Leo Trotzki: Soll der Faschismus wirklich siegen? Deutschland – der Schlüssel zur internationalen Lage [Nach der Broschüre, Berlin 1931, Herausgeber: Linke Opposition der KPD. Verleger: Anton Grylewicz] Das Ziel der vorliegenden Zeilen ist, anzudeuten – wenn auch in ganz allgemeinen Zügen –, wie sich im gegenwärtigen Moment die politische Weltlage zusammensetzt als Ergebnis der grundlegenden Gegensätze des Verfallskapitalismus, verwickelt und verschärft durch die furchtbare Handels-, Industrie und Finanzkrise. Die nachstehenden flüchtig skizzierten Erwägungen, die weitaus nicht alle Seiten und alle Fragen umfassen, unterliegen einer weiteren ernsten kollektiven Bearbeitung. 1. Die spanische Revolution hat die allgemeinen politischen Voraussetzungen für den unmittelbaren Machtkampf des Proletariats geschaffen. Die syndikalistischen Traditionen des spanischen Proletariats haben sich sogleich als eins der hauptsächlichsten Hindernisse auf dem Entwicklungsweg der Revolution enthüllt. Die Komintern wurde von den Ereignissen überrascht. Die beim Einsetzen der Revolution vollkommen machtlose Kommunistische Partei bezog in allen Grundfragen eine falsche Position. Die spanische Erfahrung hat gezeigt – wieder sei daran erinnert –, welch furchtbare Waffe der Desorientierung des revolutionären Bewusstseins der fortgeschrittenen Arbeiter die gegenwärtige Kominternführung darstellt! Das außerordentliche Zurückbleiben der proletarischen Avantgarde hinter den Ereignissen, die politisch zersplitterte Art des heroischen Kampfes der Arbeitermassen, die tatsächliche Versicherung auf Gegenseitigkeit zwischen Anarchosyndikalismus und Sozialdemokratie – das sind die grundlegenden politischen Bedingungen, die der republikanischen Bourgeoisie im Bund mit der Sozialdemokratie die Möglichkeit gaben, einen Repressionsapparat aufzurichten und, indem sie den aufständischen Massen Schlag auf Schlag versetzt, in den Händen der Regierung eine bedeutende politische Macht zu konzentrieren. An diesem Beispiel sehen wir, dass der Faschismus durchaus nicht das einzige Mittel der Bourgeoisie im Kampf gegen die revolutionären Massen darstellt. Das augenblicklich in Spanien herrschende Regime entspricht am meisten dem Begriff der Kerenskiade1, d. h. der letzten (oder «vorletzten») «linken» Regierung, die allein von der Bourgeoisie im Kampf gegen die Revolution aufgerichtet werden kann. Aber eine solche Regierungsart bedeutet durchaus nicht unbedingt Schwäche und Entkräftung. Beim Fehlen einer starken revolutionären Partei des Proletariats kann eine Kombination von Halbreformen, linken Phrasen, noch linkeren Gesten und von Repressionen der Bourgeoisie einen wirkungsvolleren Dienst erweisen als der Faschismus. Unnötig zu sagen, dass die spanische Revolution noch nicht abgeschlossen ist. Sie hat ihre elementarsten Aufgaben nicht gelöst (Agrar-, Kirchen-, nationale Frage) und noch lange nicht die revolutionären Hilfsquellen der Volksmassen erschöpft. Die bürgerliche Revolution wird mehr, als sie gegeben hat, nicht geben können. In Bezug auf die proletarische Revolution hingegen kann die gegenwärtige innere Lage in Spanien vorrevolutionär genannt werden, aber nicht mehr als das. Es ist höchst wahrscheinlich, dass die fortschreitende Entwicklung der spanischen Revolution einen mehr oder minder schleppenden Charakter annehmen wird. Damit eröffnet der historische Prozess dem spanischen Kommunismus gleichsam neuen Kredit. 2. Die Lage Englands kann man gleichfalls mit gewisser Berechtigung vorrevolutionär nennen, wenn man sich nur klar darüber einigt, dass zwischen der vorrevolutionären und der unmittelbar revolutionären Situation eine Periode von mehreren Jahren verstreichen kann, mit Teilfluten und -ebben. Englands ökonomische Lage hat die äußerste Zuspitzung erfahren. Doch der politische Überbau dieses erzkonservativen Landes bleibt außerordentlich hinter den Veränderungen der ökonomischen Basis zurück. Bevor sie neue politische Formen und Methoden in Gang setzen, versuchen die Klassen der englischen Nation wieder und wieder, die alten Vorratskammern durchzustöbern, die alten großväterlichen und großmütterlichen Gewänder zu wenden und ähnliches. Tatsache ist, dass in England trotz dem furchtbaren nationalen Verfall immer noch weder eine bedeutende revolutionäre Partei besteht noch ihr Antipode – die faschistische Partei. Dank dieses Umstands erhielt die Bourgeoisie die Möglichkeit, die Mehrheit des Volkes unter dem «nationalen» Banner zu mobilisieren, d. h. unter der hohlsten aller möglichen Parolen. In der vorrevolutionären Situation hat die überragende politische Vorherrschaft der beschränkteste Konservatismus erlangt. Zur Anpassung des politischen Überbaus an die reale wirtschaftliche und internationale Lage des Landes wird aller Wahrscheinlichkeit nach mehr als ein Monat, vielleicht mehr als ein Jahr erforderlich sein. Es besteht kein Grund zur Annahme, dass der Zusammenbruch des «nationalen» Blocks – und dieser Zusammenbruch ist unvermeidlich in verhältnismäßig naher Zukunft – unvermittelt entweder zur proletarischen Revolution (eine andere Revolution kann es selbstverständlich in England nicht geben) oder zum Sieg des «Faschismus» führen wird. Im Gegenteil, es ist mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass auf dem Weg zur revolutionären Lösung England noch durch eine lange Periode der radikal-demokratisch-sozial-pazifistischen Demagogie, der Lloyd-Georgiade und des Labourismus hindurchgehen wird. Man kann somit nicht zweifeln, dass Englands historische Entwicklung dem britischen Kommunismus noch eine bedeutende Periode gewähren wird, sich in die wirkliche Partei des Proletariats zu verwandeln für den Moment, da die Lösung nahe gerückt sein wird. Daraus ergibt sich allerdings nicht, dass man auch weiterhin Zeit verlieren kann für verderbliche Experimente und zentristische Zickzacks. In der gegenwärtigen Weltlage ist Zeit die teuerste Sorte Rohstoff. 