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Leo Trotzki 19350402 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 84-87]

2. April

Edens Moskauer Verhandlungen gingen mit der Veröffentlichung eines recht wortreichen diplomatischen Kommuniqués zu Ende. Es umfasst die beiderseitige Verpflichtung, jede Schädigung der Interessen und des Wohles des Vertragspartners zu vermeiden. Auf dem Wege nach Warschau hat Eden in wenig taktvoller Weise betont, dass es sich dabei nicht nur um eine Verpflichtung Großbritanniens gegenüber der UdSSR, sondern auch um eine Verpflichtung der UdSSR gegenüber Großbritanniens handele. Im Mittelpunkt stehen China und Indien, die Komintern und das »sowjetische« China. Welche Verpflichtungen ist nun Moskau in dieser Hinsicht eingegangen? Die Art dieser Verpflichtungen des Kreml wird sich an der Lösung der Frage der Einberufung des Moskauer Komintern-Kongresses erkennen lassen. Der Kongress ist ohne die Beteiligung der Chinesen, Inder und Engländer undenkbar. Ist aber sein Zustandekommen unter Teilnahme der Chinesen, Inder und Engländer nach den Moskauer Verhandlungen möglich?

Für die Sache der sozialistischen Revolution wäre es im Endergebnis ein großer Gewinn, wenn Stalin sich verpflichtet hätte, die Komintern stillschweigend aufzulösen. Doch würde eine solche Verpflichtung zugleich auch ein unwiderlegbarer Beweis für den endgültigen Bruch zwischen der Sowjet-Bürokratie und dem Weltproletariat sein.

Seit gestern bin ich wieder in eine Krankheitsperiode eingetreten. Schwächegefühl, leichtes Fieber, außerordentlich heftiges Ohrensausen. Das letzte Mal, als ich mich in einem ähnlichen Zustand befand, besuchte H. M., den hiesigen Präfekten. Der erkundigte sich nach mir, und als er erfahren hatte, dass ich krank wäre, rief er aus: »Das ist aber äußerst unangenehm… wenn er hier sterben sollte, könnten wir ihn ja nicht unter seinem Decknamen beerdigen!« So hat eben jeder seine Sorgen!

Soeben habe ich einen Brief aus Paris erhalten. Alexandra Lwowna Sokolowskaja, meine erste Frau, die in Leningrad ansässig war, ist zusammen mit meinen Enkelkindern nach Sibirien verbannt. Eine Postkarte von ihr aus Tobolsk, wo sie sich auf der Reise nach den entfernteren Gebieten Sibiriens aufhält, hat das Ausland erreicht. Briefe von meinem jüngeren Sohn, Serjoscha, Professor am Technologischen Institut, bleiben aus. In seinem letzten Brief schrieb er, dass unklare, besorgniserregende Gerüchte sich in seiner Umgebung verdichteten. Anscheinend ist auch er aus Moskau verbannt worden. Ich glaube nicht, dass Alexandra Lwowna während der letzten Jahre auf irgendeine Art politisch aktiv war: sie ist bejahrt und hat drei Kinder zu versorgen. Vor einigen Wochen erwähnte die Prawda in einem Artikel, der dem Kampf gegen die »Reste« und den »Abschaum« gewidmet war, in ihrem üblichen Rowdystil – auch Alexandra Lwownas Namen, allerdings nur am Rande. Dabei wurde ihr schädigender Einfluss zur Last gelegt, den sie – im Jahre 1931! –, auf eine Gruppe von Studenten, ich glaube des Forstwissenschaftlichen Instituts, ausgeübt haben soll. Keinerlei zu einem späteren Zeitpunkt begangene Verbrechen konnten von der Prawda entdeckt werden. Doch die Namenserwähnung allein war ein untrüglicher Hinweis darauf, dass ein Schlag auch in dieser Richtung zu erwarten ist.

Platon Wolkow, der Mann der verstorbenen Sinuschka, ist in der Verbannung wieder verhaftet und in eine noch entlegenere Gegend gebracht worden. Sjowuschka (mein Enkel), Platons und Sinuschkas achtjähriger Bub, ist erst vor kurzem aus Wien nach Paris gebracht worden. Während der letzten Lebensjahre der Mutter war er bei ihr in Berlin. Sie nahm sich das Leben, als Sjowuschka in einer Lehranstalt war. Kurze Zeit war er dann bei meinem älteren Sohn und dessen Frau. Aber sie mussten Deutschland Hals über Kopf verlassen, als das Heraufkommen des faschistischen Regimes offenkundig wurde. Sjowuschka wurde nach Wien gebracht, um ihm die unnütze Sprachenverwirrung zu ersparen. Dort wurde er von unseren alten Freunden in einer Lehranstalt untergebracht. Nach unserer Übersiedlung nach Frankreich und nach dem Ausbruch gegenrevolutionärer Umtriebe in Österreich beschlossen wir, den Buben zu meinem älteren Sohn und dessen Frau nach Paris zu bringen. Doch wurde dem siebenjährigen Sjowuschka das Visum hartnäckig verweigert. Viele Monate vergingen mit Scherereien. Erst vor kurzem ist es gelungen, ihn nach Paris zu bringen. Während seines Aufenthalts in Wien hat Sjowa das Russische und das Französische ganz verlernt. Und wie ausgezeichnet sprach er russisch, in dem singenden Moskauer Tonfall, als er zum ersten Mal im Alter von fünf Jahren zusammen mit seiner Mutti zu uns nach Prinkipo kam! Dort eignete er sich das Französische und zum Teil auch das Türkische in einem Kindergarten schnell an. In Berlin ging er zum Deutschen über, in Wien verwandelte er sich ganz in einen Deutschen, jetzt aber, in einer Pariser Schule, wechselt er wieder zum Französischen über. Er weiß vom Tode der Mutter und erkundigt sich von Zeit zu Zeit nach »Platoscha« (dem Vater), der für ihn zu einer Sagengestalt geworden ist.

Im Gegensatz, und teilweise aus einer ausgesprochenen Opposition zu meinem älteren Sohn, hatte sich mein jüngerer Sohn mit etwa 12 Jahren ganz von der Politik abgewandt. Er turnte gern, schwärmte für den Zirkus, wollte sogar die Artistenlaufbahn einschlagen, widmete sich dann den technischen Wissenschaften und wurde Hochschullehrer; zusammen mit zwei anderen Ingenieuren hat er unlängst ein Buch über Generatoren herausgegeben. Wenn er tatsächlich deportiert worden ist, so konnte es sich nur um Motive persönlicher Rachsucht handeln: politische Gründe konnten nicht vorliegen!

Zur Illustrierung des Moskauer Alltags: Serjoscha hatte früh geheiratet; einige Jahre wohnte er mit seiner Frau in einem Zimmer, welches ihnen nach unserem Umzug aus dem Kreml in unserer dortigen Wohnung verblieben war. Vor etwa anderthalb Jahren trennte sich Serjoscha von seiner Frau, doch wohnten sie mangels eines freien Raumes bis zuletzt zusammen. Wahrscheinlich sind sie erst jetzt durch die GPU nach verschiedenen Himmelsrichtungen auseinandergebracht worden… Vielleicht wurde auch Ljolja deportiert? Ausgeschlossen ist es nicht!

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