Leo Trotzki: Tagebucheintrag [Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 56-59] 7. März In den Sitzungsberichten des vereinigten Juli-August-Plenums des ZK und der ZKK des Jahres 1927 (soweit ich mich erinnere, gerade in diesen Sitzungsberichten) kann eine Sondererklärung der Frau M. Uljanowa zugunsten von Stalin nachgelesen werden (sofern dem Betreffenden diese geheimen Sitzungsberichte zugänglich sind). Der Sinn dieser Erklärung ist folgender: a. Kurz bevor er den zweiten Schlaganfall erlitten hatte, hat Lenin seine persönlichen Beziehungen zu Stalin ausschließlich aus persönlichen Gründen abgebrochen; b. Hätte Lenin Stalin nicht als einen Revolutionär geschätzt, so würde er sich an ihn nicht mit der Bitte um einen solchen Dienst gewandt haben, dessen Erfüllung nur von einem echten Revolutionär erwartet werden konnte. Diese Erklärung verschweigt bewusst das, was mit einer außerordentlich kritischen Episode zusammenhängt. Diese Episode will ich hier festhalten. Zunächst einiges über M. I. Uljanowa, Lenins jüngste Schwester, die mit ihrem Kosenamen Manjascha genannt wurde. Eine alte Jungfer, reserviert und zäh, konzentrierte sie die ganze unverausgabte Kraft ihrer Liebe auf die Person ihres Bruders Wladimir. Zu seinen Lebzeiten trat sie völlig in seinen Schatten zurück: niemand sprach mit ihr. Sie wetteiferte mit Frau N. K. Krupskaja in der Pflege des W. I. Nach seinem Tode trat sie mehr hervor, oder, besser gesagt, sie wurde dazu gezwungen. Über die Schriftleitung der Prawda (sie war die Sekretärin der Zeitung) stand Frau Uljanowa in enger Verbindung mit Bucharin und unter dessen Einfluss. Nach ihm wurde auch sie in den Kampf gegen die Opposition hineingezogen. Neben ihrer Beschränktheit und ihrem Fanatismus bildeten ihre Rivalitätsgefühle gegenüber Krupskaja – die sich lange und nachdrücklich weigerte, aus ihrem Herzen eine Mördergrube zu machen – eine ständige Quelle ihrer Eifersucht. In dieser Zeit begann M. Uljanowa an den Parteiversammlungen aktiv teilzunehmen, Memoiren zu schreiben usw., und es muss gesagt werden, dass von keinem der Menschen, die Lenin persönlich nahestanden, ein solches Maß an Unverständnis offenbart worden ist wie gerade von dieser seiner ihm hingebungsvoll ergebenen Schwester. Anfang 1926 verbündete sich Frau Krupskaja endgültig (wenn auch nicht auf lange Zeit) mit der Opposition (über die Gruppe Sinowjew-Kamenew). Die Fraktion Stalins und Bucharins war gerade in dieser Zeit bestrebt, Bedeutung und Rolle der Frau Uljanowa, als Gegengewicht zu Frau Krupskaja, herauszustellen. In meiner Selbstbiographie findet sich der Bericht darüber, wie Stalin bemüht war, die Isolierung Lenins während der zweiten Krankheitsperiode (nach dem zweiten Schlaganfall) herbeizuführen. Er rechnete damit, dass Lenin sich nicht mehr von seinem Krankenlager erheben würde, und war mit allen Kräften bestrebt, ihn an der Stimmabgabe auf schriftlichem Wege zu hindern. (So versuchte er auch, die Veröffentlichung des Artikels von Lenin über die Organisation der Zentralen Kontroll-Kommission für den Kampf gegen den Bürokratismus, d. h. also vor allem gegen die Fraktion Stalins, zu verhindern.) Für den kranken Lenin war Frau Krupskaja die Hauptquelle der Information. Stalin begann nun Frau Krupskaja zu verfolgen, und zwar auf die rücksichtsloseste Art und Weise. Dies war der eigentliche Boden, auf dem sich der Konflikt abspielte. Anfang März (ich glaube, es war der 5.) 1923 schrieb (diktierte) Lenin einen Brief an Stalin über den Abbruch aller seiner persönlichen und kameradschaftlichen Beziehungen zu ihm. Die Ursache des Konflikts war also keineswegs persönlicher Natur, ja, bei Lenin konnte sie auch nicht persönlicher Natur sein… Welche Bitte Lenins hatte nun aber Frau Uljanowa im Auge, als sie ihre schriftliche Erklärung abgab? Als sein Krankheitszustand sich erneut verschlechtert hatte – das war im Februar oder Anfang März –, ließ Lenin Stalin kommen und richtete an ihn die dringende Bitte: ihm Gift zu verschaffen. Aus Furcht, sein Sprechvermögen aufs Neue einzubüßen und zum Spielzeug seiner Ärzte zu werden, wollte Lenin Herr seines Schicksals bleiben. Nicht von ungefähr hatte er seinerzeit das Verhalten Lafargues gebilligt, der es freiwillig vorgezogen hatte, [to] join the majority, um nicht als Invalide weiterzuleben. M. Uljanowa schrieb: »Eine solche Bitte konnte nur an einen Revolutionär gerichtet werden!« Es steht ganz und gar außer Zweifel, dass Lenin Stalin für einen charakterfesten Revolutionär hielt. Doch dies allein hätte nicht genügt, um sich an ihn mit einer solchen außergewöhnlichen Bitte zu wenden. Offensichtlich war Lenin gezwungen, anzunehmen, dass Stalin derjenige aus der Zahl der führenden Revolutionäre sei, der ihm die Erfüllung dieser Bitte nicht abschlagen würde. Es darf nicht vergessen werden, dass die Bitte einige Tage vor dem endgültigen Abbruch der Beziehungen ausgesprochen wurde. Lenin kannte Stalin und dessen Absichten und Pläne, er wusste, wie Stalin Frau Krupskaja behandelte, und dass alle Handlungen Stalins auf der Berechnung beruhten, dass Lenin nicht mehr genesen würde. Unter diesen Umständen hatte sich Lenin an Stalin mit der Bitte gewandt, ihm Gift zu verschaffen. Es ist möglich, dass in dieser Geste – neben dem Hauptziel – die Absicht der Überprüfung sowohl Stalins als auch des unaufrichtigen Optimismus der Ärzte mit enthalten war. Wie dem auch sei, Stalin erfüllte die Bitte nicht, sondern berichtete über sie an das Politbüro. Alle erhoben Protest (die Ärzte gaben noch immer einige Hoffnung), Stalin hüllte sich in Schweigen… Im Jahre 1926 teilte mir Frau Krupskaja Lenins Meinung über Stalin mit: »Ihm fehlt die elementarste menschliche Anständigkeit.« Derselbe Gedanke kehrt im Grunde genommen auch im Testament wieder, wenn auch in einer vorsichtigeren Formulierung. Erst jetzt ist alles das zur vollen Entfaltung gekommen, was damals im Keime vorhanden war. Lüge, Fälschungen, Verdichtung von Tatsachen und juristische Amalgamierung haben Ausmaße angenommen, die in der bisherigen Geschichte unbekannt waren und die, wie die Kirow-Affäre beweist, eine unmittelbare Bedrohung des Stalinschen Regimes darstellen. |
Leo Trotzki > 1935 >