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Leo Trotzki 19350118 Die Sache Sinowjews, Kamenews und Genossen

Leo Trotzki: Die Sache Sinowjews, Kamenews und Genossen

[Nach Leo Trotzki, Die „Terroristen“-Prozesse in der USSR. Prag 1936, S. 21-27]

16. Januar 1935, 20 Uhr.

Soeben hörte ich im Radio die Mitteilung, dass Sinowjew und Kamenew dem Kriegsgericht übergeben werden, „im Zusammenhang mit der Mordaffäre Kirow". Das Amalgam ist somit in ein neues Stadium getreten.

Rufen wir uns noch einmal die wichtigsten Etappen in Erinnerung. Sinowjew, Kamenew und ihre Moskauer Freunde wurden „im Zusammenhang" mit dem Mord an Kirow verhaftet. Im Verlauf des Prozesses kommt es jedoch zu einer unerwarteten Stockung. Das ZIK ist, bei Beseitigung des soeben veröffentlichten Gesetzes, gezwungen, den Gang der Untersuchung zu verlangsamen. Ungeachtet dessen stellt sich aber heraus, dass keine genügenden Unterlagen vorhanden sind, um Sinowjew und die anderen dem Gericht zu übergeben. Warum wurden sie dann verhaftet? Die Schlussfolgerung ist klar: sie wurden nicht aus irgend einem Grunde verhaftet, sondern für irgend einen Zweck.

Sie wurden verhaftet für ein Amalgam, d. h. zur Herstellung einer Verbindung zwischen dem terroristischen Mord und der Opposition, jeder Opposition überhaupt, jeder Kritik überhaupt, der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen. Man beschloss, sie zu verhaften, weil alles vorher festgelegt schien. Die GPU war auf dem Laufenden über die Vorbereitungen zur terroristischen Tat in Leningrad. Der „Konsul" hatte den ihm übertragenen Auftrag ausgeführt: er stellte das Verbindungsglied des Amalgams dar. Der wirkliche Terrorist Nikolajew jedoch hatte sich aus konspirativen Gründen – anscheinend von seiner eigenen Gruppe losgelöst, u. a. auch von den zu ihr zählenden Agenten der GPU. Es ertönte der verhängnisvolle Schuss. Er gehörte nicht in Stalins Programm herein. Aber das war das Risiko des Unternehmens. Kirow fiel als das Opfer. Die Agenten der GPU bezahlten ebenfalls: die älteren wurden ersetzt, die jüngeren zusammen mit den Terroristen erschossen.

Der unvorhergesehene Schuss brachte Verwirrung in das Amalgam. Der „Konsul" und seine Leiter hatten keine Zeit, etwas vorzubereiten. Man musste also Sinowjew, Kamenew und ihre Freunde aus dem Prozess aussondern. Die Anklageschrift in der Sache Nikolajew erwähnt sie mit keinem Wort; die Regierungsmitteilung besagte, dass sie auf administrativem Wege verbannt werden. Wofür? Unbekannt! Die Verhandlung gegen die 14 Leningrader hat stattgefunden: alle wurden erschossen. Die Sache schien erledigt. Das konnten aber nur jene annehmen, die die Hauptaufgabe des ganzen Unternehmens vergessen hatten: das Amalgam. „Eine nachträgliche Voraussage", wird dieser oder jener Gegner sagen. Glücklicherweise kann ich eine ganze Reihe von Dokumenten vorlegen, darunter auch veröffentlichte.

Bald nach meiner Ankunft in der Türkei, am 4. März 1929, habe ich mit aller Konkretheit im „Bulletin" der russischen Opposition dargelegt, was für Ziele Stalin mit dieser Verbannung verfolgt. Auf die Vitalität der Ideen der Opposition in der Partei hinweisend, schrieb ich:

Stalin bleibt eins übrig: zu versuchen, zwischen der offiziellen Partei und der Opposition einen blutigen Strich zu ziehen. Er muss unbedingt die Opposition mit Altentaten, mit Vorbereitung zum bewaffneten Aufstand usw. in Verbindung bringen (unterstrichen im „Bulletin") … Aber grade auf diesem Wege“ – fuhr ich weiter fort – „tritt ihm die leitende Spitze der Opposition entgegen…

Hieraus entspringt Stalins Plan: den Kopf der Opposition ins Ausland zu verbannen“ (damals waren noch weitere Verbannungen in Aussicht genommen. – L. T.) „und sich somit die Hände zu lösen zur Henkersarbeit an den jungen und gewöhnlichen Oppositionellen, deren Name den Massen insbesondere im Ausland … noch nicht bekannt sind.

