Leo Trotzki: Gegen Zentrismus auf der Jugendkonferenz [eigene Rückübersetzung nach Writings of Leon Trotsky: Supplement (1929-33), S. S. 448-454] Lieber Freund: Ich habe gerade die Diskussionsthesen des SJV von Holland gelesen. Der Eindruck ist sehr trist. Wenn es ein Dokument der jungen Leute selbst wäre, könnte man mangelnde theoretische und politische Reife annehmen und das Dokument könnte aus einem rein pädagogischen Blickwinkeln betrachtet werden. Leider macht es den Eindruck, es sei von einem unverbesserlichen Zentristen (einem zweieinhalbfachen) geschrieben, der sich hier und da mit allgemeinen, abstrakten und radikal klingenden Formeln abdeckt. Ich kann das Dokument keiner vollständigen Kritik unterziehen, weil jeder Satz Kritik herausfordert. Ich werde nur die wichtigsten zentristischen und schlimmsten Beispiele herauspicken: 1. „Unverzügliche nationale und internationale Entwaffnung“ (Seite 2). Dieser pazifistisch-kautskyanische Slogan hat nichts mit Marxismus zu tun. 2. „Die Mängel der demokratischen Republik und die schweren Fehler der Kommunistischen Parteien und Sozialdemokratie“ (Seite 2) werden zur Ursache für den Faschismus erklärt. Nicht der Klassencharakter der kapitalistischen Republik, sondern ihre Mängel! Nicht die reformistisch-imperialistische Führung der Sozialdemokratie und nicht die bürokratisch-zentristische Orientierung der Komintern, sondern ihre „Fehler“. Aber wirkliche Marxisten machen auch Fehler. Die Reihenfolge ist auch interessant: erst die Kommunistischen Parteien und erst dann die Sozialdemokratie. 3 Die Charakterisierung der Zweiten Internationale (Seiten 4 und 5) ist teilweise unzulänglich und teilweise falsch. Die Sozialdemokratie wird nur als reformistische Partei charakterisiert, wobei der Reformismus als „unzulänglich“ vom Standpunkt der sozialen Revolution definiert wird. Es wird nicht erwähnt, dass sich die Arbeiteraristokratie und ihre Bürokratie in den kapitalistischen Staat integriert haben und – was sogar noch wichtiger ist – das der Niedergang des Kapitalismus den Boden unter den Reformen völlig beseitigt hat. Das war es in der Tat, was dem Niedergang der Zweiten Internationale vorausging. 4. Noch schlimmer ist die Charakterisierung der offiziellen Kommunisten (Seiten 5 und 8). Kein Wort über ihre politische Orientierung, über die Richtung ihrer politischen Linie, d.h. bürokratischen Zentrismus, der sich, getrieben von unglaublichen Widersprüchen, auf dem schärfsten Zickzackkurs entwickelt. Offensichtlich gibt es keinerlei Erwähnung der sozialen Grundlage des bürokratischen Zentrismus. Alles wird auf typisch brandlerianische und lovestoneianische Art erklärt, indem gesagt wird, dass die Linie von Moskau diktiert wird und das von Moskau aus nicht alle Dinge richtig eingeschätzt werden können: daher die „Fehler“. Aber warum diese „Fehler“ in allen Ländern den selben Charakter haben und warum sich zwei Oppositionsströmungen gegen diese „Fehler“ entwickelten, die Rechte und die Linke, die auch international im Charakter sind – diese Frage existiert für den Autor der Thesen nicht. Das einzige Anzeichen für eine politische Erklärung besteht aus der Erwähnung, dass die Komintern von den „Interessen“ der Sowjetunion geleitet sei. So wird – in Übereinstimmung mit Brandler – zugestanden, dass die Komintern die Interessen der Sowjetunion richtig verstehe und verteidige. Was über das schlechte Komintern-Regime gesagt wird, ist idealistisch und menschewistisch. Das Regime wird als ein Ding an sich betrachtet, nicht als Ausdruck des Konflikts zwischen der politischen Orientierung (bürokratischer Zentrismus) und den historischen Interessen des Proletariats, einschließlich der Interessen der Sowjetunion. 