Leo Trotzki: Einige Bemerkungen zur Wendung der französischen Ligue [Nach Unser Wort, Wochenzeitung der Internationalen Kommunisten Deutschlands, 2. Jahrgang, Nummer 34 (50), Mitte Oktober 1934, S. 4] 1.) Die Wendung in Frankreich hat eine leidenschaftliche und lang dauernde Diskussion hervorgerufen. Nichts, was natürlicher wäre. Wir lernen an der Erfahrung und wir analysieren unsere Erfahrung mit der marxistischen Methode. Nur die internationalen Bolschewiki-Leninisten können sich eine derartige Diskussion gestatten. Die kleinen Hasenfüße der SAP, die gestern mit dem elenden de Kadt gegen uns gemeinsame Sache machten reden von unserer «Zersetzung»!* Wir haben eine ideologische Tradition. Wir haben ein klar umrissenes Programm. Wir geben auf jede Frage klare Antworten. Die vorher nicht verabredeten Antworten unserer Sektionen stimmen im Wesentlichen überein. Das heißt, wir haben geschulte Kaders. Schließen wir Blocks mit andere Organisationen, geht sogar eine unserer Sektionen in die Sozialistische Partei, so tun wir es stets im Namen unserer Prinzipien, die sich als unwiderleglich erwiesen haben und die wir der Lage jedes Landes entsprechend anwenden lernen und lernen werden. 2.) Unsere interne Diskussion muss jetzt aus dem Stadium der Perspektiven, Annahmen und Vorschläge in das Stadium der Analyse der Anwendung treten. Man soll die jüngste Erfahrung unserer französischen Sektion studieren. Die Erfahrung ist noch recht kurz, aber sehr wichtig. Bereits der erste Schritt auf dem neuen Wege beweist die ganze Falschheit der von den Gegnern des Eintritts erhobenen Einwände. Darum müssen eben diese täglich ihre Argumente wechseln und sogar das Diskussionsterrain verschieben, ganz zu schweigen von den «Unbeugsamen», die bereits in die Sozialistische Partei eingetreten sind, um uns dort zu bekämpfen. 3. ) Wie sagten die Gegner, die sich nur von ideologischen und politischen Erwägungen leiten ließen? Nehmen wir das Dokument, welches die Stellungnahme der Mehrheit der belgischen Sektion enthält. Dort lesen wir: «Wie soll man sich vorstellen, dass wir in die SFIO eintreten könnten als selbständige politische Fraktion, die ihr Banner und ihr Organ beibehält? Heißt das nicht das Vorhandensein und die Stärke der SFIO-Bürokratie außer Acht lassen? Die Geschichte der linken sozialistischen Gruppierungen lehrt uns doch, dass die sozialdemokratischen Parteien es sich nicht mehr leisten können, dass sich in ihrem Schoße revolutionäre Fraktionen entwickeln. Wir fragen die belgischen Genossen: «Habt Ihr die Sondernummer (No. 4) des Combat des Jeunes und die Nummer 220 der Vérité gelesen? Wenn der Ausdruck «Eintritt mit entfaltetem Banner» einen Sinn hat, so stellen Combat des Jeunes und die Vérité sehr wohl dieses entfaltete Banner dar, und trotzdem hat der Populaire vier Mal Anzeigen für die Vérité gebracht und allen Genossen von uns war es möglich, in der SFIO aufgenommen zu werden. So eine Tatsache wäre weder in Belgien noch in Holland noch in vielen anderen Ländern möglich. Sie erklärt sich durch die augenblickliche Lage der sozialistischen Partei in Frankreich. Der Grundfehler in dem belgischen Dokument besteht darin, dass es eine Abstraktion der Sozialdemokratie nimmt, unabhängig von Zeit und Raum, anstatt zu analysieren, was wirklich in der SFIO vor sich geht. Lest nochmals die oben zitierte Stelle, und Ihr werdet davon überzeugt sein. In dem ganzen dem Beitritt zur SFIO gewidmeten Dokument steht nicht ein Wort über die Besonderheiten dieser Partei oder ihren augenblicklichen Zustand im Vergleich, beispielsweise, mit der Belgischen Arbeiterpartei (POB). 4.) Die Gegner sagten: «Der Beitritt zur SFIO bedeutet fast automatisch das Aufgeben der Losung von der IV. Internationale, Man lese den Combat des Jeunes und die Vérité! Unsere Sektion ist in die SFIO eingetreten, um dort für die IV. Internationale zu kämpfen. 5. ) Mit der Sozialdemokratie ah Ideen- und Aktionssystem ist für uns nicht die geringste Versöhnung möglich. Aber dieses Ideensystem ist in lebendigen Organismen verschieden vertreten. Unter gewissen Bedingungen beginnen sie zu zerbröckeln. Das System als solches bricht zusammen. Es wird ersetzt durch den Kampf der verschiedenen Strömungen und dieser Kampf kann eine Lage schaffen, die unsere unmittelbares und sofortiges Eingreifen und selbst unseres organisatorischen Beitritt zur Sozialistischen Partei erfordert. 