Leo Trotzki: Nochmals zur Frage des Bonapartismus (Untersuchung aus dem Gebiet der marxistischen Terminologie.) [Nach der Broschüre Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus, Verlag Unser Wort, Paris 1936, S. 19-22] Einige Kritiker beschuldigen uns, den Ausdruck Bonapartismus zu breit und zu verschiedenartig in Anwendung zu bringen. Die Kritiker merken nicht, dass dasselbe auch auf andere politische Ausdrücke zutrifft, als: «Demokratie», «Diktatur»; gar nicht zu reden von «Staat», «Gesellschaft», «Regierung» usw. Wir sprechen von der (auf Sklaverei gegründeten) antiken Demokratie, von der Demokratie der mittelalterlichen Zünfte, von bürgerlicher Demokratie, von proletarischer Demokratie (im Staatssinn), aber auch von Partei-, Gewerkschafts-, Genossenschaftsdemokratie usw., usw. Der Marxismus kann auf solche feststehenden, konservativen Begriffe und auf ihre Übertragung auf neue Erscheinungen nicht verzichten: ohne das wäre die Kontinuität des menschlichen Denkens überhaupt ausgeschlossen. Aber der Marxismus ist, zur Vermeidung von Irrtümern, gezwungen, jeweils den sozialen Inhalt des Begriffs und seine Entwicklungstendenz zu bestimmen. Erinnern wir daran, dass Marx und Engels als bonapartistisch nicht nur das Regime Napoleons III., sondern auch das Bismarcks bezeichneten. Am 12. April 1890 schrieb Engels an Sorge: «Jede heutige Regierung wird nolens volens bonapartistisch.» Das war in Bezug auf die damalige jahrelange Periode der Agrarkrise und Industriedepression mehr oder weniger richtig. Der neue Aufschwung des Kapitalismus in der zweiten Hälfte der 90er Jahre schwächte die bonapartistischen Tendenzen ab, der Nachkriegsniedergang ließ sie wieder ungemein erstarken. Tschernow zitiert in seiner «Großen russ. Revolution» Äußerungen Lenins und Trotzkis über das Kerenskiregime als den Keim des Bonapartismus und bemerkt dazu, indem er diese Definition ablehnt, in belehrendem Ton: «der Bonapartismus vollführt seinen Flug auf den Fittichen des Ruhms». Dieser theoretische «Flug» ist ganz im tschernowschen Geiste. Marx, Engels, Lenin jedoch bestimmten den Bonapartismus nicht nach seinen Fittichen, sondern nach dem spezifischen Verhältnis der Klassen zueinander. Unter Bonapartismus verstehen wir ein Regime, wo die ökonomisch herrschende Klasse, zu demokratischen Regierungsmethoden nicht mehr imstande, sich im Interesse der Erhaltung ihres Eigentums gezwungen sieht, das unkontrollierte Kommando des Militär- und Polizeiapparats, mit einem «Retter an der Spitze» über sich zu dulden. Eine solche Lage entsteht in Perioden besonderer Zuspitzung der Klassengegensätze: der Zweck des Bonapartismus ist, sie nicht zur Explosion kommen zu lassen. Die bürgerliche Gesellschaft hat schon mehrmals solche Perioden durchgemacht aber das waren sozusagen nur Proben. Der heutige Verfall des Kapitalismus hat nicht nur ein für allemal die Demokratie untergraben, sondern auch die absolute Unzulänglichkeit des Bonapartismus alten Schlages gezeigt: an seine Stelle trat der Faschismus. Allein, Brücke von der Demokratie zum Faschismus (1917 in Russland die «Brücke» von der Demokratie zum Bolschewismus) ist das «persönliche Regime», das sich über die Demokratie erhebt, zwischen den beiden Lagern laviert und dabei die Interessen der herrschenden Klasse wahrnimmt: diese Definition zu geben genügt, damit der Ausdruck Bonapartismus sich als vollauf begründet erwies. Jedenfalls stellen wir fest, dass: 1. nicht einer unserer Kritiker sich die Mühe gegeben hat, den spezifischen Charakter der vorfaschistischen Regierungen zu entdecken: Giolitti und Facta in Italien, Brüning, Papen, Schleicher in Deutschland; Dollfuss in Österreich; in Frankreich Doumergue und Flandin; 2. niemand bisher noch einen anderen Ausdruck vorgeschlagen hat. Was uns betrifft, so sehen wir dafür keine Notwendigkeit: der Ausdruck Marxens, Engels', Lenins genügt uns vollständig. Warum bestehen wir auf dieser Frage? Weil sie, sowohl theoretisch wie politisch, von kolossaler Bedeutung ist. Man kann sagen: von dem Moment an, wo der Andrang der beiden feindlichen Klassenlager die Machtachse über das Proletariat hinaushebt, setzt im Lande offiziell die vorrevolutionäre (oder … vorfaschistische) Periode ein. Der Bonapartismus bezeichnet auf diese Weise die letzte Periode in der die proletarische Vorhut den Anlauf zur Machteroberung nehmen kann. Das Unverständnis der Stalinisten für die Natur des Bonapartistischen Regimes führt dazu, dass sie die Diagnose stellen: «die revolutionäre