Eben deshalb muss man nach Verbannung der Führer der Opposition mit aller Sicherheit mit Versuchen der Stalin-Clique rechnen, so oder anders diese oder jene angeblich oppositionelle Gruppe in ein Abenteuer hineinzuziehen und im Falle eines Misserfolges, der Opposition ein – Attentat oder eine „bewaffnete Verschwörung" zu unterschieben oder zu fabrizieren …"

Diese Zeilen, geschrieben, wie gesagt, am 4. März 1929, wurden in Nr. 1-2 des „Bulletins der russischen Opposition" (Juli 1929, S. 2) veröffentlicht. Bereits wenige Monate später erschoss Stalin Bljumkin für eine Zusammenkunft mit mir in Konstantinopel und für die Überbringung meines Briefes an Genossen in Moskau. Der Brief, der rein prinzipiellen Charakter trug, war so wenig für die Erfordernisse des Amalgams geeignet, dass er von der Sowjet-Presse nicht einmal ausgenutzt wurde, die übrigens auch die Erschießung Bljumkins mit keinen einzigen Wort erwähnte.

Am 4. Januar 1930 schrieb ich hierüber;

Bljumkin ist erschossen – auf Grund einer Verordnung der GPU. Eine solche Tatsache konnte nur deshalb entstehen, weil die GPU zu einem rein privaten Organ von Stalin geworden ist. In den Jahren des Bürgerkrieges hatte die Tscheka schwere Arbeit geleistet. Aber diese Arbeit wurde getan unter der Kontrolle der Partei… Jetzt ist die Partei erstickt… Das Politbüro existiert nicht mehr… Bucharin hat bereits erklärt, dass Stalin die Mitglieder des sog. Politbüros mit Hilfe von Dokumenten in der Hand hält, die von der GPU gesammelt wurden. Unter diesen Bedingungen ist die blutige Abrechnung mit Bljumkin zur einer persönlichen Sache Stalins geworden." („Bulletin", Nr. 9, 1930, S. 8.).

Im zitierten Artikel ist zum ersten Male auf die äußerst wichtige Tatsache hingewiesen worden, die Stalin auf den Weg der blutigen Amalgame stößt:

Mit der Erschießung Bljumkins will Stalin der internationalen Opposition der Bolschewiki-Leninisten sagen, dass er im Lande hunderte und tausende von Geiseln hat, die mit ihren Köpfen die Erfolge des wirklichen Bolschewismus auf der Welt-Arena werden bezahlen müssen." (Ebenda.)

Wir haben somit vor sechs Jahren die Freunde vor der Unvermeidlichkeit der „Versuche der Stalinclique, so oder anders diese oder jene angeblich oppositionelle Gruppe in ein Abenteuer hineinzuziehen und im Falle eines Misserfolges – der Opposition ein Attentat zu unterschieben oder es zu fabrizieren…" gewarnt. Sechs Jahre lang haben diese Versuche trotz aller Anstrengungen der GPU keine Resultate gezeitigt. Das Regime der Partei und der Sowjets hat sich unterdessen progressiv verschlechtert. Bei der jungen Generation haben sich die Stimmungen verzweifelt verdichtet, bis zu Explosionen terroristischen Abenteuertums. Konnte Stalin, unter diesen Bedingungen, den Mord an Kirow für die Verwirklichung des längst gehegten Gedankens vom Amalgam unausgenützt lassen?