3. Frankreich, das die Weisen der Komintern eineinhalb Jahre zuvor «in die vorderste Reihe des revolutionären Aufschwungs» gestellt haben, ist in Wirklichkeit das konservativste Land nicht nur Europas, sondern wohl der ganzen Welt. Die verhältnismäßige Beständigkeit des kapitalistischen Regimes Frankreichs wurzelt in bedeutendem Maße in seiner Rückständigkeit. Die Krise äußert sich hier schwächer als in andern Ländern. Auf finanziellem Gebiet will Paris sogar New York gleichkommen. Der gegenwärtige finanzielle «Wohlstand» Frankreichs hat zu seiner unmittelbaren Quelle den Versailler Raubzug. Aber gerade der Versailler Frieden birgt die hauptsächlichste Gefahr für das ganze Regime der französischen Republik in sich. Zwischen Frankreichs Bevölkerungszahl, Produktionskräften und Nationaleinkommen einerseits, seiner gegenwärtigen internationalen Lage anderseits besteht ein schreiender Widerspruch, der unvermeidlich zur Explosion führen wird. Um seine kurzlebige Hegemonie zu wahren, ist Frankreich, das «nationale» wie das radikalsozialistische, gezwungen, sich in der ganzen Welt auf die reaktionärsten Kräfte zu stützen, auf die uralten Ausbeutungsformen, die abscheuliche rumänische Clique, das ruchlose Pilsudski-Regime, auf die Diktatur der jugoslawischen Soldateska; gezwungen, die Zerstückelung der deutschen Nation (Deutschland und Österreich)2 aufrechtzuerhalten, den polnischen Korridor in Deutschland zu belassen, der japanischen Intervention in der Mandschurei Beihilfe zu leisten, die japanische Militärclique gegen die UdSSR zu stoßen, als Hauptfeind der Befreiungsbewegung der Kolonialvölker aufzutreten usw. usw. Der Widerspruch zwischen Frankreichs zweitrangiger Rolle in der Weltwirtschaft und seinen ungeheuerlichen Vorrechten und Ansprüchen in der Weltpolitik wird sich mit jedem Monat immer deutlicher offenbaren, Gefahr auf Gefahr häufen, die innere Beständigkeit erschüttern, Besorgnis und Unzufriedenheit der Volksmassen erwecken und immer tiefere politische Verschiebungen hervorrufen. Diese Prozesse werden sich zweifellos schon bei den kommenden Parlamentswahlen äußern. Andererseits aber zwingt alles zu der Annahme, dass, sollten sich nicht große Ereignisse außerhalb des Landes vollziehen (Sieg der Revolution in Deutschland oder das Gegenteil: Sieg des Faschismus), die Entwicklung der inneren Verhältnisse Frankreichs selbst in der nächsten Periode verhältnismäßig «normal» verlaufen wird; daraus erwächst dem Kommunismus die Möglichkeit, eine bedeutende Vorbereitungsperiode zu seiner Festigung auszunützen bis zum Eintritt der vorrevolutionären und, revolutionären Situation. 4. In den Vereinigten Staaten, dem mächtigsten Land des Kapitals, hat die gegenwärtige Krise mit erdrückender Gewalt furchtbare soziale Widersprüche bloßgelegt. Von einer nie dagewesenen Periode der Prosperität, die die ganze Welt durch ein Feuerwerk von Millionen und Milliarden in Erstaunen setzte, sind die Vereinigten Staaten mit einem Mal in eine Periode der Millionenarbeitslosigkeit, der schrecklichsten physischen Verkümmerung der Arbeitenden eingetreten. Eine derartige gigantische soziale Erschütterung kann nicht spurlos vorübergehen an der politischen Entwicklung des Landes. Heute lässt sich zumindest aus der Ferne schwer irgendeine bedeutende Radikalisierung der amerikanischen Arbeitermassen feststellen. Man kann annehmen, dass die Massen selbst durch den katastrophalen Umschwung der Konjunktur so sehr überrascht sind, so niedergedrückt und betäubt durch Arbeitslosigkeit oder die Angst vor Arbeitslosigkeit, dass sie noch die elementarsten Folgerungen aus dem über sie hereingebrochenen Elend nicht zu ziehen vermochten. Dazu ist eine gewisse Zeit erforderlich. Aber die Folgerungen werden gezogen werden. Die gewaltige ökonomische Krise, die den Charakter einer sozialen Krise angenommen hat, wird unvermeidlich in eine Krise des politischen Bewusstseins der amerikanischen Arbeiterklasse umschlagen. Es ist vollkommen möglich, dass die revolutionäre Radikalisierung der breiten Arbeiterschichten sich nicht in der Periode des größten Konjunkturniedergangs äußern wird, sondern während der Wendung zu Belebung und Aufschwung. So oder so, im Leben des amerikanischen Proletariats und des ganzen Volkes wird die gegenwärtige Krise eine neue Epoche eröffnen. Ernste Verschiebungen und Raufereien unter den regierenden Parteien lassen sich erwarten, neue Versuche zur Schaffung einer dritten Partei usw. Die Gewerkschaftsbewegung wird bei den ersten Anzeichen des Konjunkturumschwunges nach oben scharf die Notwendigkeit empfinden, sich den Klauen der niederträchtigen Bürokratie der Amerikanischen Arbeitsunion zu entwinden. Zugleich erschließen sich dem Kommunismus unübersehbare Möglichkeiten. In der Vergangenheit hat Amerika mehr als einmal stürmische Ausbrüche revolutionärer oder halbrevolutionärer Bewegungen gekannt. Sie sind jedes Mal rasch verloschen, sowohl weil Amerika jedes Mal in einen neuen Abschnitt stürmischen ökonomischen Aufschwungs eintrat, als auch deshalb, weil die Bewegungen an sich durch groben Empirismus und durch theoretische Hilflosigkeit charakterisiert waren. Diese beiden Bedingungen gehören der