6.) Das belgische Dokument sieht ausschließlich das «Ideensystem» und nicht den lebendigen Körper der Arbeiterorganisationen. Dieser Grundfehler zeigt sich auch in der Art, wie das Dokument die russische Erfahrung heranzieht: «Die Befürworter des Eintritts in die SFIO scheinen zu vergessen, dass der Bruch zwischen den beiden Grundtendenzen der Arbeiterbewegung sich 1903 in der russischen Sozialdemokratie vollzog…» Das ist eine der Methode nach mechanische und dem Inhalt nach falsche Auffassung. Für die Verfasser des Dokuments sieht es so aus, dass es nach der Spaltung von 1903 zwei absolute Substanzen gab: den Bolschewismus und den Menschewismus, die sich auf zwei verschiedenen Ebenen des Äthers entwickelten. Das ist reine Metaphysik. Die Geschichte des Kampfes des Bolschewismus gegen den Menschewismus ist an Lehren wahrlich reich. Leider bedient sich das Dokument ihrer in einseitiger, abstrakter, formalistischer Weise. 7.) Die Geschichte blieb beim Jahre 1903 nicht stehen. Die Spaltung stellte sich als verfrüht heraus, d.h. als in keinem Verhältnis zur objektiven Lage und zur Mentalität der Massen, und die Bolschewiki mussten sich Ende 1905 mit den Menschewiki wieder vereinigen. Doch hier unterbricht uns das Dokument: «Es ist gleichwohl wahr, das; es 1905-1906 unter dem Druck der nach Einheit lechzenden Massen zu einer Verbündung der Bolschewiki mit den Menschewiki kam. Unserer Ansicht nach ist ein Bündnis zweier Fraktionen der Arbeiterbewegung gleichbedeutend mit Einheitsfront. Folglich ist dieser geschichtliche Hinweis nicht glücklicher als der erste (betreffs Marx)». Es tut mir sehr leid, sagen zu müssen, dass dies eine Entstellung der russischen Erfahrung ist. Es handelte sich nicht um ein Bündnis oder um Einheitsfront, sondern um die Verschmelzung der beiden Parteien, die auf dem Stockholmer Kongress (1906) besiegelt wurde, und diese vereinigte und zugleich vom Fraktionskampf zerrissene Partei bestand bis 1912, d.h. 6 Jahre lang. Woher rührt dieser Fehler? Aus der Tatsache, dass die Verfasser des Dokuments sich nicht einmal vorzustellen vermögen, dass die beiden absolut unversöhnlichen «Substanzen» sich (nach der Spaltung von 1903) wieder nähern und zusammen in einer Partei herbergen konnten. Der historische Fehler ist das Produkt der metaphysischen Methode. 8.) Man hat versucht, uns mit der Perspektive zu schrecken, dass der Beitritt «von den Stalinisten gründlichst ausgenützt» würde (Dokument der belgischen Mehrheit). Wir erwiderten: «Die Stalinisten, die sich mit der sozialistischen Bürokratie verbrüdern, werden, zumindest nicht vor neuer Order, uns des Verrats, des Überlaufens zum Reformismus usw. nicht bezichtigen können». Die Tatsachen haben uns Recht gegeben. Natürlich greifen die Stalinisten uns an, aber nicht als Helfershelfer des Reformismus, sondern im Gegenteil als Zersetzer der Sozialistischen Partei. Sie warnen, die jungen Sozialisten «brüderlich» vor unseren teuflischen Schlichen (L'Avantgarde). Das heißt, die Stalinisten sind es, die gegen uns als Helfershelfer, ja als Lakaien der reformistischen Bürokratie sich betätigen, und nicht als revolutionäre Ankläger. Wenn man dieser Bestätigung für die Richtigkeit unserer Wendung noch bedurfte, in den Spalten der stalinistischen Presse wäre sie zu finden. 9.) Wer spielt den revolutionären Ankläger? Die Bordigisten u. Co. Mit ihnen ist es sehr einfach. Sie sprechen bloß im Namen der Ewigkeit. Sie erklären sich, wenn ich nicht irre, immer noch als Fraktion der III. Internationale. Was bedeutet das? Nichts. Ebenso gut könnten sie sich als Fraktion der Heilsarmee erklären. Es wäre wahrhaftig verlorene Mühe, diesen vorzeitig Verstorbenen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Die Gedanken, das Sehnen und die Kritik eines einfachen Mitglieds der Jungsozialistischen Garde Belgiens sind hundertfach wichtiger für unsere Orientierung und unsere Methoden als der gelehrte Galimathias des «Bilan». 