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Leo Trotzki 19330924 Zwei Perspektiven für die Sowjetunion

Leo Trotzki: Zwei Perspektiven für die Sowjetunion

[Nach Neue Weltbühne, 2. Jahrgang Nr. 49 (7. Dezember 1933), S. 1524-1529]

Stets und unter jedem Regime verschlingt die Bürokratie einen nicht geringen Teil des Mehrwerts. Es wäre zum Beispiel nicht uninteressant auszurechnen, welchen Anteil am Volkseinkommen in Italien oder in Deutschland die faschistischen Heuschrecken verschlingen. Aber diese an sich nicht unwichtige Tatsache reicht ganz und gar nicht aus zur Verwandlung der faschistischen Bürokratie in eine selbständige herrschende Klasse. Sie ist ein Kommis der Bourgeoisie. Zwar sitzt dieser Kommis seinem Herrn auf dem Buckel, schnappt ihm mitunter fette Bissen vom Mund weg und spuckt ihm obendrein auf die Glatze. Ein – man muss schon zugeben – recht unbequemer Kommis. Die Bourgeoisie söhnt sich mit ihm aus, denn ohne ihn würde es ihr und ihrem Regime erst recht dreckig gehen

Mutatis mutandis enthält das Gesagte nichts, was nicht auf die Stalinbürokratie anzuwenden wäre. Sie verschlingt, vergeudet und raubt einen beträchtlichen Teil des Volksvermögens. Ihre Verwaltung kommt dem Proletariat recht teuer zu stehen Sie nimmt in der Sowjetgesellschaft eine außerordentlich privilegierte Stellung ein, nicht nur im Sinne politischer und administrativer Rechte, sondern auch im Sinne gewaltiger materieller Vorrechte. Doch die verwandeln die Bürokratie nicht in eine selbständige herrschende Klasse.

In der sozialistischen Gesellschaft wäre eine Ungleichheit, und gar erst eine so schreiende, natürlich ganz unmöglich. Aber entgegen den amtlichen und halbamtlichen Lügen ist das heutige Sowjetregime kein sozialistisches sondern ein Übergangsregime. Es schleppt noch mit sich ein ungeheuerliches Erbteil des Kapitalismus, insbesondere die soziale Ungleichheit, und zwar nicht nur zwischen Bürokratie und Proletariat, sondern auch innerhalb der Bürokratie und innerhalb des Proletariats selbst. In gewissen Grenzen bleibt die Ungleichheit noch im gegebenen Stadium ein bürgerliches Werkzeug für den sozialistischen Fortschritt: der gestufte Arbeitslohn, Prämien und so weiter als Anreiz zum Wetteifer.

Während er die Ungleichheit erklärt, rechtfertigt der Übergangscharakter der heutigen Ordnung mit nichts jene ungeheuerlichen, offenen und heimlichen Privilegien, welche sich die unkontrollierten Spitzen der Bürokratie verschaffen. Die linke Opposition hat nicht auf die Offenbarungen Urbahns, Laurats, Souvarines, Simone Weils gewartet, um zu erklären, dass der Bürokratismus in allen seinen Erscheinungsformen die moralischen Grundfesten der Sowjetgesellschaft ins Wanken bringt, bei den Massen scharfe und gerechtfertigte Unzufriedenheit erzeugt und große Gefahren ansammelt. Nichtsdestoweniger ändern die Privilegien der Bürokratie für sich allein noch nichts an den Grundlagen der Sowjetgesellschaft, denn die Bürokratie schöpft ihre Privilegien nicht aus irgendwelchen besonderen, ihr als „Klasse" eigentümlichen Besitzverhältnissen, sondern aus den Eigentumsformen, die von der Oktoberrevolution geschaffen wurden und im Grunde der Diktatur des Proletariats adäquat sind.