Vergangenheit. Ein neuer ökonomischer Aufschwung (und man kann ihn nicht im Vorhinein für ausgeschlossen halten) wird sich nicht auf das innere «Gleichgewicht» stützen müssen, sondern auf das gegenwärtige ökonomische Weltchaos. Der amerikanische Kapitalismus tritt in die Epoche eines ungeheuerlichen Imperialismus ein, des ununterbrochenen Wachstums der Rüstungen, der Einmischung in die Angelegenheiten der ganzen Welt, militärischer Konflikte, Erschütterungen. Andererseits: in Gestalt des Kommunismus besitzen die Massen des amerikanischen Proletariats – besser, unter Bedingung einer richtigen Politik können sie besitzen: nicht mehr das alte Gemisch von Empirie, Mystik und Scharlatanerie, sondern eine wissenschaftlich begründete Doktrin, die auf der Höhe der Ereignisse steht. Diese grundlegenden Veränderungen gestatten mit Gewissheit vorauszusehen, dass der unvermeidliche und verhältnismäßig rasche revolutionäre Umschwung im amerikanischen Proletariat nicht mehr das frühere leicht verlöschende «Strohfeuer» sein wird, sondern der Beginn eines wirklichen revolutionären Brandes. Der Kommunismus kann in Amerika mit Gewissheit seiner großen Zukunft entgegengehen. 5. Das zaristische Abenteuer in der Mandschurei hat zum russisch-japanischen Krieg geführt; der Krieg – zur Revolution von 1905. Das jetzige japanische Abenteuer in der Mandschurei kann zur Revolution in Japan führen. Das feudal-militaristische Regime dieses Landes konnte zu Beginn dieses Jahrhunderts noch mit Erfolg den Interessen des jungen japanischen Kapitalismus dienen. Doch im Lauf des letzten Vierteljahrhunderts trug die kapitalistische Entwicklung eine außerordentliche Zersetzung in die alten sozialen und politischen Formen hinein. Japan war bereits einige Mal seit jener Zeit auf die Revolution zugegangen. Aber dieser fehlte eine starke revolutionäre Klasse, um die von der Entwicklung gestellten Aufgaben zu erfüllen. Das mandschurische Abenteuer kann die revolutionäre Katastrophe des japanischen Regimes beschleunigen. Das heutige China, so geschwächt es durch die Diktatur der Kuomintang-Cliquen auch sei, unterscheidet sich tief von jenem China, das Japan im Gefolge der europäischen Staaten in der Vergangenheit vergewaltigt hatte. Chinas Kräfte reichen nicht aus, um die japanischen Expeditionstruppen sofort heraus zu drängen, aber nationales Bewusstsein und Aktivität des chinesischen Volkes sind außerordentlich gewachsen; Hunderttausende, Millionen Chinesen haben eine militärische Schulung durchgemacht. Die Chinesen werden immer neue und neue Armeen improvisieren. Die Japaner werden sich belagert fühlen. Die Eisenbahnen werden weitaus mehr Kriegs- als Wirtschaftszwecken dienen. – Man wird immer neue und neue Truppen senden müssen. Die sich ausbreitende mandschurische Expedition wird Japans Wirtschaftsorganismus zu erschöpfen beginnen, die Unzufriedenheit innerhalb des Landes vergrößern, die Widersprüche verschärfen und damit die revolutionäre Krise beschleunigen. 6. In China wird die Notwendigkeit entschlossener Abwehr des imperialistischen Einbruchs ebenfalls ernste innere politische Folgen nach sich ziehen müssen. Das Kuomintang-Regime ist aus der nationalrevolutionären Massenbewegung entstanden, die von den bürgerlichen Militaristen (unter Beistand der stalinistischen Bürokratie) ausgenutzt und erdrosselt wurde. Gerade deshalb ist das gegenwärtige Regime – widerspruchsvoll und wankend – unfähig zu kriegsrevolutionärer Initiative. Die Notwendigkeit der Abwehr der japanischen Gewalttäter wird sich immer mehr gegen das Kuomintang-Regime wenden und die revolutionären Stimmungen der Massen nähren. Unter diesen Bedingungen kann die proletarische Avantgarde bei richtiger Politik das nachholen, was so tragisch im Lauf der Jahre 1924-27 versäumt worden ist. 7. Die jetzigen Ereignisse in der Mandschurei zeigen besonders, wie naiv jene Herren waren, die von der Sowjetregierung die Rückgabe der Ostchinesischen Bahn an China verlangten. Das hätte geheißen, sie freiwillig Japan auszuliefern, in deren Händen die Bahn eine wichtige Waffe gegen China wie gegen die UdSSR geworden wäre. Wenn bisher irgendetwas die Militärcliquen Japans von. der Intervention zurückgehalten hatte und noch jetzt sie in den Grenzen der Vorsicht hält, so ist es die Tatsache, dass die Ostchinesische Bahn Eigentum der Sowjets ist. 8. Kann jedoch das mandschurische Abenteuer nicht zum Krieg mit der UdSSR führen? Selbstverständlich ist dies sogar bei klügster und vorsichtigster Politik der Sowjetregierung nicht ausgeschlossen. Die inneren Widersprüche des feudal-kapitalistischen Japan haben seine Regierung offenkundig aus dem Gleichgewicht gebracht. An Aufwieglern (Frankreich) herrscht kein Mangel. Und aus der historischen Erfahrung des Zarismus im Fernen Osten wissen wir, wessen die aus dem Gleichgewicht geratene militär-bürokratische Monarchie fähig ist. Der im Fernen Osten sich entspinnende Kampf wird natürlich nicht um der Eisenbahn willen, sondern um die Frage nach dem Schicksal ganz Chinas geführt. In diesem gigantischen historischen Kampf kann die Sowjetregierung nicht neutral bleiben, sich nicht in gleicher Weise zu China wie zu Japan stellen. Sie ist verpflichtet, ganz und gar auf Seiten des chinesischen Volkes zu stehen. Nur die unerschütterliche Treue der Sowjetregierung zum Befreiungskampf der unterdrückten Völker kann die Sowjetunion wirklich von Osten her schützen gegen Japan, England, Frankreich, die Vereinigten Staaten. In welchen Formen die Sowjetregierung in der kommenden Periode den Kampf des chinesischen Volkes