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Leo Trotzki 19340101 Anatol Wassiljewitsch Lunatscharski

Leo Trotzki: Anatol Wassiljewitsch Lunatscharski

[Nach Neue Weltbühne, 3. Jahrgang Nr. 2 (11. Januar 1934), S. 45-48]

Im letzten Jahrzehnt hat uns das politische Geschehen in verschiedene Lager geführt, so dass ich Lunatscharkis Schicksal nur an Hand der Zeitungen verfolgen konnte. Doch hat es Jahre gegeben, wo uns enge politische und persönliche Beziehungen verknüpften, die sehr freundschaftlich waren.

Lunatscharski war vier, fünf Jahre jünger als Lenin und um fast ebenso viel älter als ich. Dieser an sich nicht erhebliche Altersunterschied bedeutete jedoch die Zugehörigkeit zu zwei Generationen der Revolution. Als ich in Kiew als Gymnasiast ins politische Leben trat, stand Lunatscharski noch unter dem Einfluss der letzten Ausläufer des terroristischen Kampfs gegen den Zarismus; für meine engeren Zeitgenossen war dieser Kampf der Narodowolzi nur mehr Legende.

Von der Schulbank an verblüffte Lunatscharski durch vielseitige Talente. Er schrieb – selbstverständlich – Verse, nahm leicht philosophische Ideen auf, las vorzüglich bei Studentenabenden vor, war ein unvergleichlicher Redner, – auf seiner Literatenpalette herrschte niemals Mangel an Farben. Als zwanzigjähriger Jüngling war er imstande, Vorträge über Nietzsche zu halten, wegen des kategorischen Imperativs in Harnisch zu geraten, Marxens Werttheorie zu verteidigen und Vergleiche zwischen Sophokles und Shakespeare anzustellen. Seine außerordentliche Begabung verband sich in ihm organisch mit dem verschwenderischen Dilettantismus der adligen Intelligenz, die ihren höchsten publizistischen Ausdruck einst in der Gestalt Alexander Herzens gefunden hatte.

Mit der Revolution und dem Sozialismus war Lunatscharski vierzig Jahre lang verbunden, also während seines gesamten bewussten Lebens. Er machte Kerker, Verbannung, Emigration durch; er blieb unverändert Marxist. In diesen langen Jahren wanderten Tausende seiner früheren Gefährten aus dem gleichen Kreis der adligen und bürgerlichen Intelligenz ins Lager des ukrainischen Nationalismus, des bürgerlichen Liberalismus oder der monarchistischen Reaktion. Die Ideen der Revolution waren für Lunatscharski nicht jugendlicher Überschwang; sie waren ihm in Nerven und Adern gedrungen. Das ist das Erste, was man an seinem frischen Grab sagen muss.

Es wäre dennoch falsch, sich Lunatscharski als einen Mann von eisernem Willen und rauer Härte vorzustellen, als einen Kämpfer, der weder nach rechts noch nach links schaute. Nein, seine Standhaftigkeit war sehr elastisch; manchen von uns schien: allzu sehr elastisch. Der Dilettantismus steckte ihm nicht bloß im Intellekt sondern auch im Charakter. Als Redner und Schriftsteller wich er leicht vom Thema ab. Das künstlerische Bild zog ihn nicht selten weit fort von der Entwicklung des Grundgedankens. Aber auch als Politiker blickte er sich gern nach beiden Seiten um. Lunatscharski war zu empfänglich für alle philosophischen und politischen Neuerungen, um sich nicht von ihnen mitreißen zu lassen und nicht mit ihnen zu spielen.

Zweifellos erstickte die dilettantische Freigebigkeit der Natur in ihm die Stimme der inneren Kritik. Seine Reden waren meistens Improvisationen und, wie stets in solchen Fällen, weder von Längen noch von Banalitäten frei. Er schrieb und diktierte mit außerordentlicher Ungezwungenheit, er verbesserte seine Manuskripte fast nie. Es fehlte ihm an geistiger Konzentration und innerer Zensur, um beständigere und unstreitigere Werte zu schaffen. Talent und Wissen besaß er dafür zur Genüge.

