Leo Trotzki: Was bedeutet Rakowskis Waffenstreckung? [Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der Internationalen Kommunisten Deutschlands, 2. Jahrgang 1934, Nr. 12, 2. Aprilwoche 1934 (Nr. 28), S. 2] Rakowskis Erklärung, in der er seinen Willen kund gibt, in Anbetracht der sich verschärfenden internationalen Reaktion nunmehr seine Differenzen mit der „Partei“ zurückzustellen und sich der „Disziplin“ vollständig zu unterwerfen kam für Viele wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nicht zu verwundern! Im Laufe der Jahre seiner Verbannung war der alte Kämpfer aus einer menschlichen Gestalt zu einem Symbol geworden nicht nur für die Internationale Linke Opposition, sondern für breite Schichten der Arbeiterschaft überhaupt. Das Urteil des Durchschnittslesers über Rakowskis Waffenstreckung ist: ein Sieg der Bürokratie, oder – will man die Schicht bei ihrem persönlichen Pseudonym nennen – ein großer Sieg Stalins! Zwar hat Rakowski seine Ansichten nicht für falsch erklärt und der bürokratischen Leitung keine byzantinischen Loblieder gesungen. Er hat aber jedenfalls mit seiner Erklärung bekannt, dass für den Kampf gegen die internationale Reaktion die Einstellung des Kampfes gegen die Stalinbürokratie nützlich und notwendig sei. Enthält seine Erklärung, vom rein individuellen Standpunkt aus gesehen, nichts von der ekelhaften und schamlosen Selbsterniedrigung und Selbstbespeiung. die heute zur unerlässlichsten Bedingung „bolschewistischer“ Parteitreue geworden sind, so erscheint sie auf den ersten Blick um so gewichtiger vom politischen Standpunkt aus. Es wäre aber ganz verfehlt, lediglich an den unmittelbaren Eindrücken und rein psychologischen Wirkungen des Geschehnisses zu haften. Die verdammte Pflicht und Schuldigkeit eines Marxisten ist es, den Fall Rakowski nicht als Fall an sich sondern als politisches Symptom zu werten, d.h. ihn in Zusammenhang mit den tieferen Entwicklungsprozessen zu bringen. Bereits vor mehr als einem halben Jahre schrieben wir: „Die ganz außerordentlich schwierigen Arbeitsbedingungen der russischen Bolschewiki-Leninisten schließen für sie die Möglichkeit einer führenden Rolle im internationalen Maßstab aus. Mehr noch: die Gruppierung der „Linken Opposition“ in der USSR kann sich in eine neue Partei verwandeln nur als Ergebnis eines erfolgreichen Formierens und Wachsens der neuen Internationale. Der revolutionäre Schwerpunkt hat sich endgültig nach Westen verschoben, wo die sofortigen Möglichkeiten für den Parteiaufbau unermesslich größer sind.“ („Die Vierte Internationale und die UdSSR“, S. 21). Diese Zeilen waren keine zufällige Bemerkung, sondern fassten die gesamte Erfahrung des letzten Jahrzehnts zusammen. Die russische Linke Opposition, die sich zuerst als unmittelbares Ziel gesetzt hatte, die bolschewistische Partei wiederaufzurichten und deren Politik auf das Gleis der internationalen Revolution zu leiten, ist im Kampfe erlegen. Man kann eine Niederlage erleiden, weil man eine grundsätzlich falsche Politik betreibt. Man kann auch – bei richtiger Politik – einem ungünstigen Kräfteverhältnis zum Opfer fallen. Engels hat wiederholt auf den Umstand hingewiesen, dass eine revolutionäre Partei, wenn sie eine entscheidende geschichtliche Schlacht verliert, als Organisation unvermeidlich in die Brüche geht. Man könnte dem auf den ersten Blick das Schicksal der bolschewistischen Partei entgegenhalten die trotz der Niederlage von 1905 zwölf Jahre später den größten revolutionären Sieg der Weltgeschichte errang. Bei näherer Betrachtung aber kann dieses Beispiel die Behauptung Engels' nur bekräftigen. Als Massenorganisation war die bolschewistische Partei in den Jahren 1907-1911 von der Bildfläche verschwunden Es blieben nur winzige, zerstreute, meist stark schwankende