unterstützen wird, hängt von den konkreten historischen Umständen ab. Allein wäre es früher unsinnig gewesen, freiwillig die Ostchinesische Bahn Japan auszuliefern, so wäre es ebenso unsinnig, die gesamte Politik im Fernen Osten der Ostchinesischen Bahn unterzuordnen. Viel spricht dafür, dass das Vorgehen der japanischen Militärclique in dieser Frage bewusst provokatorischen Charakter trägt. Hinter dieser Provokation steht unmittelbar das herrschende Frankreich. Ziel der Provokation ist, die Sowjetunion im Osten, zu binden. Umso mehr Haltung und Umsicht ist seitens der Sowjetregierung erforderlich. Die wesentlichen Bedingungen des Ostens: gewaltige Flächen, unzählige Menschenmassen, ökonomische Rückständigkeit – verleihen allen Prozessen einen langsamen, schleppenden, schleichenden Charakter. Eine unmittelbare oder akute Gefahr droht der Existenz der Sowjetunion vom Fernen Osten her jedenfalls nicht. Die wichtigsten Ereignisse werden sich in der nächsten Zeit in Europa entfalten. Hier können sich große Möglichkeiten eröffnen, von hier aber drohen auch große Gefahren. Vorderhand hat im Fernen Osten nur Japan seine Hände gebunden. Die Sowjetunion muss sich für den Augenblick freie Hand wahren. 9. Auf dem durchaus nicht friedlichen politischen Welthintergrund hebt sich grell die Lage Deutschlands ab. Die ökonomischen und politischen Widersprüche haben hier eine unerhörte Schärfe erreicht. Die Lösung rückt heran. Es nähert sich der Moment, wo die vorrevolutionäre Situation umschlagen muss in die revolutionäre oder – die konterrevolutionäre. In welcher Richtung sich die Lösung der deutschen Krise entwickeln wird, davon wird auf viele, viele Jahre hinaus nicht nur das Schicksal Deutschlands selbst, sondern das Schicksal Europas, das Schicksal der ganzen Welt abhängen. Der sozialistische Aufbau in der UdSSR, der Verlauf der spanischen Revolution, die Entwicklung der vorrevolutionären Situation in England, das weitere Schicksal des französischen Imperialismus – all das läuft direkt und unmittelbar auf die Frage hinaus, wer im Lauf der nächsten Monate in Deutschland siegen wird: Kommunismus oder Faschismus? 10. Nach den vorjährigen Reichstagswahlen behauptete die Leitung der Deutschen Kommunistischen Partei, der Faschismus habe seinen Kulminationspunkt erreicht, von nun an werde er rasch verfallen und der proletarischen Revolution die Bahn freigeben. Die Linke Kommunistische Opposition (Bolschewiki-Leninisten) verspottete damals diesen leichtfertigen Optimismus. Der Faschismus ist ein Produkt zweier Faktoren: der scharfen sozialen Krise auf der einen Seite, der revolutionären Schwäche des deutschen Proletariats auf der anderen. Die Schwäche des Proletariats ihrerseits setzt sich aus zwei Elementen zusammen: aus der besonderen historischen Rolle der Sozialdemokratie, dieser allmächtigen kapitalistischen Agentur in den Reihen des Proletariats, und aus der Unfähigkeit der zentristischen Leitung der Kommunistischen Partei, die Arbeiter unter dem Banner der Revolution zu vereinigen. Den subjektiven Faktor stellt für uns die Kommunistische Partei dar, denn die Sozialdemokratie ist ein objektives Hindernis, das man hinweg räumen muss. Der Faschismus zerfiele tatsächlich in Stücke, wenn es die Kommunistische Partei verstünde, die Arbeiter zu vereinigen und allein dadurch sie in einen machtvollen revolutionären Magneten , für alle unterdrückten Massen des Volkes zu verwandeln. Aber die Politik der Kommunistischen Partei seit den Septemberwahlen hat bloß ihre Unzulänglichkeit vertieft: das eitle Geschwätz über «Sozialfaschismus», Spielen mit Chauvinismus, Nachahmung des echten Faschismus zum Zwecke marktschreierischer Konkurrenz mit diesem, das verbrecherische Abenteuer des «Roten Volksentscheides» – das alles verwehrt der Kommunistischen Partei, zum Führer des Proletariats und des Volkes zu werden. Sie hat in den letzten Monaten unter ihr Banner nur jene Elemente gebracht, die die große Krise fast gewaltsam in ihre Reihen gestoßen hat. Die Sozialdemokratie hat trotz den für sie verderblichen politischen Bedingungen dank der Hilfe der Kommunistischen Partei die Hauptmasse ihrer Anhänger bewahrt und ist bisher mit zwar bedeutenden, aber dennoch zweitrangigen Verlusten davongekommen. Was den Faschismus betrifft, so hat er entgegen der kürzlichen Prahlerei Thälmanns, Remmeles und anderer und in voller Übereinstimmung mit der Prognose der Bolschewiki-Leninisten seit September vergangenen Jahres einen neuen beträchtlichen Sprung vorwärts gemacht. Die Kominternführung hat weder etwas vorauszusehen noch zu hindern vermocht. Sie reguliert bloß die Niederlagen. Ihre Resolutionen und übrigen Dokumente sind, leider, nur Photographien des Hinterteils des geschichtlichen Prozesses. 