Soweit die Bürokratie das Volk – rundweg gesagt – bestiehlt (und das tut in verschiedenen Formen jede Bürokratie), haben wir es nicht mit Klassenausbeutung zu tun, im wissenschaftlichen Sinn des Wortes, sondern mit sozialem Schmarotzertum, wenn auch in sehr großem Maßstab. Die Geistlichkeit im Mittelalter war eine Klasse, oder ein Stand, soweit ihre Herrschaft sich auf das genau bestimmte System des Bodenbesitzes und der Fronarbeit stützte. Die heutige Kirche ist keine ausbeutende Klasse sondern eine schmarotzende Körperschaft. Es wäre wahrhaft unsinnig, von der amerikanischen Geistlichkeit als von einer besonderen herrschenden Klasse zu sprechen; indes ist es unzweifelhaft, dass die Pfaffen verschiedener Färbung in den Vereinigten Staaten einen beträchtlichen Teil des Mehrwerts verschlingen. Durch die Züge des Schmarotzertums nähert sich die Bürokratie wie die Geistlichkeit dem Lumpenproletariat, das bekanntlich ebenfalls keine selbständige „Klasse" darstellt Die Frage nimmt plastischere Formen an, wenn wir sie nicht im statischen sondern im dynamischen Querschnitt sehen. Einen gewaltigen Teil des Nationaleinkommens unproduktiv verschwendend, ist die Sowjetbürokratie zugleich aus ihren Funktionen selbst heraus am wirtschaftlichen und kulturellen Wachstum des Landes interessiert: Je höher das Nationaleinkommen, umso reichlicher der Fonds ihrer Privilegien. Indes muss auf den sozialen Grundlagen des Sowjetstaats der wirtschaftliche und kulturelle Aufstieg der werktätigen Massen die Grundlagen der bürokratischen Herrschaft selbst untergraben. Es ist klar, dass bei dieser glücklichen geschichtlichen Variante die Bürokratie sich nur als ein Werkzeug – ein schlechtes und kostspieliges – des sozialistischen Staats erweist.

Aber indem sie einen immer größeren Teil des Nationaleinkommens verschlingt und die Grundproportionen der Wirtschaft verletzt – so wird man uns entgegnen – , verzögert die Bürokratie das wirtschaftliche und kulturelle Wachstum des Landes. Ganz richtig! Eine weitere ungehinderte Entwicklung des Bürokratismus müsste unvermeidlich zu einer Stockung des wirtschaftlichen und kulturellen Wachstums, zu einer grausamen sozialen Krise und zu einem Rückfluten der gesamten Gesellschaft führen. Doch das würde nicht bloß den Zusammenbruch der proletarischen Diktatur sondern zugleich auch das Ende der bürokratischen Herrschaft bedeuten. An die Stelle des Arbeiterstaats träten nicht „sozialbürokratische" sondern kapitalistische Verhältnisse.

Wir hoffen, dass diese perspektivenmäßige Fragestellung ein für alle Mal helfen werde, uns in dem Streit um die Klassennatur der USSR zurechtzufinden: Ob wir uns die Variante des weiteren Fortschreitens des Sowjetregimes oder die Variante seines Zusammenbruchs zu eigen machen, – die Bürokratie erweist sich gleichviel nicht als selbständige Klasse sondern als eine Wucherung am Proletariat. Die Geschwulst kann gewaltige Ausmaße annehmen und sogar den lebenden Organismus ersticken, doch niemals kann die Geschwulst sich in einen selbständigen Organismus verwandeln. Fügen wir endlich zur völligen Klarstellung hinzu: Wäre heute in der USSR eine marxistische Partei an der Macht, so würde sie das ganze politische Regime erneuern, die Bürokratie umkrempeln, säubern und der Kontrolle durch die Massen unterstellen, die ganze administrative Praxis umgestalten, eine Reihe kapitaler Reformen in der Wirtschaftsführung vornehmen, aber keinesfalls würde sie genötigt sein, einen Umsturz in den Eigentumsverhältnissen, das heißt eine neue soziale Revolution zu vollziehen

Die Bürokratie ist keine herrschende Klasse. Aber die Weiterentwicklung des bürokratischen Regimes kann zur Entstehung einer neuen herrschenden Klasse führen; nicht auf dem organischen Weg des Entartens sondern über die Konterrevolution. Grade darum nennen wir den stalinschen Apparat zentristisch, weil er eine doppelte Rolle ausführt: Heute, wo es eine marxistische Führung schon nicht mehr und noch nicht gibt, verteidigt er mit seinen Methoden die proletarische Diktatur; aber diese Methoden sind derart, dass sie einen morgigen Sieg des Feindes erleichtern. Wer diese doppelte Rolle des Stalinismus in der UdSSR nicht begriffen hat, der hat gar nichts begriffen.