Kaderelemente, es blieb eine Tradition, es blieb insbesondere der Emigrantenstab mit Lenin an der Spitze. Die Flut von 1912-1914 brachte eine neue revolutionäre Generation auf die Beine, riss einen Teil der alten Bolschewiki aus der Lethargie heraus und schuf somit eine neue Parteiorganisation, die geschichtlich – keinesfalls aber organisatorisch – die Weiterentwicklung der alten bolschewistischen Partei darstellte. Dies Beispiel erschöpft die uns beschäftigende Frage keineswegs, bietet aber manchen Anhaltspunkt zu ihrem Verständnis. Die Linke Opposition begann mit dem Kampf um die Industrialisierung und die Agrarkollektivierung der Sowjetunion. Diesen Kampf hat sie in gewissem Sinne gewonnen darin nämlich, dass die gesamte Politik der Sowjet-Regierung seit 1928 eine bürokratisch verzerrte Anwendung der Prinzipien der Linken Opposition darstellt. Ohne dies bestünde die Sowjetmacht überhaupt schon längst nicht mehr. Die Wirtschaft der UdSSR aber bildeten nur einen, dabei untergeordneten Teil unseres Programms, dessen Schwerpunkt auf dem Felde der internationalen Revolution lag. Und auf diesem Felde hatten wir, zusammen mit dem Weltproletariat, während der letzten 11 Jahre nur Niederlagen zu buchen: 1923 in Bulgarien und Deutschland, 1924 in Estland. 1925-1927 in China, 1926 in England und Polen, 1928-1932 die fortschreitende bürokratische Entartung der Komintern, 1933 den Sieg der Nazi in Deutschland, 1934 die österreichische Katastrophe. In all diesen Ereignissen und Prozessen haben sich Analyse und Prognose der Linken Opposition schlagend, aber leider negativ bestätigt. Man lese zum Beispiel aufmerksam die beiden Romane des französischen Dichters Malraux: „Les conquérants“ und „La condition humaine“. Ohne sich über die politischen Zusammenhänge und Konsequenzen Rechenschaft abzulegen, liefert hier der Künstler einen niederschmetternden Anklageakt gegen die KominternpoIitik in China und bekräftigt auf Schlagendste in Bildern und Figuren all das, was die Linke Opposition in Thesen und Formeln schon von den Ereignissen niedergelegt hätte. Niemand wird uns diese unschätzbaren theoretischen Triumphe der marxistischen Methode streitig machen können! Aber auch im Jahre 1905 wurde nicht die marxistische Methode, sondern die bolschewistische Partei geschlagen. Die Methode hat sich später nach Jahren siegreich bewährt. Unmittelbar nach der Niederlage aber haben 99% der Kader – die Mitglieder des ZK inbegriffen – die Partei verlassen, sich in friedliche Bürger, oft auch Spießbürger, verwandelt. Nicht zufällig hat auf Grund der sozialen Errungenschaften der proletarischen Revolution in der UdSSR die nationale Reaktion gesiegt. Das Proletariat des Westens wie die unterdrückten Völker des Ostens weisen nichts als Niederlagen auf. Statt der Diktatur des Proletariats breitet sich de Diktatur des Faschismus aus. Gleich, welches die Ursache sein mag, die Idee der internationalen Revolution musste in Misskredit geraten, da die Revolution selbst sich als unzulänglich erwies. Die Linke Opposition als Vertreterin der Prinzipien der internationalen Revolution musste somit in den Augen dei Arbeitermassen der SU vorderhand ihr Vertrauen einbüßen. Das ist die eigentliche Ursache des Wachsens der Alleinherrschaft des bürokratischen Apparats in der Sowjetunion und seiner national konservativen-Entartung. Jeder russische Arbeiter fühlt auch jetzt aus ganzem Herzen mit dem Proletariat der übrigen Welt und hofft, dass es zuguterletzt siegen möge, doch die internationale Revolution als praktischer Faktor ist allmählich aus dem Gesichtskreis der russischen Arbeitermassen verschwunden. Man stützt seine Hoffnungen auf die Wirtschaftserfolge der Sowjetunion, man diskutiert leidenschaftlich unter sich die Ernährungs- und Wohnungsfragen, man wird optimistischer