11. Die Stunde der Entscheidung ist nahe herangerückt. Die Komintern aber will nicht, richtiger gesagt fürchtet, sich Rechnung zu legen über den tatsächlichen Charakter der gegenwärtigen Weltlage. Das Präsidium der Komintern behilft sich mit hohlen Agitationsblättchen. Die führende Partei der Komintern, die WKP, hat keinerlei Stellung bezogen. Als hätten die «Führer des Weltproletariats» den Mund voll Wasser genommen! Sie gedenken zu schweigen. Sie gehen daran, sich zu verschanzen. Sie hoffen abzuwarten. Lenins Politik haben sie ersetzt … durch die Vogelstraußpolitik. Dicht rückt einer jener Knotenpunkte der Geschichte heran, wo die Komintern nach einer Reihe großer aber immer noch «partieller» Fehler, die ihre im ersten Jahrfünft ihres Bestandes aufgehäuften Kräfte untergraben und erschüttert haben, riskiert, den kapitalen, verhängnisvollen Fehler zu begehen, der die Komintern als revolutionären Faktor für eine ganze historische Epoche von der politischen Karte hinwegfegen kann. Mögen Blinde und Memmen das nicht bemerken. Mögen Verleumder und gemietete Journalisten uns des Bundes mit der Konterrevolution anklagen! Ist doch Konterrevolution bekanntlich durchaus nicht das, was den Weltimperialismus befestigt, sondern das, was die Verdauung des kommunistischen Beamten stört. Die Bolschewiki-Leninisten kann Verleumdung weder schrecken noch zurückhalten von Erfüllung ihrer revolutionären Pflicht. Nichts darf verschwiegen, nichts abgeschwächt werden. Man muss es laut und vernehmlich den fortgeschrittenen Arbeitern sagen: Nach der «dritten Periode» des Abenteurertums und der Prahlerei ist bereits die «vierte Periode» – der Panik und Kapitulation angebrochen. 12. Übersetzt man das Schweigen der jetzigen Führer der WKP in die artikulierte Sprache, so besagt es: «Lasst uns in Frieden!» Die inneren Schwierigkeiten der UdSSR sind außerordentlich groß. Die unregulierten ökonomischen und sozialen Widersprüche fahren fort, sich zu verschärfen. Die Demoralisierung des Apparats, als unvermeidliches Produkt des plebiszitären Regimes, hat wahrhaft bedrohliche Ausmaße angenommen. Die politischen Beziehungen und vor allem die Beziehungen innerhalb der Partei, die Beziehungen zwischen dem demoralisierten Apparat und der zersplitterten Masse sind gespannt wie eine straffe Saite. Alle Weisheit der Bürokraten liegt im Warten, im Aufschieben. Die Lage in Deutschland droht offenkundig mit Erschütterungen. Aber gerade Erschütterungen fürchtet der Stalinsche Apparat über alles. «Lasst uns in Frieden! Lasst uns aus den schärfsten inneren Widersprüchen herauskommen! Und dann… man wird sehen.» Das ist die Stimmung bei den Spitzen der Stalinschen Fraktion. Gerade sie verbirgt sich hinter dem skandalösen Schweigen der «Führer» in einem Moment, wo ihre elementarste revolutionäre Pflicht darin besteht, sich klar und deutlich auszusprechen. 13. Es ist nicht verwunderlich, dass das treubrüchige Schweigen der Moskauer Leitung zum Paniksignal der Berliner Führer wurde. Jetzt, wo man rüsten muss, die Massen in den Entscheidungskampf zu führen, bekundet die Leitung der deutschen Kommunistischen Partei Verwirrung, dreht und windet sie sich mit Phrasen durch. An selbständige Verantwortung sind diese Leute nicht gewöhnt. Sie sinnen jetzt vor allem darüber nach, ob sich nicht irgendwie beweisen ließe, dass der «Marxismus-Leninismus» Ausweichen vor dem Kampf heischt… Eine vollendete Theorie in dieser Beziehung haben sie gleichsam noch nicht geschaffen. Aber sie liegt schon in der Luft. Sie wird von Mund zu Mund getragen und schimmert in Artikeln und Reden durch. Der Sinn dieser Theorie ist folgender: Der Faschismus wächst unaufhaltsam; sein Sieg ist ohnehin unvermeidlich; statt sich «blind» in den Kampf zu stürzen und zerschlagen zu lassen, ist es besser, vorsichtig zurückzuweichen, dem Faschismus anheimzustellen, die Macht zu ergreifen und sich zu kompromittieren. Dann – oh, dann! – werden wir uns zeigen. Abenteurertum und Leichtsinn lösen einander nach den Gesetzen der politischen Psychologie mit Kniefall und Kapitulation ab. Der Sieg der Faschisten, ein Jahr zuvor für unmöglich gehalten, wird jetzt bereits als gesichert angesehen. Irgendein Kuusinen, hinter den Kulissen von irgendeinem Radek inspiriert, bereitet für Stalin die geniale strategische Formel vor: rechtzeitig zurückweichen, die revolutionären Truppen aus der Gefechtszone herausführen, dem Faschismus eine Falle stellen, in Form … der Staatsmacht. Würde diese Theorie sich in der deutschen Kommunistischen Partei befestigen, ihren Kurs in den nächsten Monaten bestimmen, so bedeutete dies seitens der Komintern einen Verrat nicht geringeren historischen Ausmaßes als der Verrat der Sozialdemokratie vom 4. August 1914, dabei mit noch schrecklicheren Folgen. Es ist Pflicht der Linken Opposition, Alarm zu schlagen; die Leitung der Komintern führt das deutsche Proletariat zu einer gewaltigen Katastrophe, deren Kern die panische Kapitulation vor dem Faschismus ist! 14. Das Gelangen der deutschen «Nationalsozialisten» an die Macht würde vor allem die Vertilgung der Blüte des deutschen Proletariats bedeuten, die Zerstörung seiner Organisationen, die Ausrottung seines Glaubens an sich und seine Zukunft. Entsprechend der weitaus größeren Reife und Schärfe der sozialen Gegensätze in Deutschland würde die Höllenarbeit des italienischen Faschismus sich wahrscheinlich als blasses und fast humanes Experiment ausnehmen im Vergleich zur Arbeit des deutschen Nationalsozialismus. Zurückweichen, sagt Ihr, gestrige Propheten der «dritten Periode»? Führer und Institutionen können zurückweichen. Einzelne Personen können sich verbergen. Aber die Arbeiterklasse wird angesichts des Faschismus nirgends zurückweichen und nirgends sich verbergen können. Hält man wirklich das Ungeheuerliche und Unwahrscheinliche für möglich, dass die Partei tatsächlich dem Kampf ausweichen wird und damit das Proletariat auf Gnade und Ungnade seinem Todfeind ausliefern, so bedeutete das nur Eines: die grausamen Schlachten würden sich nicht vor der Machtergreifung der Faschisten, sondern nach ihr entspinnen, das heißt: unter für den Faschismus zehnmal günstigeren Bedingungen als heute. Der Kampf des von der eigenen Führung verratenen, überraschten, desorientierten, verzweifelten Proletariats gegen das faschistische Regime würde sich in eine Reihe furchtbarer, blutiger und auswegloser