17. Januar.Die Morgentelegramme bringen einige Erklärungen: die Aussagen des Angeklagten Bakajew ergaben, nach den Worten der offiziellen Mitteilung, im Zusammenhang mit einigen anderen Umständen, die Möglichkeit, „die Teilnahme von Sinowjew, Jewdokimow, Kamenew und Fjodorow vom Moskauer Zentrum an der konterrevolutionären Tätigkeit festzustellen". 19 Mann, darunter die vier genannten, werden dem Kriegstribunal vorgeführt. In der Mitteilung, so wie sie von der französischen Presse wiedergegeben wurde, wird kein Wort von der Sache Kirow erwähnt. Es handelt sich um „konterrevolutionäre Tätigkeit" überhaupt. Was das bedeutet, wissen wir gut. Konterrevolution ist alles das, was nicht mit den Interessen, Ansichten, Zickzacks und Vorurteilen der bürokratischen Spitzen übereinstimmt. Aus dem Text der Mitteilung geht somit hervor, dass, als man Sinowjew, Kamenew und ihre Freunde verhaftete, es gar keine Unterlagen gab nicht nur für ihre Teilnahme an der Ermordung Kirows – diese Unterlagen gibt es selbstverständlich auch jetzt noch nicht, – sondern auch nicht für ihre Teilnahme an irgend einer oppositionellen Gruppierung. Erst jetzt, auf Grund uns unbekannter Aussagen von Bakajew, den man dazu unter Androhung der Hinzuziehung zur Sache Nikolajew festhalten musste, d. h. unter Androhung der Erschießung, ist es angeblich gelungen, die Teilnahme von Sinowjew und den anderen an einer „konterrevolutionären" Tätigkeit festzustellen. Worin sie bestand, werden wir wohl auch kaum erfahren. Höchstwahrscheinlich darin, dass sie sich im engen Kreis über Stalin beklagten, an Lenins „Testament" dachten, bürokratische Gerüchte belauschten und von einem „richtigen" Parteitag träumten, der Stalin absetzen würde. Es wird kaum etwas Ernsteres gewesen sein. Aber sie selbst stellten die Gefahr dar, unter Umständen zu einer Achse für die mit Stalin unzufriedene untere und mittlere Bürokratie zu werden. Und auf diesem Gebiet verträgt die Spitze keinen Spaß.

Immerhin ist es auf den ersten Blick unverständlich, wozu diesmal das Kriegsgericht erforderlich war? Selbst den verderbtesten internationalen Lakaien Stalins wird es nicht leicht fallen zu erklären, warum und wofür, d. h. für welche „konterrevolutionäre Tätigkeit" denn 19 alte Bolschewiki, die größtenteils an der Wiege der Partei gestanden haben, dem Kriegstribunal übergeben werden. Stalin muss doch verstehen, dass er die Saiten überspannt. Tut er es ohne tatsächliches Ziel, aus blinder Rache? Nein, das glauben wir nicht.

Der Moskauer Korrespondent des „Temps" unterstreicht, dass Sinowjew und Kamenew trotz der ganzen Kampagne der Anklagen und Hetze bisher noch nicht aus der Partei ausgeschlossen wurden. Die Zeitungen meldeten bereits ihre Verbannung. Erst gestern teilten sie unerwarteterweise ihre Vorführung vor das Kriegsgericht mit. Es ergibt sich der Eindruck, als hätte man Sinowjew und Kamenew der Folter der Ungewissheit unterworfen: „Wir können Euch in der Partei belassen, wir können Euch aber auch erschießen" Es sieht so aus, als wollte Stalin von Sinowjew und Kamenew etwas erzwingen, indem er mit ihren nicht sehr widerstandsfähigen Nerven spielt. Was kann er denn erreichen wollen? Vermutlich irgend welche „passenden", „erforderlichen", „nützlichen" Aussagen. Sinowjew, Kamenew und ihre Freunde müssen, angesichts der Drohung mit Erschießung, Stalin helfen, jenes Amalgam zu verbessern und fertigzustellen, das der allzu langsame Konsul grausam kompromittiert hatte. Ich finde keine andere Erklärung für das Kriegstribunal.