5. Das Kapitel über die Einheitsfrontpolitik könnte von Balabanowa, Paul Louis etc. geschrieben sein. Die Einheitsfront wird mit dem Argument unterstützt, dass „trotz vieler taktischer Unterschiede“ in praktischen Fragen Einheit notwendig sei. Als ob die Marxisten von Reformisten und Stalinisten durch „taktische Unterschiede“ getrennt wären. Es müsste heißen: trotz unversöhnlicher prinzipieller Unterschiede in Programm und Strategie wird die Einheitsfront in vielen taktischen Fragen der Arbeiterklasse durch den Klassenkampf aufgezwungen. Was folgt, ist noch schlimmer. Der „moralische“ Niedergang des Proletariats wird auf philisterhaft-sentimentale Weise durch „die Spaltung [der Zweiten Internationale] und den sich daraus ergebenden Bruderkampf“ erklärt. Als wenn nicht im Gegenteil die Spaltung die proletarische Vorhut aus der Verzweiflung des Sozialimperialismus herausgezogen hätte. Die Einheitsfront wird weiter verteidigt mit Argumenten über die „höchsten Gefühle“ und ähnliches Zeug. Es scheint wie eine Dissertation der vormarxistischen Wahren Sozialisten. „Die Kommunisten anerkennen nicht das Prinzip der Loyalität und Treue“ (Seite 8) so wird bewiesen, dass die Kommunisten die Einheitsfront nicht an sich unterstützen, sondern egoistische Ziele der Vergrößerung ihres eigenen Einflusses verfolgen. Die Frage könnte nicht auf lächerlichere Weise gestellt werden. Als wenn es nicht das Recht und die Pflicht jeder Partei wäre, zu versuchen, die Arbeitern mit den Mitteln der Einheitsfront zu sich heranzuziehen. Als wenn es nicht die unbedingte Pflicht der revolutionären Partei wäre, im Verlauf der Einheitsfront die verräterischen Schufte der Sozialdemokratie und die jämmerlichen zentristischen Scharlatane zu entlarven und zu kompromittieren. Man kann den Stalinisten nur einen Dienst leisten, wenn man sie wie Wels, Leon Blum, Tranmæl und andere Verräter beschuldigt, sie versuchten „ihren Weg in andere Organisationen hinein zu intrigieren.“ Das ist die Stimme der erschreckten Zentristen, nicht der Marxisten. Wir beschuldigen die Stalinisten, dass sie sich mit ihrer grundlegend falschen politischen Linie als unfähig zur Spaltung der Sozialdemokratie, zur Kompromittierung ihrer Führer und zum Heranziehen der Massen zu sich erwiesen haben. Der ganze zusätzliche Unsinn (Seite 9 und 10) über die „ehrenwerte“ und „loyale“ Einheitsfront ist idealistisch und menschewistisch. Nichts wird über den Inhalt der Politik gesagt, nur die abstrakte Form der Einheitsfront wird gelobt. Dies erlangt kein zusätzliches Gewicht dadurch, dass es mit ethischem Geschwätz bedeckt wird. Zu viel Gerede über abstrakte Moral ist immer ein schlechtes Zeichen: Klassenmoral kann sich nur aus richtiger revolutionärer Klassenpolitik entwickeln. Sie sind keine unabhängige höhere Einheit, die im Sinne der Kantianer die gesellschaftliche Wirklichkeit in der Gewalt hat. 6. Das Kapitel „Haltung gegenüber der Sowjetunion“ (Seiten 10 bis 13) ist äußerst liederlich, rein beschreibend und voller kleiner und großer Fehler. So beginnt der Abschnitt zum Beispiel, indem er die Oktoberrevolution als einer sozialen Umgestaltung den bürgerlichen Revolutionen gegenüberstellt, „die nur politische Umgestaltung anstreben“. Eine völlig falsche liberal-konservative Ansicht! Die wirklichen bürgerlichen Revolutionen waren auch gesellschaftlich: sie gestalteten feudale Eigentumsverhältnisse in bürgerliche um, während die Oktoberrevolution bürgerliche Wirtschaftsverhältnisse in sozialistische verwandelt hat. Die wirklichen Widersprüche der Sowjetwirtschaft, auf die die Linke Opposition seit langem im Detail hingewiesen hat, erscheinen in diesem Dokument auf völlig verbogene und verwirrte Weise. Hin und wieder bezieht sich der Autor auf das „Fiasko“ der Sowjetwirtschaft, was völlig falsch ist. Das ganze Kapitel läuft auf eine klägliche Anklage gegen die Sowjetunion hinaus, weil sie den Wirtschaftsboykott gegen Deutschland nicht unterstützte. Als ob größere und wichtigere Sachen nicht erwähnt werde sollten. Die OSP versuchte, die Boykottbewegung auf sehr oberflächliche und falsche Weise einzuleiten und hat offensichtlich in diesem Bereich ein Fiasko erlitten und will sich jetzt abschirmen durch eine völlig oberflächliche und sogar falsche Kritik an der Sowjetpolitik. 