Die sozialistische Gesellschaft wird leben ohne Partei, wie auch ohne Macht. In den Verhältnissen der Übergangsepoche aber spielt der politische Überbau die entscheidende Rolle. Eine entfaltete und feststehende Diktatur des Proletariats setzt voraus die führende Rolle der Partei als selbsttätige Vorhut, die Zusammenfassung des Proletariats mit Hilfe des Systems der Gewerkschaftsverbände, die untrennbare Bindung der Werktätigen an den Staat durch das System der Sowjets, endlich die Kampfeinheit des Arbeiterstaats mit dem Weltproletariat durch die Internationale. Indes, die Bürokratie hat Partei, Gewerkschaften, Sowjets und Komintern erstickt. Unnötig, hier darzulegen, welch gigantischer Anteil der Schuld an der Entartung des proletarischen Regimes auf die mit Verbrechen und Verrat bedeckte internationale Sozialdemokratie fällt.

Aber welches auch immer die wirkliche Verteilung der geschichtlichen Verantwortung sein möge, das Ergebnis ist dasselbe: Die Erstickung von Partei, Sowjets und Gewerkschaften bedeutet die politische Atomisierung des Proletariats. Die sozialen Antagonismen werden nicht politisch überwunden sondern administrativ unterdrückt. Sie häufen sich unter dem Druck in demselben Maße, in dem die politischen Hilfsquellen für ihre normale Lösung schwinden. Die erste größere soziale Erschütterung, von außen oder innen her, kann die atomisierte Sowjetgesellschaft in Bürgerkriegszustand versetzen. Die Arbeiter, die die Kontrolle über Staat und Wirtschaft verloren haben, können zum Massenstreik Zuflucht nehmen als zu einer Waffe der Selbstverteidigung. Die Disziplin der Diktatur wird gebrochen sein. Unter dem Stoß der Arbeiter wie unter dem Druck der wirtschaftlichen Schwierigkeiten werden sich die Trusts als gezwungen erweisen, das Plansystem zu durchbrechen und in gegenseitige Konkurrenz zu treten. Die Erschütterung des Regimes wird natürlich stürmischen und chaotischen Widerhall auf dem Lande finden und unvermeidlich auch auf die Armee übergreifen. Der sozialistische Staat wird zusammenstürzen, Platz machend dem kapitalistischen Regime, richtiger: dem kapitalistischen Chaos.

Die Stalinpresse wird unsre warnende Analyse natürlich als konterrevolutionäre Prophezeiung oder gar als „Wunsch" der „Trotzkisten" wiedergeben. Für das Zeitungsgesinde des Apparats haben wir längst kein andres Gefühl mehr übrig als stille Verachtung. Wir finden die Lage gefährlich, aber keineswegs hoffnungslos. Jedenfalls wäre es schändlicher Kleinmut und glatter Verrat, gäbe man die größte revolutionäre Position verloren – vor dem Kampf und ohne Kampf.

Wenn es wahr ist, dass die Bürokratie in ihren Händen die ganze Macht und alle Zugänge zu ihr hält – und das ist wahr – , so taucht die nicht unwichtige Frage auf: Wie soll man die Reorganisierung des Sowjetstaats erreichen? Und kann man diese Aufgabe mit friedlichen Mitteln lösen?

