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Leo Trotzki 19330609 Die letzte Fälschung der Stalinisten

Leo Trotzki: Die letzte Fälschung der Stalinisten

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der Internationalen Linken Opposition, Jahrgang 1, Nr. 6 (Anfang Juni 1933), S. 8]

Im vergangenen Jahr kam aus Moskau ein neuer Klatsch in Umlauf: Lenin habe Trotzki für einen „Judas“ erklärt. Wann? Wo? Weshalb? Anfangs genierten sich die europäischen Stalinisten ein wenig, diese schmutzige Lumperei den fortgeschrittenen Arbeitern ins Gesicht zu sagen. Als aber die Niederlage des europäischen Proletariats noch ein Verbrechen, das fürchterlichste von allen, in das Verzeichnis der Heldentaten der stalinistischen Bürokratie eintrug, mussten sie zu stark wirkenden Mitteln Zuflucht nehmen. Jetzt setzten sie immer häufiger den Klatsch vom „Judas“ in Umlauf.

Worauf gründet sich dieser? Zwei Jahre vor dem Krieg, im Augenblick eine der Zuspitzungen des Emigrantenkampfes, nannte Lenin auf einem Zettel Trotzki zornig einen „Juduschka“. Wer auch nur ein bisschen mit der russischen Literatur vertraut ist, der weiß, dass „Juduschka“ (Golowjew) ein literarischer Typ, der Held eines Werkes des russischen Satirikers Saltykow-Schtschedrin ist. Im Emigrantenkampf jener Zeit konnte man beinahe in jedem politischen Artikel „spitzige“ Entlehnungen aus Saltykow finden. In dem vorliegenden Fall handelt es sich nicht einmal um einen Artikel, sondern um einen Zettel aus einer zornigen Minute. Zu dem Judas der Evangelien hat Juduschka Golowjew jedenfalls keinerlei Beziehung.

Anlässlich der unvermeidlich Übertreibung in den polemischen Briefen Lenins schrieb Stalin 1924, indem er die Haltung Sinowjew-Kamenews vom Oktober 1924 in Schutz nahm: „Lenin läuft in seinen Briefen manchmal absichtlich voraus, rückt in den Vordergrund solche möglichen Fehler, die gemacht werden können, und kritisiert sie im Voraus in der Absicht, die Partei zu warnen und sie gegen Fehler zu sichern, oder aber er bläht zuweilen Kleinigkeiten auf und macht „aus der Mücke einen Elefanten“, zu demselben pädagogischen Zweck … Aus solchen Briefen Lenins (und solche Briefe gibt es von ihm nicht wenige) eine Schlussfolgerung auf „tragische“ Meinungsverschiedenheiten zu ziehen und aus diesem Anlass umherzuposaunen, heißt Lenins Briefe nicht zu verstehen, Lenin nicht zu kennen.“ („Trotzkismus gegen Leninismus?“, 1924). Diese Ausführungen Stalins, die schlecht taugen für die Rechtfertigung der Haltung von Sinowjew-Kamenew 1917 – damals ging es nicht um „Kleinigkeiten“, nicht um eine „Mücke“ – können jedoch ganz und gar auf jede drittrangige Episode bezogen werden, die den Zettel Lenins aus der Verbannung über Juduschka Golowjew veranlasste.

Dass Lenin mit Trotzki in den Emigrationsjahren heftige Zusammenstöße hatte, weiß jeder. Aber das war alles eine Reihe von Jahren vor der Oktoberrevolution, dem Bürgerkrieg, dem Aufbau des Sowjetstaates und der Gründung der Komintern. Die wirklichen Beziehungen zwischen Lenin und Trotzki sind, scheint es, in späteren und autoritativeren Dokumenten niedergelegt, als es der Zettel anlässlich eines Zusammenstoßes in der Emigration ist. Was wollen die Berufsverleumder sagen, wenn sie das Gleichnis des „Judas“ in die Debatte werfen: dass Lenin Trotzki politisch nicht vertraute? Oder dass er ihm moralisch nicht vertraute? Aus hunderten von Äußerungen Lenins führen wir zwei, drei an.

Am 1. November 1917 sagte Lenin in einer Sitzung des Petrograder Parteikomitees: „Darüber kann man ernsthaft gar nicht reden. Trotzki hat längst gesagt, dass die Vereinigung (mit den Menschewiken) unmöglich sei. Trotzki hat dies begriffen, und seitdem gab es keinen besseren Bolschewiken.“

Zur Zeit des Bürgerkrieges, als Trotzki allein Entscheidungen von außerordentlich großer Tragweite hatte treffen müssen, übergab ihm Lenin aus eigener Initiative einen leeren Formularbogen mit folgender Aufschrift am unteren Rande: „Genossen! Ich kenne den strengen Charakter der Anordnungen des Genossen Trotzki, ich bin sehr überzeugt, in so absolutem Maße überzeugt von der Richtigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Notwendigkeit der vom Genossen Trotzki im Interesse der Sache gemachten Anordnung, dass ich diese Anordnung vollkommen unterstütze.

W. Uljanow-Lenin.“

Wenn die erste der beiden angeführten Äußerungen eine genügend klare politische Einschätzung gibt, so offenbar die zweite das Maß des moralischen Vertrauens. Es ist kaum erforderlich, die Dutzende von Zitaten aus den Artikeln und Reden Lenins anzuführen, worin sich sein Verhalten zu Trotzki äußert, oder hier noch einmal den Briefwechsel Lenin-Trotzkis über die nationale Frage oder über die Frage des Außenhandelsmonopols zu reproduzieren. Beschränken wir uns nur darauf, noch an jenen Brief zu erinnern, den N. K. Krupskaja, die langjährige Gefährtin Lenins, einige Tage nach Lenins Tod an Trotzki richtete: „Lieber Lew Dawidowitsch! Ich schreibe, um ihnen zu erzählen, wie Wladimir Iljitsch, ungefähr einen Monat vor seinem Tod, als er ihr Buch durchblätterte, an der Stelle stehen blieb, wo Sie die Charakteristik von Marx und Lenin gaben, und er mich bat, ihm diese Stellen vorzulesen, wie er sehr aufmerksam zuhörte und darauf noch einmal dasselbe durchlas. Und da ist noch etwas, was ich Ihnen sagen wollte: das Verhältnis, das sich bei W. I. zu Ihnen herausbildete, als Sie bei uns in London aus Sibirien ankamen, hat bis zu seinem Tode keine Änderung erfahren. Ich wünsche Ihnen, Lew Dawidowitsch, Kraft und Gesundheit und umarme sie fest. N. Krupskaja.“

Die diestbeflissenen Agenten hätten vorsichtiger gehandelt, wenn sie die Frage des moralischen Vertrauens überhaupt nicht berührt hätten. Schon krank, empfahl Lenin Trotzki, mit Stalin keine Vereinbarungen zu treffen. „Stalin wird faule Kompromisse schließen und dann betrügen.“ In seinem Testament empfahl Lenin, Stalin vom Posten des Generalsekretärs zu entfernen, indem er dies mit der Illoyalität Stalins motivierte. Das letzte Dokument endlich, das von Lenin am Tag vor seinem zweiten Schlaganfall diktiert wurde, war sein Brief an Stalin über den Abbruch „aller persönlichen und genossenschaftlichen Beziehungen“ zu ihm.

Vielleicht genügt das, meine Herren Verleumder?

Alfa.

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