7. Zur Kolonialpolitik (Seite 13) stellen die Thesen fest, das die unterdrückten Völker „keinen anderen Weg zu ihrer Befreiung haben als unerbittlichen Kampf, einschließlich passivem Widerstand und Aufstand“. Trotz der besten Absichten erscheint der Zentrismus in diesem Satz auf das offensichtlichste. „Unerbittlicher Kampf“ schließt den passiven Widerstand nicht ein, sondern vielmehr aus. Es braucht nicht gesagt zu werden, dass wir auch passiven Widerstand gegen die imperialistischen Truppen verteidigen. Aber gleichzeitig prangern wir vor den kolonialen Massen die verräterischen Aspekte des Gandhiismus an, dessen Aufgabe die Verzögerung des Kampfes der revolutionären Massen und seine Ausbeutung im Interesse der „nationalen“ Bourgeoisie ist. 8. Das Kapitel über die Jugendorganisation ist sehr dünn – obwohl es um eine Jugendkonferenz geht! Aber in prinzipiellen Fragen ist das Kapitel auch in vielen Punkten falsch. Als gesellschaftliche Basis für die Organisation wird die „arbeitende, arbeitslose und studierende Jugend“ genannt. Wieder rein beschreibend, nicht sozial. Für uns ist es eine Frage der proletarischen Jugend und jener Elemente unter den Studenten, die dem Proletariat zuneigen. Arbeitende, arbeitslose und studierende Jugend sind für einen Marxisten keineswegs gleichwertige Glieder in der gesellschaftlichen Kette. Laut den Thesen kämpft die Jugendorganisation im Bereich der Kultur „gegen die kapitalistisch-bürgerliche ,Bildung' und für die proletarische Kultur“. Abstrakt, rhetorisch, idealistisch und leer! Gegenwärtig umfasst die bürgerliche Kultur den unschätzbaren Reichtum der positiven Wissenschaften. Das Ziel der Arbeiterklasse ist, sich diesen Schatz anzueignen. Im „Bereich der Kultur“ kann das nur auf höchst unvollkommene Weise geschehen. Nur durch die proletarische Revolution wird das Proletariat Zugang zu diesen Schätzen der bürgerlichen Kultur erlangen, um auf dieser Grundlage – durch die Beseitigung aller Fälschungen – eine neue sozialistische Kultur zu schaffen. Was „proletarische Kultur“ in dieser Verbindung wirklich bedeuten soll, ist nicht klar, besonders weil sie abstrakt der bürgerlichen Kultur als Ganzem entgegengestellt wird. Dass die Jugend ihre „geschichtliche Aufgabe“ „hauptsächlich (!) durch die Propagierung der Einheitsfront“ erfüllen soll, ist bis zur Verzweiflung falsch. Die Einheitsfront ist nur eine taktische Begleiterscheinung des revolutionären Kampfes. Die Jugend hat sich „hauptsächlich“ auf die bittersten Kämpfe vorzubereiten – Abwehrkämpfe gegen den Faschismus und Angriffskämpfe gegen den Kapitalismus. Weiter (immer noch Seite 14) wird gesagt, dass die revolutionäre sozialistische Jugend mit der OSP zusammenarbeiten soll. Gilt das für die Internationale Jugend … schließlich sollen die Thesen einer internationalen Konferenz als Diskussionsgrundlage unterbreitet werden. Warum ist nur die OSP erwähnt, d.h. gerade die Partei die bis heute keine Zeit hatte, eine klare und strategische Haltung einzunehmen? 9. Die Bedingungen für Mitgliedschaft in der neuen Internationale (Seite 16, 17) sind völlig unzureichend und teilweise falsch Die Pariser Erklärung der Vier steht in ihrer Präzision weit über der verwirrten sechs Punkten des hier kritisierten Dokuments. Die ersten zwei Paragraphen sind in dieser allgemeinen Version sehr gewöhnlich und allgemein anerkannt – auch durch Wels und Manuilski. Der dritte Paragraph fordert de Ablehnung von Reformismus und Stalinismus. Reformismus ist für Marxisten ein sehr konkreter Begriff. Was die Thesen mit Stalinismus meinen, ist leider unverständlich. Der vierte Paragraph über die „ehrenwerte“ Einheitsfront ist völlig ungenau und nach dem oben gesagten sogar gefährlich, weil er gegen den „Bruderkampf“ und gegen Spaltungen gerichtet ist und so in keiner Weise in der Lage ist, die Gründung einer neuen Internationale zu erklären. Der fünfte Punkt spricht für die proletarische Revolution und die Diktatur des Proletariats. Nichts über die Erlangung der Macht und nichts über Arbeiterräte als die geschichtlich bestimmte Form der Organisierung der Arbeiterklasse für die Machteroberung und -ausübung. Punkt sechs redet von der „Verteidigung eines wahrhaft proletarischen Staates“. Was bedeutet das? Es ist eine sehr konkrete Frage, ob wir die Pflicht zur