Vor allem stellen wir, in Form eines unumstößlichen Axioms, fest, dass die Aufgabe nur durch eine revolutionäre Partei zu lösen ist. Die Schaffung einer revolutionären Partei in der USSR aus den gesunden Elementen der alten Partei und aus der Jugend ist die geschichtliche Hauptaufgabe. In der Folge wird gesagt werden, unter welchen Umständen sie gelöst werden kann. Stellen wir jedoch fest, dass eine solche Partei schon besteht. Auf welche Weise könnte sie die Macht erobern? Schon 1927 sagte Stalin zur Opposition: „Die heute regierende Gruppierung kann nur durch Bürgerkrieg beseitigt werden" Das war eine ihrem Geist nach bonapartistische Herausforderung, – gerichtet nicht an die linke Opposition sondern an die Partei. Als sie in ihren Händen alle Hebel vereinigt hatte, kündigte die Bürokratie offen an, dass sie dem Proletariat nicht mehr erlauben werde, das Haupt zu erheben. Der weitere Gang der Ereignisse verlieh dieser Herausforderung ein großes Gewicht. Nach der Erfahrung der letzten Jahre wäre es eine Kinderei zu glauben, dass die Stalinbürokratie mit Hilfe eines Partei- oder Sowjetkongresses abzusetzen wäre. Im Grunde war der 12. Kongress (Anfang 1923) der letzte Kongress der bolschewistischen Partei. Die nachfolgenden Kongresse waren bürokratische Paraden. Heute sind auch solche Kongresse abgeschafft. Zur Beseitigung der regierenden Clique sind keine normalen „konstitutionellen" Wege geblieben. Die Bürokratie zwingen, die Macht in die Hände der proletarischen Vorhut zu legen, kann man nur mit Gewalt.

Die Lakaien werden sogleich im Chor einfallen: Die „Trotzkisten" predigen, ganz wie Kautsky, den bewaffneten Aufstand gegen die Diktatur des Proletariats. Aber gehen wir weiter. Für die neue proletarische Partei kann die Frage der Machteroberung praktisch nur in dem Augenblick stehen, wo sie um sich die Mehrheit der Arbeiterklasse geschart hat. Auf dem Weg zu einer solchen radikalen Änderung des Kräfteverhältnisses wird die Bürokratie sich als immer zerrissener herausstellen. Die sozialen Wurzeln der Bürokratie liegen, wie wir wissen, im Proletariat; wenn nicht in seiner aktiven Unterstützung, so wenigstens in seiner „Tolerierung". Geht das Proletariat zur Aktivität über, so wird der stalinsche Apparat in der Luft hängen. Versucht er jedoch, sich zu widersetzen, so werden gegen ihn nicht Bürgerkriegs- sondern eher Polizeimaßnahmen zu ergreifen sein. Jedenfalls wird es sich nicht um einen Aufstand gegen die Diktatur des Proletariats handeln sondern um die Entfernung einer bösartigen Geschwulst von ihr.

Ein wirklicher Bürgerkrieg könnte sich nicht entwickeln zwischen der Stalinbürokratie und dem sich erhebenden Proletariat sondern zwischen dem Proletariat und den aktiven Kräften der Konterrevolution. Von einer selbständigen Rolle der Bürokratie für den Fall des offenen Zusammenpralls der beiden Massenlager könnte nicht die Rede sein. Ihre polaren Flügel würden sich auf die verschiedenen Seiten der Barrikade verteilen. Das Schicksal der weiteren Entwicklung würde natürlich bestimmt sein durch den Ausgang des Kampfs. Jedenfalls wäre ein Sieg des revolutionären Lagers nur denkbar unter der Führung der proletarischen Partei, die durch den Sieg über die Konterrevolution auf natürliche Weise zur Macht emporgehoben wäre.

Was .steht näher bevor: die Gefahr des Zusammenbruchs der vom Bürokratismus zernagten Sowjetmacht oder die Stunde des Zusammenschlusses des Proletariats zu einer neuen Partei, fähig, das Oktobererbe zu retten? Auf diese Frage gibt es keine aphoristische Antwort; entscheiden wird der Kampf. Das Kräfteverhältnis wird festgestellt werden bei einer großen geschichtlichen Probe, die auch ein Krieg sein kann. Klar ist jedenfalls, dass mit den inneren Kräften allein bei weiterem Niedergang der proletarischen Weltbewegung und der Ausbreitung der faschistischen Herrschaft man die Sowjetmacht nicht lange halten kann. Die Hauptvoraussetzung, bei der eine gründliche Reform des Sowjetstaats erst möglich ist, ist eine siegreiche Entwicklung der Weltrevolution.

Die revolutionäre Bewegung im Westen kann auch ohne Partei wieder auferstehen, – siegen kann sie nur unter der Führung der Partei. Für die gesamte Epoche der sozialen Revolution, das heißt für eine Reihe von Jahrzehnten, bleibt die internationale revolutionäre Partei das Hauptwerkzeug des geschichtlichen Fortschritts.

Übersetzt von Walter Steen [Rudolf Klement]

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