Situation ist nicht da» und an der vorrevolutionären Situation achtlos vorübergehen. Die Sache kompliziert sich, wenn wir den Ausdruck Bonapartismus auf das Stalinregime anwenden und vom «Sowjetbonapartismus» sprechen. «Nein», rufen unsere Kritiker aus, «eurer Bonapartismen sind zuviele; der Ausdruck wird unzulässig dehnbar…» usw. Derartige abstrakte, formelle, mündliche Einwände werden gewöhnlich dann gemacht, wenn man zum Wesentlichen nichts zu sagen hat. Unbestreitbar haben weder Marx, noch Engels, noch Lenin den Ausdruck Bonapartismus auf den Arbeiterstaat angewandt; kein Wunder: sie hatten dazu keine Gelegenheit (dass Lenin sich nicht scheute, Ausdrücke des bürgerlichen Regimes mit den notwendigen Einschränkungen auf den Arbeiterstaat anzuwenden, dafür zeugt z. B. sein Ausdruck «Sowjetstaatskapitalismus»). Was aber tun in den Fällen, wo die guten alten Bücher die notwendigen Fingerzeige nicht geben? Da heißt es, sich auf den eigenen Verstand zu verlassen. Was bedeutet das «persönliche Regime» Stalins und woher stammt es? Es ist letzten Endes das Produkt des scharfen Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Mit Hilfe dels bürokratisch-polizeilichen Apparats erhob sich die Macht des «Retters» des Volkes und Schiedsrichters der Bürokratie, als der herrschenden Schicht, über die Sowjetdemokratie, diese in ihren eigenen Schatten verwandelnd. Die objektive Funktion des «Retters» ist, die neuen Eigentumsformen zu schützen, indem er die politische Funktion der herrschenden Klasse usurpiert. Ist diese genaue Charakteristik, des Stalinregimes nicht zugleich die wissenschaftlich-soziologische Definition des Bonapartismus? Der unvergleichliche Wert des Ausdrucks besteht eben darin, dass er mit einem Schlage äußerst lehrreiche geschichtliche Ähnlichkeiten zu entdecken und ihre sozialen Wurzeln zu bestimmen erlaubt. Es zeigt sich: der Ansturm der plebejischen oder proletarischen Kräfte gegen die herrschende Bourgeoisie, und der Ansturm der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte gegen das herrschende Proletariat können beide zu überaus analogen (symmetrischen) politischen Regimen führen. Das ist eine unbestreitbare Tatsache, die der Ausdruck Bonapartismus, wie es besser gar nicht ginge, zu erhellen hilft. * * * Als Engels schrieb, dass «jede heutige Regierung nolens volens bonapartistisch wird», hatte er natürlich nur die Tendenz im Auge. Auf diesem Gebiet, wie auf anderen, geht die Quantität in Qualität über. Alle bürgerlichen Demokratien enthalten Züge des Bonapartismus. Genau ebenso kann man im vorstalinschen Sowjetregime Elemente des Bonapartismus entdecken. Doch die Kunst des wissenschaftlichen Denkens besteht eben darin zu bestimmen, wo gerade die Quantität in die neue Qualität umschlägt. In Lenins Epoche war der Bonapartismus eine Möglichkeit, in Stalins Epoche wurde er Wirklichkeit. Der Ausdruck Bonapartismus verwirrt die naiven Gehirne (à la Tschernow) durch die Erinnerung an die historische Gestalt Napoleons, so wie die Bezeichnung Cäsarismus das Bild Julius Cäsar ins Gedächtnis ruft. In Wirklichkeit haben sich beide Ausdrücke längst von den historischen Figuren, die ihnen den Namen gaben, gelöst. Sagen wir Bonapartismus ohne nähere Bestimmungen, so schwebt uns nicht die geschichtliche Analogie vor, sondern die soziologische Definition. So haben Ausdrücke wie Chauvinismus und Nationalismus denselben allgemeinen Charakter, wiewohl der eine sich von dem französischen Bourgeois Chauvin, der andere sich von Nation ableitet. In bestimmten Fällen jedoch haben wir, wenn wir von Bonapartismus gesprochen, einen konkreten geschichtlichen Vergleich im Auge. So weist das Stalinregime, das eine Übertragung des Bonapartismus in die Sprache des Sowjetstaates darstellt, gleichzeitig eine Reihe von zusätzlichen analogen Zügen mit dem Regime des Konsulats auf (Kaiserreich, aber noch ohne Krone), und das nicht zufällig: beide treten sie auf als die Erben und Usurpatoren großer Revolutionen. Wir sehen, die richtige, d. h. dialektische Anwendung des Ausdrucks Bonapartismus führt nicht nur nicht zur Schablonisierung, dieser Pest des Denkens, sondern gestattet im Gegenteil, die uns interessierende Erscheinung mit aller nötigen Konkretheit zu charakterisieren, dabei nicht isoliert genommen als ein Sonderfall, sondern im geschichtlichen Zusammenhang mit vielen anderen verwandten Erscheinungen. Was kann man von einem wissenschaftlichen Terminus mehr verlangen? |
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