Im Jahre 1928, als ich mich in Zentral-Asien befand, verhaftete die GPU meinen nächsten Mitarbeiter, den Wirtschaftsleiter des Kriegs- und Marine-Kommissariats, G. W. Butow, und verlangte von ihm Aussagen über meine „konterrevolutionären" Vorbereitungen. Butow beantwortete dies mit einem Hungerstreik im Gefängnis der GPU; der Hungerstreik währte 50 Tage und endete mit seinem Tode. Von Bljumkin verlangte man, mit dem Revolver auf der Brust, Provokationen; er lehnte ab; da drücke man den Hahn ab. Von Bakajew und anderen verlangte man Aussagen gegen Sinowjew und Kamenew. Diese Aussagen hat man, wenn man den offiziellen Angaben Glauben schenken soll*, erhalten

Warum soll man nicht die Vermutung zulassen, dass auch von Sinowjew, Kamenew und den Übrigen, unter Androhung des Kriegsgerichts Aussagen verlangt wurden, und dass man, da man keine Resultate erzielte, die Sache tatsächlich dem Kriegsgericht übergab?

18. Januar. – Die „Humanité" vom 17. Januar bringt Auszüge aus der Anklageschrift gegen Sinowjew und die anderen. Wenn das eine „Anklageschrift" ist, so gegen das Stalin-Regime!

Wir wollen die wichtigsten Schlussfolgerungen darlegen, auf Grund dessen, was Stalin selbst veröffentlicht.

1. Die Moskauer Gruppe der Angeklagten hafte keinerlei Beziehungen zum terroristischen Akt in Leningrad. Stalin schob Sinowjew, als dem ehemaligen Führer der ehemaligen Leningrader Opposition, die politische Verantwortung für terroristische Tendenzen zu. Aber diese Tendenzen sind der bolschewistischen Partei entsprungen. Die Verantwortung dafür trägt die Führung der Partei. In diesem Sinne ist es durchaus richtig zu sagen: die politische Verantwortung für die Ermordung Kirows tragen Stalin und sein Regime.

2. Der Hauptzeuge der Anklage, Safarow, der aus irgend einem Grunde aus dem Prozess ausgesondert wurde (die Rolle dieses Subjekts in der ganzen Angelegenheit erscheint höchst rätselhaft), sagt aus, dass die „konterrevolutionäre" Tätigkeit von Sinowjew-Kamenew und den anderen besonders aktiv im Jahre 1932 war! Aber gerade für diese Tätigkeit wurden sie 1932 doch aus der Partei ausgeschlossen und verbannt. Die Sache vollzog sich in dem Augenblick, als die panische Kollektivierung, nach einer allzu langen Freundschaft mit dem Kulaken, zahllose Opfer erforderte und das Schicksal des Sowjet-Regimes buchstäblich aufs Spiel setzte. Im Lande brodelte alles und die ganze Bürokratie flüsterte, voller Befremden und Angst. Wessen klagte die Zentrale Kontroll-Kommission Sinowjew und Kamenew im Jahre 1932 an? Der Verbindung mit den rechten Oppositionellen (Rjutin u. a.). Hier ist der wörtliche Text der Anklage: „Obwohl sie von den verbreiteten konterrevolutionären Dokumenten Kenntnis hatten, haben sie es anstelle unverzüglicher (!) Entlarvung der Kulaken-Agentur vorgezogen, über dieses (?) Dokument zu diskutieren (!) und somit als direkte Mithelfer der antiparteilichen konterrevolutionären Gruppe aufzutreten." Sinowjew und Kamenew wurden somit dessen angeklagt, dass die über die rechte Plattform „diskutierten", bevor sie sie denunzierten. Dafür wurden sie ausgeschlossen. Aber nachher haben sie doch bereut (und wie!) und wurden in die Partei wiederaufgenommen. Worin bestand ihre neueste konterrevolutionäre Tätigkeit? Darüber hören wir kein Wort. Die Anklageschrift spricht von der Feindschaft der Sinowjew-Gruppe zu den Führern, von den von ihr erteilten politischen Direktiven (welchen? wann? wem?) usw., vermeidet aber sorgfältig Aufklärungen, Tatsachen, Daten. Es handelt sich offensichtlich um eben dasselbe Jahr 1932. Und der Angeklagte Safarow, der es vorgezogen hat, sich in einen Zeugen der Anklage zu verwandeln, gibt zu, dass die „Konterrevolution" von Sinowjew nach der Zerschlagung der Gruppe Rjutin einen „schleichenden" Charakter angenommen hatte, mit anderen V/orten, von der Bühne verschwunden war.