auf Grund einer guten Ernte – was die internationale Arbeiterbewegung betrifft, so ist sie zu einem Fach der Manuilski-Kuusinen-Losowski geworden, die niemand zu Lande ernst nimmt. Für die Geistesverfassung der herrschenden Schicht der SU ist ein Salz höchst bezeichnend, den Kirow auf dem letzten Parteitag prägte: „Wie schön es ist, heute zu leben, lässt sich kaum sagen“. Kirow ist keine zufällige Gestalt, er ist Mitglied des Politbüros und politischer Generalgouverneur von Leningrad: er hat somit in der Partei die Stelle inne, die auf der Höhe seines Einflusses Sinowjew einnahm. Dass Kirow sich über die technischen Erfolge und die Milderung der Ernährungsnot freut, ist ganz erklärlich. Es wird keinen ehrlichen Arbeiter auf der ganzen Welt geben, der sich darüber nicht freute. Das Ungeheuerliche aber besteht darin, dass Kirow nur diese nationalen Teilerfolge sieht, das ganze Feld der internationalen Arbeiterbewegung aber außer Acht lässt. Militärdiktatur herrscht im benachbarten Polen, schwärzeste Reaktion in allen anderen Nachbarstaaten. Moskau ist gezwungen, mit Mussolini „Freundschaft“ zu wahren, und das italienische Proletariat bleibt nach zwölf Jahren Faschismus noch immer vollständig entkräftet und zersetzt. Die chinesische Revolution ist in die Brüche gegangen; Japan herrscht in der Mandschurei; die Sowjetunion sieht sich gezwungen, ihm die Ostchinabahn, das wichtigste strategische Instrument der Revolution im Osten, auszuliefern. In Deutschland haben die Nazi kampflos gesiegt und kein bürokratischer Gauner oder Gaukler wird mehr wagen, diesen Sieg für eine „Beschleunigung“ der proletarischen Revolution auszugeben. In Österreich liegt das Proletariat entblutet, zertreten, in Ketten am Boden. Die Komintern ist rettungslos kompromittiert, zum Hemmschuh der Revolution geworden. Trotz ihren Verbrechen wird die Sozialdemokratie wieder zur ungleich stärksten Partei der Arbeiterklasse und bereitet in allen „demokratischen“ Ländern der faschistischen Sklaverei den Weg. Thälmanns Politik wird in Frankreich von Thorez fortgesetzt. Während in Deutschland die Elite des Proletariats in Konzentrationslagern und Zuchthäusern schmachtet, arbeitet die Kominternbürokratie wie unter einer Decke mit der Sozialdemokratie daran, ganz Europa, .ja, die ganze Welt zu einem faschistischen Konzentrationslager zu machen. Und Kirow, Mitglied der leitenden Körperschaft des ersten Arbeiterstaats der Welt, gesteht, es gebräche ihm an Worten, die Schönheit auszudrücken, heute zu leben. Ist das etwa einfach Dummheit? Nein, der Mann ist nicht dumm; und dann bringt er nicht nur die eigenen Gefühle zum Ausdruck. Sein geflügeltes Wort wird von allen Sowjetblättern wiederholt und gepriesen. Redner wie Zuhörer vergessen einfach die ganze Welt; sie handeln, denken, fühlen nur russisch. und selbst in diesem Rahmen nur bürokratisch. Die Kapitulationserklärungen Sosnowskis und Preobraschenskis widerspiegeln denselben Geist. Sie verschließen die Augen über das Weltproletariat. Das allein ermöglicht ihnen, sich mit der nationalen Perspektive der Sowjetbürokratie auszusöhnen. Und sie suchen Versöhnung. Sie brauchen sie, denn in den aufeinanderfolgenden Stürmen proletarischer Katastrophen im Westen sehen sie keinen Stützpunkt, keinen Hebel, keine große geschichtliche Möglichkeit. Nach Hitlers Sieg, der die Vorgeschichte der Vierten Internationale („Linke Opposition“) zum Abschluss brachte. war es für uns, in Deutschland wie in Europa überhaupt, nicht leicht – das ist das Gesetz der Trägheit, das auf allen Gebieten waltet – zu begreifen, dass es nunmehr galt, neue proletarische Parteien im schonungslosen Kampf gegen die alten aufzubauen. Wären wir aber diesen Weg nicht rechtzeitig gegangen, so würde die Linke Opposition nicht nur nicht aus der Vorgeschichte in