Leo Trotzki: Tagebucheintrag [Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 59-62] 9. März Alexej Tolstois Roman Peter der Erste ist ein hervorragendes Werk dank der Unmittelbarkeit des Nachempfindens altrussischer Vergangenheit. »Proletarische Literatur« ist er selbstverständlich nicht. Tolstoi ist durch und durch Spross der alten russischen Literatur, natürlich auch der gesamten Weltliteratur. Doch ohne jeden Zweifel hat ihn (und nicht ihn allein) gerade die Revolution – kraft des Gesetzes der wirkenden Gegensätze – gelehrt, die altrussische Vergangenheit in ihrer Eigenart des Wilden, Starken und Ungehobelten nachzuempfinden. Sie lehrte ihn noch mehr und Größeres: nämlich die einfachen, jenseits der ideologischen Vorstellungen, jenseits der Phantasie und des Aberglaubens verborgenen Lebensinteressen der einzelnen sozialen Gruppen und ihrer individuellen Vertreter zu entdecken. A. Tolstoi hat mit ausgezeichnetem künstlerischem Scharfblick den materiellen Boden der ideologischen Konflikte des Petrinischen Russland bloßgelegt. Der Realismus der Individualpsychologie wird dadurch in die Bereiche des sozialen Realismus gehoben. Dies ist zweifellos eine Errungenschaft sowohl der Revolution im Sinne der unmittelbaren Erfahrung wie auch des Marxismus als Doktrin. Der französische Romanschriftsteller Mauriac, den ich nicht kenne, »Mitglied der Akademie« – was keine gute Empfehlung für ihn ist –, erklärte neulich: »Wir werden die UdSSR anerkennen, wenn dort ein neuer Roman geschaffen werden wird, der das Niveau Leo Tolstois und Dostojewskis erreicht.« Damit hat Mauriac anscheinend dieses künstlerische und idealistische Urteil dem marxistischen, produktionsartbedingten und materialistischen Urteil gegenübergestellt. Im Vorwort zu meinem Buch Literatur und Revolution schrieb ich vor 12 Jahren: »Jedoch auch eine erfolgreiche Lösung aller elementaren Probleme der Ernährung, Bekleidung und Behausung, ja sogar der Bildung würde keineswegs mit dem vollständigen Sieg des neuen Prinzips der Geschichte, und das heißt des Sozialismus, gleichbedeutend sein. Nur die aufsteigende Bewegung des wissenschaftlichen Denkens im Gesamtbereich des Lebens der Nation und die Entwicklung einer neuen Kunst würde bedeuten, dass die geschichtliche Saat nicht nur aufgegangen ist, sondern sogar die Blüte gebracht hat. In diesem Sinne ist die Kunstentwicklung der härteste Prüfstein der Lebenskraft und der Bedeutung eines Zeitalters.« Keineswegs kann jedoch der Roman von A. Tolstoi bereits als eine »Blüte« des neuen Zeitalters herausgestellt werden. Die Gründe dafür sind schon erwähnt worden. Diejenigen Romane aber, denen von offizieller Seite das Prädikat eines »proletarischen Kunstwerks« (in der Zeitperiode der völligen Liquidierung der Klassen!) verliehen wird, sind noch jeder künstlerischen Bedeutung bar. Darin kann natürlich nichts »Beängstigendes« erblickt werden. Es erfordert Zeit, bis der vollständige Umbruch aller sozialen Grundlagen, Sitten und Begriffe zur künstlerischen Auskristallisierung entlang den neuen Achsen des Denkens geführt haben wird. Aber welche Zeit? Aufs Geratewohl lässt es sich nicht sagen, doch eine lange Zeit in jedem Fall. Stets folgt die Kunst dem neuen Zeitalter im Train. Der Roman aber – als große Kunst – ist besonders schwerfällig. Dass es die neue große Kunst noch gar nicht gibt, ist eine ganz natürliche Tatsache, sie dürfte und sollte, wie gesagt, nicht beängstigend wirken. Dagegen können die abstoßenden, auf Befehl der Bourgeoisie als neue Kunst entstehenden Fälschungen Schrecken einflößen. Die Widersprüche des zeitgenössischen verlogenen und ignoranten »sowjetischen« Bonapartismus, der es unternimmt, die Kunst hemmungslos zu kommandieren, schließen die Möglichkeit jedweden Kunstschaffens aus, dessen unabdingbare Voraussetzung die schöpferische Aufrichtigkeit ist. Ein alter Ingenieur kann im Notfalle eine Turbine mit Widerwillen konstruieren – sie wird nicht erstklassig sein, eben darum, weil sie mit Widerwillen konstruiert wurde, aber sie wird ihren Zweck erfüllen. Dagegen kann niemand ein Werk der Dichtung widerwillig schaffen. Es ist kein Zufall, dass A. Tolstoi sich auf die Zeitenwende des XVII. Jahrhunderts zurückzog, um über die Freiheit zu verfügen, die dem Künstler unentbehrlich ist. |
Leo Trotzki > 1935 >