3. Die „Anklageschrift" besagt allerdings, dass Kuklin, Gertik, Jewdokimow und Scharow Beziehungen zu der Leningrader konterrevolutionären Gruppe unterhielten und „im Kampf gegen die Sowjetmacht vor keinem Mittel zurückschreckten". Leider ist keines dieses Mittel genannt worden! Desgleichen ist nicht angegeben, zu welcher Zeit diese Beziehungen vorhanden waren. Aller Wahrscheinlichkeit nach im Jahre 1932! Die Anklageschrift erwähnt mit keinem Wort die Verbindung dieser Anklagten mit Nikolajew. Die einzige politische Schlussfolgerung, die man aus der Anklageschrift ziehen kann, ist folgende: die zweite Sinowjew-Kamenewsche Kapitulation hinterließ die Leningrader sinowjewistische Jugend ohne Führung und ohne Perspektiven. Das Leben in der Partei wurde immer erstickender. Die Komintern häufte Verbrechen und Niederlagen an. Darüber zu diskutieren oder sogar offen die Frage danach zu stellen, bedeutete sofortige Verhaftung. In dieser Atmosphäre tauchte bei den radikalen, exaltierten (und von den Agenten der GPU verhetzten) Elementen der sinnlose Gedanke von der Ermordung Kirows auf.

4. Die Anklageschrift in der Sache Nikolajew versucht, wie uns erinnerlich, die Terroristen mit der oppositionellen „Plattform" des Jahres 1926 zu verbinden. Im Gegensatz dazu gibt die Anklageschrift in Sachen Sinowjew offen zu, dass die Sinowjew-Gruppe „überhaupt kein bestimmtes Programm hatte". Anders konnte es auch nicht sein. Von der Plattform des Jahres 1926 hatte die Sinowjew-Gruppe sich losgesagt; überdies – und das ist wichtig – gibt die Plattform von 1926 auf die aktuellen Fragen von heute keine Antwort. So zerreißt der letzte Faden der „ideologischen" Verbindung der Leningrader Gruppe zur ehemaligen linken Opposition.

5. Aber Sinowjew und Kamenew haben doch selbst ihre Schuld „zugegeben"? Hierin liegt gerade auch der gemeinste Teil des Prozesses. Dem Wesen der Anklage nach haben Sinowjew und Kamenew nichts zugegeben und konnten auch nichts zugeben, da es keine materielle Substanz für ein Verbrechen gab. Aber unter dem Beil des Kriegsgerichtes waren sie damit einverstanden, die „politische" Verantwortung auf sich zu nehmen, um einer Erschießung für eine terroristische Tat zu entgehen. Sinowjew bezeugt nichts, er stellt gehorsam Erwägungen über das Thema an, dass die „frühere Tätigkeit" der „ehemaligen Opposition" – auf Grund des objektiven Laufs der Dinge" – „nicht der Ausrottung dieser Verbrecher förderlich sein konnte". Sinowjew ist bereit, nicht das juristische, sondern das „philosophische" Amalgam der stalinschen Presse zuzugeben: gäbe es auf der Welt keine Opposition und Kritik, so gäbe es auch keine schädlichen Verirrungen, die jungen Leute wären gehorsam, und Terror-Akte wären unmöglich. Das ist der Sinn von Sinowjews Aussagen in der Wiedergabe der Anklageschrift.

