Leo Trotzki: Tagebucheintrag [Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 67-69] 23. März In dem Roman Die Eroberung Europas – ein »literarisches« Werk ohne Tiefgang und pretentiös – erbringt Fedin diesen Beweis: die Revolution hat die russischen Schriftsteller gelehrt (oder gezwungen), diejenigen Tatsachen schärfer ins Auge zu fassen, in welchen sich die wechselseitige soziale Abhängigkeit der Menschen spiegelt. Der normale bürgerliche Roman umfasst zwei Stockwerke: Gefühle werden nur im Hochparterre erlebt (Proust!) – die Menschen im Kellergeschoss besorgen das Schuhputzen und entleeren die Nachtgeschirre. Davon ist im Roman selbst nur selten die Rede, es wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Der Held des Romans seufzt, die Heldin atmet, folglich verrichten sie auch andere körperliche Funktionen: es muss doch dann jemand anderes da sein, der hinter ihnen aufwischt. Ich erinnere mich, einmal den Roman von Louys Amor und Psyche gelesen zu haben, (ein ungewöhnlich verlogenes und triviales Gewäsch, dessen Schluss, wenn ich mich nicht irre, von dem unerträglichen Claude Farrère verfasst worden ist). Louys versetzt die Bediensteten irgendwohin in die Unterwelt, so dass seine liebestrunkenen Helden sie nie erblicken. Eine ideale Gesellschaftsordnung für verliebte Taugenichtse und ihre Künstler. Fedins Aufmerksamkeit ist im Grunde genommen ebenfalls vorwiegend auf die Menschen im Hochparterre (in Holland) gerichtet, doch ist er bemüht, wenigstens en passant die Psychologie der Beziehungen zwischen dem Chauffeur und dem Finanzmagnaten, oder dem Matrosen und dem Reedereibesitzer aufs Korn zu nehmen. Er bietet keine Offenbarungen, doch werden von ihm die dunklen Winkel derjenigen menschlichen Beziehungen ausgeleuchtet, auf denen die zeitgenössische Gesellschaftsordnung beruht. Der Einfluss der Oktoberrevolution auf die Literatur ist noch ganz Sache der Zukunft. Der Rundfunk überträgt die Eroica, Concert Pasdeloup. Ich beneide N. wenn sie große Musik hört: mit jeder Fiber ihrer Seele und ihres Körpers. N. ist keine Musikerin, aber sie ist weit mehr als das: ihr ganzes Wesen ist musikalisch, in der Tiefe ihrer Leiden wie auch ihrer (seltenen) Freuden klingt stets eine Melodie auf, die ihr gesamtes Erleben adelt. Wenn auch Einzeltatsachen des politischen Alltags ihr Interesse wecken, so verbindet sie sie für gewöhnlich nicht zu einem Gesamtbild. Doch dort, wo die Politik in die Tiefe dringt und die Resonanz der ganzen Persönlichkeit erfordert, entdeckt N. in der Musik ihres innersten Wesens stets den richtigen Ton. Auch in der Menschenbeurteilung ist es bei ihr nicht anders, und zwar auch dann, wenn sie sich ihr Urteil nicht nur vom persönlich-psychologischen, sondern auch vom revolutionären Standpunkt aus bildet. Das Philisterhafte, Vulgäre und Feige in dem Wesen eines Menschen wird ihr nie verborgen bleiben, obwohl sie gegenüber allen kleinen menschlichen Schwächen außergewöhnlich nachsichtig ist. Menschen hoher Sensibilität, sogar wenn sie zu den ganz »einfachen« und schlichten gehören – auch Kinder –, erfühlen die Musikalität und Tiefe ihres Wesens instinktiv. Von den Menschen, die über sie mit Gleichgültigkeit und Herablassung hinweggehen, kann fast immer mit Bestimmtheit angenommen werden, dass sie oberflächlich und trivial sind. Ende der Eroica (sie wurde in Auszügen übertragen). |
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