10.) Es gilt die Erfahrung zu studieren. Die Sozialistische Jugend Frankreichs hat unsere Genossen mit ihrem Combat des jeunes mit offenen Armen aufgenommen. Sie haben ihnen die Organisationaltersrechte auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur Leninistischen Jugend gewährt. Der bürokratische Apparat hat diesen Beschluss als gegen die Statuten rückgängig gemacht. Die Sektionen der Sozialistischen Jugend mussten sich mit einer Protestresolution fügen. Diese bezeichnende Tatsache beweist, dass die Einschätzung, die die Mehrheit der Liga von den Beziehungen zwischen Basis und Apparat hatte, mindestens in Bezug auf die Jugend durch die Tatsachen bestätigt ist. 11.) Heißt das, dass alles gesichert ist? Weit davon entfernt. Nicht wenig Schwierigkeiten sind geschaffen worden durch die Intrigen und Verleumdungen seitens der zügellosen Elemente der Minderheit, die die Liga in den Augen der Sozialisten anzuschwärzen versuchen. Aber darin besteht die Frage nicht. Diese Leute, die von einem Extrem ins andere fallen, zeigen nur ihre Leerheit und liquidieren sich selbst. Es gibt wichtigere Faktoren, die sich gegen uns wenden können. Die Lage in der und um die SFIO kann sich ändern. Die Bürokratie kann radikal loslegen und die unsrigen davon jagen. Selbst wenn dies morgen schon gelänge, was unglaubhaft ist, halten wir bereits beachtliche Gewinne zu verzeichnen: die Liga ist auf die Massen orientiert, die Vorurteile eines selbst genügsamen und unfruchtbaren Sektierertums sind entlarvt, die Verbindungen zu den besten sozialistischen Elementen hergestellt, unsere Veröffentlichungen haben eine Verbreitung ohne gleichen und in ganz neuen Kreisen gefunden. Mehr noch: unsere Jugendlichen haben als Sozialisten zum ersten Mal die Möglichkeit gehabt, an die Stalinisten heranzukommen und mit ihnen «kameradschaftlich zu diskutieren». Und das alles trotz der unbestreitbaren Tatsache, dass die «Substanzen» Bolschewismus und Menschewismus unversöhnlicher sind als je. 12.) Indessen der Ausschluss steht nicht auf der Tagesordnung. Es gilt zu arbeiten und sich zu verwurzeln. Dazu soll man sich nicht den ultralinken Konservativen zuwenden, sich nicht gegen die kreischenden Anklagen von Leuten rechtfertigen, die ihr ganzes Gleichgewicht und allen Sinn für Verantwortung verloren haben (Bauer und andere), sondern eine den sozialistischen und parteilosen Arbeitern, die den Ausweg aus der Sackgasse suchen, verständliche Sprache sprechen. 13.) Unsere schweizerische Sektion schreibt, die 400 Mitglieder zählende Sozialistische Jugend in Zürich hätte nach Unterredungen und politischen wie theoretischen Diskussionen unseren Genossen vorgeschlagen, in ihre Organisation als bolschewistisch-leninistische Fraktion einzutreten, und garantierten ihnen im Voraus nicht nur völlige Handlungsfreiheit im Sinne ihrer Ideen, sondern auch einen Platz in der Leitung und der Redaktion. Kann man diese Bedingungen annehmen? Ja oder nein? Wenn die Bedingungen exakt wiedergegeben sind, lautet die einzige Antwort: man muss der Sozialistischen Jugend beitreten. Es wäre ein Fehler, mehr, ein Verbrechen, noch schlimmer, eine sektiererische Dummheit, nicht einzutreten. Alle unsere Sektionen müssen nicht nur die weit zurückliegende Erfahrung des Kampfes zwischen Bolschewismus und Menschewismus in Russland, sondern auch die lebendige Erfahrung der französischen Liga und der internationalen Diskussion, die Voraussagen und Behauptungen beider Seiten und ihre Bewahrheitung durch die Tatsachen studieren. Jede Sektion wird daraus kostbare Lehren ziehen. Es handelt sich nicht darum, dasselbe Verfahren bei verschiedenen Bedingungen anzuwenden, sondern darum, zu lernen, der nationalen und selbst lokalen Lage angepasste Verfahren anzuwenden. Jede Sektion muss einen Überblick haben über alle Organisationen, Gruppen und Schichten des Proletariats, um zu verstehen, rechtzeitig einzugreifen und die revolutionären Ideen durch realistische Methoden zu propagieren. 22. September 1934. Crux. * Die «Neue Front» der SAP hat monatelang geschwiegen und die Losung «ignorieren» herausgegeben, als es sich darum handelte, mit uns politisch zu diskutieren. Nunmehr glaubt sie, mit Klatsch, Halbwissen und Verdrehungen über unsere «Zersetzung» jubeln zu können. Doch ist hierbei lediglich der Wunsch der Vater des Gedankens. Wir werden uns mit der «Neuer Front» in unserer nächsten Nr. auseinandersetzen. Red. «U.W.» |
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