Verteidigung der UdSSR wie sie ist anerkennen, oder? Diese Frage von Leben und Tod wird durch das Gerede über einen wahrhaft revolutionären Staat vermieden. Diese Kritik ist für unsere Genossen (Internationalisten-Kommunisten) bestimmt, um ihnen die Aufgabe der öffentlichen Kritik leichter zu machen. Meiner Meinung nach sollten unsere Delegierten ihre Kritik in ruhiger, propagandistischer, pädagogischer Weise bringen, natürlich ohne bei Prinzipien die kleinsten Zugeständnisse zu machen. Es ist sehr gut, dass die OSP (de Kadt?) die Unklugheit hat, diese verwirrten und widersprüchlichen Thesen vorzulegen. Die ganze Konferenz sollte der Kritik dieser Thesen und Gegenvorschlägen für jeden Satz gewidmet sein. Für diese Gegenvorschläge empfehlen wir: a. die Elf Punkte der Linken Opposition; b. die Vierererklärung; c. die Thesen gegen den Krieg; d. die Thesen über die UdSSR (zwei Broschüren); e. die für die Konferenz neu entwickelten Dokumente Unsere Delegierten sollten die besten Formulierungen aus der oben erwähnte Literatur der IKL herauspicken und sie als Gegenvorschlag zu den Formulierungen der Thesen zur Diskussion stellen. Diese Arbeit sollte jetzt gemacht werden, im Voraus, so dass unsere Delegation sich in jedem Moment als bereit erwiesen kann. Die alten Philister werden ihre jungen Leute gegen uns hetzen, weil sie sich durch unsere Kritik beleidigt fühlen werden. Unsere Freunde müssen sehr höflich und freundlich in ihren Antworten an die jungen Leute sein: wir üben nur das Recht auf gegenseitige Kritik aus, von dem in den Thesen so pompös die Rede ist (z.B. S. 16). Das einzige Positive an diesen Thesen ist, dass sie sich deutlich für eine neue Internationale erklären und sich so scharf den Reformisten und ebenso den Stalinisten entgegenstellen. Wir müssen das gegen die NAP, gegen die Führer der ILP etc. nutzen. In diesem Punkt dürfen keine Zugeständnisse gemacht werden. Wenn die Leute der OSP die neue Internationale aufgeben, um ihre „ehrenwerte, loyale Einheitsfront“ mit Tranmæl und Fenner Brockway herbeizuführen, dann müssen wir gegen die Thesen stimmen und eine starke Protesterklärung machen: den Arbeitern nicht offen zu sagen, dass ihre Rettung in der Schaffung einer neuen Internationale liegt, bedeutet die Arbeiter zu betrügen. Wenn wir Verbesserungen in allen Hauptfragen durchbringen können, können wir für die Thesen stimmen mit einer Erklärung, in der wir die Schwachpunkte und Mängel auf allgemeine Weise erwähnen. In jedem Fall müsse sich unsere Delegierten ihre endgültige Entscheidung für nach dem Treffen der internationalen Kommission der Internationalistisch-Kommunistischen Jugend vorbehalten. Die Frage der NAP wird (muss) eine große Rolle in der Diskussion spielen, zusammen mit der Frage des Londoner, jetzt Amsterdamer Büros. Unsere Delegierten müssen in diesen Frage sehr gut bewaffnet sein. Jemand sollte sich darauf spezialisieren. Ein paar Dokumente, die sich auf die NAP beziehen, sind beigelegt. Genosse Glotzer versprach, diese Dokumente nach der Konferenz zurückzubringen. PS: Es ist am besten, die Prinzipienerklärung der vier Organisationen den sechs Mitgliedsbedingungen der neuen Internationale gegenüberzustellen. Wenn die SAP und die OSP da ablehnen, werden sie sich nur schwer kompromittieren. Aber es wäre am besten, sie im Voraus dafür zu gewinnen. PPS:. In dem ganzen Dokument ist das Wort „Zentrismus“ kein einziges Mal erwähnt. Das ist sehr charakteristisch und muss besonders hervorgehoben werden. Konsequenter Reformismus wagt es in diesen Tagen nicht, offen aufzutreten. Wels, Hilferding, Blum, de Man geben den Bankrott des Reformismus zu, zumindest in Worten. Alle verstecken sich hinter einer pseudorevolutionären, d.h. zentristischen Haltung oder zumindest Ausdrucksweise. Der Zentrismus herrscht heute fast auf dem ganzen Feld der Arbeiterbewegung vor. Der Zentrismus ist das, wogegen wir jetzt kämpfen müssen. Warum erwähnen die Thesen das Bestehen und die Gefahren des Zentrismus nicht? Weil sie selbst innerhalb des Rahmens des Zentrismus sind. |
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