Aber welche Seitensprünge Lunatscharski auch immer machte, jedes Mal kehrte er zu seinem Grundgedanken zurück, nicht nur in einzelnen Artikeln und Reden sondern auch in seiner gesamten politischen Tätigkeit. Seine mannigfaltigen, bisweilen unerwarteten Pendeleien hatten einen begrenzten Ausschlag: Sie gingen nie über den Bereich der Revolution und des Sozialismus hinaus.

Schon im Jahre 1904, ungefähr ein Jahr nach der Spaltung der russischen Sozialdemokratie in Bolschewiki und Menschewiki, schloss sich Lunatscharski – geradewegs aus der Verbannung in der Emigration angekommen – den Bolschewiki an. Lenin, der eben erst mit seinen Lehrern Plechanow, Axelrod, Sassulitsch, und seinen nächsten Gesinnungsgenossen, Martow, Potressow, gebrochen hatte, stand in jenen Tagen recht allein da. Er brauchte dringend einen Mitarbeiter für die extensive Arbeit, die Lenin nicht liebte und für die er sich nicht verausgaben wollte. Lunatscharski war für ihn ein wahres Geschenk. Kaum dem Eisenbahnwagen entstiegen, stürzte der sich in das lärmende Leben der russischen Emigration in der Schweiz, in Frankreich, in ganz Europa: Er hielt Vorträge, trat als Gegenredner auf, polemisierte in der Presse, leitete Zirkel, scherzte, spottete, sang verkehrt, fesselte jung und alt mit seiner vielseitigen Bildung und seiner liebenswürdigen Nachgiebigkeit in persönlichen Beziehungen.

Weiche Geschmeidigkeit war ein nicht unwichtiger Zug im moralischen Antlitz dieses Mannes. Ihm waren fremd sowohl kleinliche Eitelkeit wie die tiefere Sorge: gegen Freund und Feind zu verteidigen, was er selbst als die Wahrheit erkannte. Sein ganzes Leben lang gab sich Lunatscharski dem Einfluss andrer Leute hin, die nicht selten weniger gebildet und weniger talentiert waren als er, aber von kräftigerer Verfassung. Zum Bolschewismus kam er durch seinen älteren Freund Bogdanow. Der junge Gelehrte Bogdanow – Naturwissenschaftler, Arzt, Philosoph, Nationalökonom (sein richtiger Name ist Malinowski) – versicherte Lenin im Voraus, sein jüngerer Genosse Lunatscharski werde nach der Ankunft im Ausland unverzüglich seinem Beispiel folgen und sich den Bolschewiki anschließen. Die Voraussage bestätigte sich vollauf. Doch derselbe Bogdanow zog nach der Niederschlagung der Revolution von 1905 Lunatscharski von den Bolschewiki zu einer kleinen Gruppe hinüber, welche die sektiererhafte „Nichtanerkennung" der siegreichen Konterrevolution verband mit der abstrakten Predigt einer laboratoriumsmäßig zubereiteten „proletarischen Kultur".

In den finsteren Jahren der Reaktion, von 1908 bis 1912, als breite Kreise der Intelligenz massenhaft in Mystik verfielen, entrichtete Lunatscharski gemeinsam mit Gorki, mit dem ihn innige Freundschaft verband, seinen Tribut an das mystische Suchen. Ohne mit dem Marxismus zu brechen, begann er das sozialistische Ideal als eine neue Form der Religion hinzustellen; und er nahm sich ernsthaft vor, für sie ein neues Ritual zu finden. Der sarkastische Plechanow nannte ihn den „glückseligen Anatol". Dieser Spitzname blieb lange kleben. Lenin geißelte den ehemaligen und zukünftigen Gefährten nicht weniger unerbittlich. Mäßigte sich die Feindschaft auch allmählich, so dauerte sie doch bis 1917, wo sich Lunatscharski – nicht ohne Widerstand und nicht ohne starken Druck von außen, diesmal von meiner Seite – den Bolschewiki anschloss