Zuckungen verwandeln. Zehn proletarische Aufstände, zehn Niederlagen, eine nach der anderen, könnten die deutsche Arbeiterklasse so verbluten und entkräften lassen, wie sein Zurückweichen vor dem Faschismus es im gegebenen Augenblick schwächen würde, wo erst die Entscheidung der Frage bevorsteht, wer Herr im Hause Deutschlands werden soll. 15. Noch ist der Faschismus nicht an der Macht. Noch hat sich ihm der Weg zur Macht nicht geöffnet. Die Führer des Faschismus fürchten noch, es zu wagen: sie begreifen, dass der Einsatz zu groß ist, dass es um die Köpfe geht. Unter diesen Bedingungen können die Kapitulationsstimmungen bei den kommunistischen Spitzen die Aufgabe nur unerwartet vereinfachen und erleichtern. Wenn augenblicklich sogar einflussreiche Bourgeoisiekreise das faschistische Experiment fürchten gerade deshalb, weil sie keine Erschütterungen, keinen langen und furchtbaren Bürgerkrieg wünschen, so würde die Kapitulationspolitik des offiziellen Kommunismus – dem Faschismus den Weg zur Macht eröffnend – völlig die Mittelklassen wie die noch schwankenden Schichten der Kleinbourgeoisie und auch bedeutende Schichten des Proletariats selbst auf die, Seite des Faschismus stoßen. Selbstverständlich, irgendeinmal wird der siegreiche Faschismus als Opfer der objektiven Widersprüche und der eigenen Unzulänglichkeit fallen. Aber unmittelbar, für eine absehbare Zukunft, für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre würde der Sieg des Faschismus in Deutschland die Unterbrechung in der Entwicklung der revolutionären Erfolge bedeuten, Zusammenbruch der Komintern, Triumph des Weltimperialismus in seinen abscheulichsten und blutgierigsten Formen. 16. Der Sieg des Faschismus in Deutschland würde den unvermeidlichen Krieg gegen die UdSSR bedeuten. Es wäre in der Tat ausgesprochener politischer Stumpfsinn zu glauben, dass, zur Macht gelangt, die deutschen Nationalsozialisten mit dem Krieg gegen Frankreich oder auch nur gegen Polen begönnen. Der unvermeidliche Bürgerkrieg gegen das deutsche Proletariat wird in der Außenpolitik den Faschismus für die gesamte erste Periode seiner Herrschaft an Händen und Füßen binden. Hitler wird Pilsudski ebenso brauchen, wie Pilsudski Hitler. Beide werden gleichermaßen Waffen Frankreichs sein. Fürchtet augenblicklich der französische Bourgeois die Machtergreifung der deutschen Faschisten als einen Sprung ins Ungewisse – so wird am Tage von Hitlers Sieg die französische Reaktion, die «national» wie die radikal sozialistische, ihren ganzen Einsatz auf den Faschismus stellen. Keine der «normalen» bürgerlichen Parlamentsregierungen kann augenblicklich einen Krieg gegen die UdSSR riskieren: das könnte unabsehbare innere Verwicklungen zur Folge haben. Wenn aber Hitler zur Macht gelangt, wenn er hierauf die Avantgarde der deutschen Arbeiter zertrümmert für Jahre hinaus das ganze Proletariat zerstäubt und demoralisiert, wäre die faschistische Regierung allein fähig zu einem Krieg gegen die UdSSR. Selbstverständlich wird sie dabei in gemeinsamer Front mit Polen und Rumänien, mit den anderen Randstaaten vorgehen und auch mit Japan im Fernen Osten. In diesem seinem Unternehmen würde Hitlers Regierung nur das Vollstreckungsorgan des gesamten Weltkapitals sein. Clemenceau, Millerand, Lloyd George, Wilson konnten mit der Sowjetregierung nicht unmittelbar Krieg führen, sie konnten im Laufe dreier Jahre die Armeen Koltschaks, Denikins, Wrangels unterstützen. Hitler würde im Fall des Sieges Ober-Wrangel der Weltbourgeoisie werden. Es ist unnütz, ja sogar unmöglich, jetzt voraus zu raten, wie solch eine Art gigantischen Duells enden würde. Es ist aber vollkommen klar: bräche der Krieg der Weltbourgeoisie gegen die Sowjets nach der Machtergreifung der Faschisten in Deutschland aus, so bedeutete das für die UdSSR furchtbare Isolierung und Kampf auf Leben und Tod unter den schwierigsten und gefährlichsten Bedingungen. Die Zerschlagung des deutschen Proletariats durch die Faschisten würde mindesten bereits zur Hälfte den Zusammenbruch der Sowjetrepublik m sich einschließen. 17. Doch bevor die Frage auf die europäischen Kampfstätten hinaustritt, muss sie in Deutschland entschieden werden. Daher sagen wir, dass sich in Deutschland der Schlüssel zur internationalen Frage befindet. In wessen Händen? Vorläufig noch in den Händen der Kommunistischen Partei. Noch hat sie ihn nicht entgleiten lassen. Aber er kann ihr entgleiten. Die Führung stößt sie auf diesen Weg. Jeder, der das «strategische Zurückweichen» predigt, d. h. die Kapitulation, jeder, der solche Predigt duldet, ist ein Verräter. Die Propagandisten des Zurückweichens vor den Faschisten müssen als unbewusste Agenten des Feindes in den Reihen des Proletariats betrachtet werden. Die elementare revolutionäre Pflicht der deutschen Kommunistischen Partei gebietet ihr auszusprechen: der Faschismus kann zur Macht gelangen nur durch unbarmherzigen, vernichtenden Bürgerkrieg auf Leben und Tod. Das müssen vor allem die Arbeiter-Kommunisten wissen. Das müssen die sozialdemokratischen Arbeiter wissen, die Parteilosen, das ganze Proletariat. Das muss beizeiten die Rote Armee wissen. 