ihre eigentliche Geschichte hinausgetreten, sondern von der politischen Bildfläche überhaupt verschwunden sein. Um wie viel schwieriger ist es aber für einen alten Kader der Linken Opposition in der UdSSR, verstreut. isoliert, nicht oder – noch schlimmer – systematisch falsch informiert, sich auf den neuen Weg zu begeben. Rakowski ist ein großes revolutionäres Temperament, ein Charakter, ein klarer Kopf. Vergöttern aber soll man niemanden. Auch Rakowski ist nur ein Mensch, und. jahrelang vollständig getrennt von den großen geschichtlichen Perspektiven, welche die Kader der Vierten Internationale beseelen, hat das „Menschliche“ in diesem Menschen die Oberhand gewonnen. Damit wollen wir Rakowski gar nicht entschuldigen. Erklären heißt für Kämpfer nicht verzeihen, es heißt nur die revolutionäre Selbstsicherheit stärken. Die Gleichschaltung vollzog sich jahrelang nach unten, vom revolutionären Internationalismus zum Nationalreformismus, von Lenin zu Kirow. Somit ist der Sieg über Rakowski nur des grellste Symptom der Erniedrigung und Zerschmetterung des Marxismus in dem Lande, das dank dem Marxismus zum Arbeiterstaat wurde. Eine merkwürdige Dialektik, eine bittere Dialektik, aber sie ist eben da, und mit einem geistigen Purzelbaum ist ihr nicht zu entrinnen. Rakowskis Erklärung ist ein Ausdruck der subjektiven Aussichtslosigkeit und des Pessimismus. Ohne ein Härchen Übertreibung lässt sich sagen, Stalin hat Rakowski mit Hitlers Hilfe gekriegt. Das bedeutet aber, dass Rakowskis Weg nur in das politische Nichts-sein führt. Sein Beispiel kann noch ein Dutzend oder mehr jüngere Gefangene mitreißen. Im Bereich der Internationalen Politik des Proletariats wird das nichts ändern. In Rakowski beklagen wir einen verlorenen politischen Freund. Wir fühlen uns aber durch sein Ausscheiden aus dem Kampf nicht geschwächt, denn es bekräftigt persönlich zwar tragisch, doch politisch unerschütterlich unsere grundsätzliche Einstellung, Als revolutionärer Faktor ist die Komintern tot. Von der Moskauer Leitung kann das Weltproletariat nur mehr Hemmnisse, Schwierigkeiten und Sabotage erwarten. Die Lage ist in noch nie dagewesenem Maße schwer, doch beleihe nicht ausweglos, denn unsere Schwierigkeiten sind nur die durch die beiden Bürokratien umgewandelten Schwierigkeiten des Weltkapitalismus. Zwei Proteste laufen nebeneinander, ineinander, durcheinander: auf der einen Seite die Zersetzung der alten Gebilde, das Aufgeben des alten Glaubens. Kapitulationen vor Hitler und als Schatten dazu Kapitulationen vor Stalin, auf der anderen aber das Erwachen der Kritik, fieberhaftes Suchen nach einem großen revolutionären Weg, das Sammeln der Kader der Vierten Internationale. Die leninistische Richtung in der Sowjetunion nunmehr nur durch große revolutionäre Erfolge im Westen wiederbelebt werden. Diejenigen russischen Bolschewiki. die auch weiterhin unter dem unerhörten bleiernen Druck der nationalen Reaktion unserer Sache treu bleiben – und ihrer sind sicher viel mehr als wir vermuten – werden durch den weiteren Gang der Entwicklung belohnt werden. Aber das Licht wird jetzt nicht vom Osten, sondern vom Westen kommen. Auch die schändlich verratene chinesische Revolution wartet auf neue Impulse seitens des Weltproletariats. Wir haben keine Zeit über verlorene Freunde – und seien es auch die Genossen eines dreißigjährigen Kampfes – lange zu klagen. Möge jeder Bolschewik sich sagen: „ein sechzigjähriger Kämpfer mit Erfahrung und Autorität hat unsere Reihen verlassen, ich muss an seiner Stelle drei Zwanzigjährige gewinnen, und die Lücke wird ausgefüllt sein“. Unter diesen Zwanzigjährigen werden sich neue Rakowskis finden, die mit uns oder nach uns unsere Sache weiterführen werden. Leo Trotzki 31. März 1934 |
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