Es kam eine Periode rastloser Agitationsarbeit, die zur politisch ergiebigsten Periode Lunatscharkis wurde. Es mangelte auch da nicht an impressionistischen Seitensprüngen; so hat er nur knapp nicht mit der Partei gebrochen im kritischsten Augenblick, im November 1917, als aus Moskau das Gerücht kam, die bolschewistische Artillerie habe die Kirche des seligen Wassili zerstört. Einen solchen Vandalismus konnte der Kunstkenner und -schätzer nicht verzeihen. Zum Glück war Lunatscharski aber nachgiebig und geschmeidig, – umso mehr, als die Kirche des seligen Wassili in den Tagen der Moskauer Umwälzung ja gar nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Als Kommissar für Volksbildung war Lunatscharski unersetzlich im Verkehr mit den alten Universitätsprofessoren und den pädagogischen Kreisen, die – überzeugt von der „Unbildung der Usurpatoren" – die völlige Liquidierung der Wissenschaften und Künste erwarteten. Lunatscharski bewies dieser abgeschlossenen Welt leidenschaftlich und mühelos, dass die Bolschewiki nicht nur die Kultur achten sondern dass diese ihnen auch nicht ganz fremd ist. Mehr als ein Priester des Katheder musste damals, Augen und Mund weit aufgesperrt, auf diesen Vandalen blicken, der ein halb Dutzend lebender und zwei tote Sprachen las und nebenbei eine so vielseitige Bildung an den Tag legte, wie sie ohne Weiteres für ein gutes Dutzend solcher Professoren gereicht hätte.

An der Hinwendung der diplomierten und patentierten Intelligenz zur Sowjetmacht hat Lunatscharski kein geringes Verdienst. Doch als unmittelbarer Organisator des Unterrichtswesens erwies er sich hoffnungslos schwach. Nach den ersten unglücklichen Versuchen, in denen dilettantische Phantasie sich mit administrativer Hilflosigkeit verflocht, ließ Lunatscharski selbst davon ab, auf die praktische Führung Anspruch zu erheben. Das Zentralkomitee versah ihn mit Helfern, die, gedeckt von dem persönlichen Ansehen des Volkskommissars, die Zügel fest in die Hand nahmen.

Umso mehr Gelegenheit hatte Lunatscharski, seine Freistunden der Kunst zu widmen. Der Revolutionsminister war nicht nur ein Schätzer und Kenner des Theaters sondern auch selbst Dramatiker. Seine Stücke offenbaren die ganze Fülle seiner Kenntnisse und Interessen, eine erstaunliche Leichtigkeit des Eindringens in die Geschichte und Kultur der verschiedenen Länder und Epochen, schließlich eine ungewöhnliche Fähigkeit, das Erfundene mit dem Entlehnten zu verbinden. Aber auch nicht viel mehr als das. Das Zeichen eines echten künstlerischen Genies liegt nicht auf ihnen.

1923 brachte Lunatscharski eine Bändchen „Silhouetten" heraus, eine Charakteristik der Führer der Revolution. Das Büchlein erblickte das Licht zur unrechten Zeit: Es genügt zu sagen, dass der Name Stalin darin nicht einmal genannt war. Schon im folgenden Jahr wurden die „Silhouetten" aus dem Verkehr gezogen, und Lunatscharski selbst fühlte sich bald in Acht. Aber auch da ließ ihn sein glücklichster Zug nicht im Stich: die Geschmeidigkeit. Sehr bald söhnte er sich mit der Umwälzung innerhalb des leitenden Personenbestands aus; jedenfalls beugte er sich völlig dem neuen Herrn der Lage. Nichtsdestoweniger blieb er bis zuletzt in seinen Reihen eine Fremdgestalt. Lunatscharski kannte zu gut die Vergangenheit der Revolution und der Partei, bewahrte allzu vielseitige Interessen, war schließlich zu gebildet, als dass er in den bürokratischen Reihen nicht fehl am Platze gewesen wäre. Vom Volkskommissarsposten entfernt, auf dem er übrigens seine geschichtliche Mission zu Ende erfüllen konnte, blieb er fast ohne Beschäftigung, bis knapp vor seiner Ernennung zum Gesandten in Spanien. Ehe er diesen neuen Posten antreten konnte, starb er in Mentone.

Nicht nur der Freund, auch der ehrliche Gegner sollte seinem Andenken Ehre erweisen.

(Autorisierte Übersetzung aus dem Russischen von Walter Steen)

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