18. Aber ist der Kampf nicht wirklich hoffnungslos? Im Jahre 1923 hat Brandler die Kraft des Faschismus ungeheuerlich überschätzt und damit die Kapitulation verdeckt. Die Folgen dieser Strategie trägt die Weltarbeiterbewegung bis zum heutigen Tag. Die historische Kapitulation der deutschen Kommunistischen Partei und der Komintern im Jahre 1923 lag dem darauffolgenden Wachstum des Faschismus zugrunde. Gegenwärtig stellt der deutsche Faschismus eine unermesslich größere politische Kraft dar als 8 Jahre zuvor. Wir haben die ganze Zeit vor Unterschätzung der faschistischen Gefahr gewarnt, und nicht an uns ist es, sie jetzt zu leugnen. Gerade deshalb können und müssen wir jetzt den deutschen revolutionären Arbeitern sagen: Eure Führer fallen aus einem Extrem wieder ins andere. Bisher liegt die Hauptkraft der Faschisten in der Zahl. Ja, sie vereinigen viele Stimmzettel. Aber im sozialen Kampf entscheidet nicht der Stimmzettel. Hauptarmee des Faschismus bleiben immer noch die Kleinbourgeoisie und der neue Mittelstand: das kleine Handwerks- und Handelsvolk der Stadt, Beamten, Angestellte, technisches Personal, Intelligenz, heruntergekommene Bauern. Auf der Waage der Wahlstatistik wiegen tausend faschistische Stimmen ebenso viel wie tausend kommunistische. Aber auf der Waage des revolutionären Kampfes stellen tausend Arbeiter eines Großunternehmens eine hundertmal größere Kraft dar als tausend Beamte, Kanzlisten, ihre Frauen und Schwiegermütter. Die Hauptmasse der Faschisten besteht aus menschlichem Staub. Die Sozialrevolutionäre waren in der russischen Revolution die Partei der stärksten Zahl. Für sie stimmte in der ersten Zeit alles, was nicht bewusster Bourgeois oder bewusster Arbeiter war. Selbst in der Konstituierenden Versammlung, d. h. nach dem Oktoberumsturz, bildeten die Sozialrevolutionäre die Mehrheit. Sie hielten sich daher für eine große nationale Partei. Sie erwiesen sich als große nationale Null. Wir denken nicht daran, ein Gleichheitszeichen zwischen den russischen Sozialrevolutionären und den deutschen Nationalsozialisten zu machen. Aber Ähnlichkeitszüge, sehr wichtige für die Klärung der behandelten Frage, gibt es zwischen ihnen zweifellos. Die Sozialrevolutionäre waren die Partei der verworrenen Volkshoffnungen. Die Nationalsozialisten sind die Partei der nationalen Verzweiflung. Die größte Fähigkeit, von Hoffnung zur Verzweiflung überzugehen, besitzt die Kleinbourgeoisie, die dabei auch einen Teil des Proletariats mit sich zieht. Die Hauptmasse der Nationalsozialisten ist, gleich den Sozialrevolutionären, – menschlicher Staub. 19. Der Panik verfallen, vergessen die Unglücksstrategen die Hauptsache: die großen sozialen und Kampfes-Vorzüge des Proletariats. Seine Kräfte sind nicht verausgabt. Es ist fähig nicht nur zum Kampf, sondern auch zum Sieg. Die Erzählungen über mutlose Stimmungen in den Betrieben widerspiegeln in der Mehrzahl der Fälle die mutlosen Stimmungen der Beobachter selbst, d. h. der verwirrten Parteibeamten. Aber man muss auch in Betracht ziehen, dass die Arbeiter die verwickelte Lage und die Konfusion bei den Spitzen beunruhigen muss. Die Arbeiter verstehen, dass der große Kampf eine feste Führung erfordert. Nicht die Kraft des Faschismus und nicht die Notwendigkeit des grausamen Kampfes schrecken die Arbeiter. Sie beunruhigt die Unsicherheit und Wankelmütigkeit der Führung, die Schwankungen im verantwortungsvollsten Augenblick. Von den Stimmungen der Bedrücktheit und Mutlosigkeit in den Betrieben wird nicht die Spur bleiben, sobald nur die Partei fest, klar, sicher ihre Stimme erhebt. 20. Kein Zweifel, die Faschisten haben ernste Kampfkaders, erfahrene Sturmabteilungen. Dazu darf man sich nicht leichthin verhalten: die «Offiziere» spielen auch in der Bürgerkriegsarmee eine große Rolle. Doch nicht die Offiziere entscheiden, sondern die Soldaten. Indes sind die Soldaten der proletarischen Armee unermesslich höher, verlässlicher, ausdauernder als die Soldaten der Hitler-Armee. Nach der Machteroberung wird der Faschismus leicht seine Soldaten finden. Mit Hilfe des Staatsapparates lässt sich eine Armee aus Bourgeoissöhnchen, Intelligenzlern, Kontoristen, demoralisierten Arbeitern, Lumpenproletariern usw. schaffen. Beispiel: der italienische Faschismus. Allein auch hier muss man sagen: eine ernste historische Prüfung ihres Kampfwertes hat die italienische Faschistische Miliz noch nicht erfahren. Aber der deutsche Faschismus ist ja noch nicht an der Macht. Die Macht muss erst erobert werden im Kampf mit dem Proletariat. Wird etwa die Kommunistische Partei für diesen Kampf schlechtere Kaders als die des Faschismus ausheben? Und kann man auch nur für eine Minute zugeben, dass die deutschen Arbeiter, die in ihren Händen machtvolle Produktions- und Transportmittel halten, die durch ihre Arbeitsbedingungen zu einer Armee des Eisens, der Kohle, der Eisenbahnen, der Elektrizitätswerke verbunden sind, im Entscheidungskampf nicht eine unermessliche Überlegenheit über Hitlers Menschenstaub bezeugen werden? Ein ernstes Element der Stärke von Partei und Klasse ist auch jene Vorstellung, die sie vom Kräfteverhältnis im Lande haben. In jedem Krieg bemüht sich der Feind, eine übertriebene Vorstellung von seinen Kräften zu erwecken. Darin bestand eines der Geheimnisse der Napoleonischen Strategie. Prahlen kann Hitler jedenfalls nicht minder als Napoleon. Aber seine Aufschneiderei wird zu einem militärischen Faktor erst im Moment, wo die Kommunisten ihm Glauben schenken. Mehr als alles ist augenblicklich eine reale Kräfteberechnung notwendig. Worüber verfügen die Nationalsozialisten in den Betrieben, bei den Eisenbahnen, in der Armee, über wie viel organisierte und bewaffnete Offiziere? Eine klare soziale Analyse des Bestandes beider Lager, ständiges und wachsames Überrechnen der Kräfte – das sind die unfehlbaren Quellen des revolutionären Optimismus. Die Stärke der Nationalsozialisten liegt gegenwärtig nicht so sehr in ihrer eigenen Armee, als in der Zersplitterung