Besonders beachtenswert ist die Aussage Kamenews. „Er bestätigte, vor 1932 an der illegalen konterrevolutionären Tätigkeit teilgenommen, zum „Moskauer Zentrum" gehört und bis zum letzten Augenblick seine Beziehungen zu Sinowjew nicht aufgegeben zu haben." Weiter nichts!!! Aber es ist doch nicht von der oppositionellen Kritik von 1932 die Rede, sondern von dem Mord von 1934. Gewiss, gewiss, aber immerhin hat Kamenew „seine Beziehungen zu Sinowjew nicht aufgegeben" (nach gemeinsamem Reuebekenntnis!!), und was Sinowjew anbetrifft, so hat er wohl seine „konterrevolutionäre Tätigkeit" aufgegeben, aber aus dem Kreis seiner ehemaligen Anhänger ging auf Grund „des objektiven Laufs der Dinge" (d. h. gänzlich ohne Willen Sinowjews) der Terrorist Nikolajew hervor.

Der Sinn dieses ekelhaften und vollkommen bewussten Wirrwarrs ist vollkommen klar. Stalin hat Sinowjew und Kamenew ein Ultimatum gestellt: sie sollten ihm selbst eine solche Formulierung geben, die seine Repressalien gegen sie rechtfertigen könnten, dann würde er die Anklage der Organisierung des Mordes an Kirow fallen lassen. Die Sinowjewsche Formulierung musste zehn Mal aus dem Gefängnis in Stalins Kabinett wandern, und umgekehrt, bis sie, nach allen erforderlichen Verbesserungen, als annehmbar akzeptiert wurde. Danach ist das Kriegsgericht inszeniert worden. So erzwingt Stalin unter Androhung stärkerer Repressalien Bekenntnisse, die die kleineren Repressalien rechtfertigen.

6. Hat Stalin eigentlich mit Hilfe des Kriegsgerichts versucht, die Arbeit des Konsuls zu ergänzen und Aussagen gegen Trotzki zu erpressen? Ich zweifle nicht daran. Einen Erfolg hat er jedenfalls nicht gehabt. Das Prinzip der Fraktion der Bolschewiki-Leninisten war immer, mit den Kapitulanten unversöhnlich zu brechen. Eine doppelte Buchführung lassen wir nicht zu. Nicht aus Loyalität gegenüber der illoyalen Bürokratie sondern aus Loyalität gegenüber der Masse. Wenn die usurpatorenhafte, durch und durch konservative Bürokratie in der Partei jede Gedankenregung erstickt hat, so können die revolutionären Marxisten nicht anders handeln, als heimlich. Das ist ihr Recht, das ist ihre Pflicht. Aber sie dürfen sich nicht lossagen von ihren Ideen und ihr Banner bespeien, wie es sie Kapitulanten tun. Wir haben seinerzeit mit den Sinowjew-Leuten ebenso entschieden gebrochen, wie voriges Jahr – mit Rakowski. Dieser völlige Bruch der Beziehungen, politischer und persönlicher, hat – ungeachtet der Hilfe des Konsuls und des Kriegsgerichtes – die erfolgreiche Entwicklung des Amalgams nach der Seite der Bolschewiki-Leninisten hin unmöglich gemacht.

7. Nichtsdestoweniger wäre es sträflicher Leichtsinn zu glauben, Stalin werde nicht wieder versuchen, uns irgendeine von der GPU vorbereitete „Sache" zu unterschieben.

Andere Methoden hat Stalin für den Kampf gegen uns nicht. Die Sache Sinowjew hat neben ihrem selbständigen Sinn noch den einer Warnung. Der Kampf um die Gesundung der Atmosphäre der internationalen Arbeiterbewegung erfordert klares Verständnis der Mechanik des Stalinschen Amalgams.

* Durchaus möglich, dass Bakajew, die gegen ihn erhobene Anklage abwehrend, erklärt hatte: „Ja, wir kamen zusammen, kritisierten das ZK, aber von Terror war überhaupt nicht die Rede." Die Worte: „kamen zusammen, kritisierten der ZK" wurden eben zur Grundlage der Anklage. Es handelt sich hierbei selbstverständlich um unsere Annahme.

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