftet worden. Diese Gruppe wird in die östlichen Gebiete der UdSSR deportiert. Darunter befinden sich: ehemalige Fürsten – 41 Personen; ehemalige Grafen – 38 Personen; ehemalige Barone – 76 Personen; ehemalige Großindustrielle – 33 Personen; ehemalige Großgrundbesitzer – 68 Personen; ehemalige Großkaufleute – 19 Personen; ehemalige zaristische Würdenträger der zaristischen Ministerien – 143 Personen; ehemalige Generäle und hohe Offiziere der zaristischen und der weißen Armee – 347 Personen; ehemalige hohe Beamte des Gendarmeriedienstes, der Polizei und der Ochrana – 118 Personen. Ein Teil der deportierten Personen wurde wegen ihrer staatsfeindlichen Tätigkeit zugunsten fremder Staaten von den Aufsichtsbehörden unter Anklage gestellt.«2

In dieser Meldung fällt noch kein einziges Wort über die Trotzkisten, die Anklage wegen Betätigung zugunsten ausländischer Staaten wird vorläufig nur gegen die »Fürsten« und »Gendarmen« erhoben. Erst fünf Tage danach berichtet uns die Prawda, dass die Trotzkisten und Sinowjewanhänger mit ihnen »gemeinsame Sache« machten! So sieht die plumpe Apparatur dieser Amalgamierung aus.

Mit welcher Unmittelbarkeit und Innigkeit des Empfindens versetzte sich N. in die Lage Serjoschas im Gefängnis: er muss es doppelt schwer haben, weil seine Lebensinteressen ganz außerhalb der Politik liegen, bei alledem ist er der Prügelknabe! N. erinnerte sich sogar des Barytschkin: »Der wird es ihm aber jetzt heimzahlen!« Barytschkin ist ein ehemaliger Arbeiter aus Mytistschi (bei Moskau), der in der GPU bis auf die Knochen korrumpiert und bodenlos gemein geworden ist. Soweit ich mich erinnere, wurde er bei einer Unterschlagung ertappt, aber Jagoda »rettete« ihn und verwandelte ihn damit in einen Sklaven. Dieser Barytschkin begleitete mich vor langer Zeit öfters auf meinen Jagdausflügen und beim Angeln. Er fiel mir durch die erstaunliche Mischung von Revolutionsgeist, Possenreißerei und Unterwürfigkeit in seinem Wesen auf. Mit der Zeit empfand ich immer mehr Abneigung gegen ihn, und schließlich wurde ich ihn los. Darüber beschwerte er sich klönend bei N. J. Muralow: »Er tut mich nicht mehr zur Jagd mitnehmen, der Leo Dawidowitsch…« Danach, wie schon erwähnt, wurde er bei einer Unterschlagung erwischt; nun, als einer, dem vergeben worden war, befleißigte er sich einer ostentativ hasserfüllten Haltung der Opposition gegenüber, um sich des Vertrauens seiner Vorgesetzten würdig zu erweisen.

Als ich aus Moskau deportiert wurde, betrat er meine Wohnung im Mantel und mit Kopfbedeckung. – Warum behalten Sie ihre Mütze auf? –, fragte ich ihn. Schweigend verließ er den Raum und sah dabei wie ein verprügelter Hund aus.

Als mich dann auf dem Bahnhof die »GPUisten« auf ihren Armen davontrugen, schrie Ljowa: »Arbeiter! seht, wie Tr. davon geschleppt wird!« Barytschkin stürzte sich auf ihn und drückte ihm den Mund zu. Da versetzte ihm Serjoscha einen kräftigen Schlag ins Gesicht. Barytschkin wich brummend zurück, hat aber aus diesem Vorfall keine Affäre gemacht… Das war es, was N. Anlass gab zu sagen: »Er wird es jetzt Serjoscha heimzahlen.«

* Ein Vergleich der Dokumente erbringt keinen Beweis für diese Annahme.

1 Eingeklebter Zeitungsausschnitt. Die Worte im Auftrage ausländischer Geheimdienste und das gemeinsame Sache macht sind mit Bleistift unterstrichen. Der folgende Text des Zeitungsausschnitts ist mehrmals mit Bleistift quer durchgestrichen.

2 Eingeklebter Zeitungsausschnitt, Prawda, 20. März. Die Worte zugunsten fremder Staaten sind mit Bleistift unterstrichen.

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