der Armee ihres Todfeindes. Aber gerade die Realität der faschistischen Gefahr, ihr Wachsen und Herannahen, das Bewusstsein der Notwendigkeit, sie um jeden Preis abzuwenden, müssen unvermeidlich die Arbeiter zum Zusammenschluss im Namen der Selbstverteidigung stoßen. Die Konzentrierung der proletarischen Kräfte wird sich umso rascher und erfolgreicher vollziehen, je verlässlicher die Achse dieses Prozesses sich erweisen wird, d. h. die Kommunistische Partei. Der Schlüssel zur Position liegt noch in ihren Händen. Wehe ihr, wenn sie ihn entgleiten lässt! In den letzten Jahren haben die Beamten der Komintern bei allem und jedem Anlass, manchmal ganz unangebracht, über die der UdSSR unmittelbar drohende Kriegsgefahr geschrien. Jetzt nimmt diese Gefahr realen Charakter und konkrete Umrisse an. Für jeden revolutionären Arbeiter muss zum Axiom werden: der Versuch der Faschisten zur Machtergreifung in Deutschland kann nicht anders als die Mobilisierung der Roten Armee nach sich ziehen. Für den proletarischen Staat wird es hier im direktesten und unmittelbarsten Sinn um die revolutionäre Selbstverteidigung gehen. Deutschland ist nicht bloß Deutschland. Es ist das Herz Europas. Hitler ist nicht bloß Hitler. Er ist Kandidat auf den Ober-Wrangel. Aber auch die Rote Armee ist nicht bloß die Rote Armee. Sie ist – die Waffe der proletarischen Weltrevolution. 26. November 1931. L. TROTZKI. P. S. Die Arbeit «Gegen den Nationalkommunismus» des Autors dieser Zeilen hat einige zweideutige Beifallskundgebungen in der sozialdemokratischen und demokratischen Presse gefunden. Es wäre nicht nur sonderbar, sondern auch widernatürlich, würden zur selben Zeit, wo der deutsche Faschismus erfolgreich die gröbsten Fehler des deutschen Kommunismus ausnützt – die Sozialdemokraten nicht versuchen, die offene und scharfe Kritik dieser Fehler auszunützen. Unnötig zu sagen, dass die Stalinsche Bürokratie in Moskau wie in Berlin nach den Artikeln der sozialdemokratischen und demokratischen Presse über unsere Broschüre gehascht hat wie nach einem wertvollen Geschenk: jetzt gibt es endlich ein reelles «corpus delicti» unserer Einheitsfront mit der Sozialdemokratie und der Bourgeoisie. Leute, die die chinesische Revolution Hand in Hand mit Tschiang Kai-schek durchgemacht haben und den britischen Generalstreik Hand in Hand mit Purcell, Citrine und Cook – es handelte sich nicht um Artikel, sondern um grandiose historische Ereignisse! –, sind gezwungen, sich mit Freuden an Episoden der Zeitungspolemik zu klammern. Nur muss man überlegen und nicht zetern, analysieren und nicht schimpfen. Vor allem stellen wir die Frage: wem hat die unsinnige und verbrecherische Teilnahme der deutschen Kommunistischen Partei am faschistischen Volksentscheid geholfen? Die Tatsachen haben bereits eine unbestreitbare Antwort auf diese Frage geben können: den Faschisten und allein ihnen. Gerade deshalb hat sich der Hauptinspirator dieses verbrecherischen Abenteuers feige der Vaterrechte begeben: in einer Rede vor verantwortlichen Parteiarbeitern in Moskau hat Stalin die Teilnahme am Volksentscheid verteidigt, sich aber dann ermannt und den Zeitungen nicht nur deren Abdruck, sondern selbst deren Erwähnung untersagt. Selbstverständlich, «Vorwärts», «Berliner Tageblatt», «Wiener Arbeiterzeitung» – besonders die letztere – zitieren unsere Broschüre in hohem Maße ungewissenhaft. Kann man denn auch Gewissenhaftigkeit den Ideen der proletarischen Revolution gegenüber von der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Presse verlangen? Allein wir wollen der Unterscheidungen nicht achten und auf die Anklagen des Stalinschen Beamtentums eingehen. Wir wollen zugeben, dass, soweit sich die Sozialdemokratie vor dem Sieg der Faschisten fürchtet, wobei sie die revolutionäre Besorgnis der Arbeiter widerspiegelt, sie auch ein gewisses objektives Recht hatte, unsere Kritik der Stalinisten auszunützen, die den Faschisten einen ungeheuren Dienst erwiesen haben. Grundlage dieses ihres «Rechtes» ist indes nicht unsere Broschüre, sondern Eure Politik, o weise Strategen! Ihr sagt, wir hätten uns in «Einheitsfront» mit Wels, und Severing gezeigt? Nur auf jenem Boden und nur in jenen Grenzen, in denen Ihr Euch in Einheitsfront mit Hitler und seinen Schwarzhundert-Banden erwiesen habt. Und auch hier noch mit dem Unterschied, dass es bei Euch um eine gemeinsame politische Aktion ging, bei uns aber die Sache sich lediglich reduzierte auf eine zweideutige Ausnützung einiger Zitate durch den Widersacher. Als Sokrates das philosophische Prinzip «Erkenne Dich selbst» aufstellte, hat er gewiss Thälmann, Neumann und sogar Remmele im Auge gehabt.
Antipode: Gegenstück, Gegenspieler. Corpus delicti: Beweisstück. Doktrin: Lehre, Lehrmeinung. Empirie, Empirismus, («Erfahrungswissenschaft»), hier: Politik ohne politische Überlegung und Voraussicht. Imperialismus («Streben nach Herrschaft»): die gegenwärtige Epoche, des Monopolkapitalismus der Kriege und Revolutionen. Kerenskiade: die Periode Kerenskis, des Führers der letzten bürgerlichen Regierung in Russland bis zur Oktober-Revolution. Konservatismus: Rückständigkeit. Konstituierende Versammlung: verfassunggebende Versammlung. Kuomintang («Reichsvolkspartei»): die 1912 von Sun Yat-sen gegründete demokratisch-nationale, Partei Chinas, trieb, gegenrevolutionäre Politik und ertränkte die chinesische Revolution im Blut; mit dieser Partei stand Stalin 1924-1927 in Einheitsfront. Labourismus: reformistische Arbeiterbewegung in England; Labour Party, britische Arbeiterpartei. Lloyd-Georgiade: Periode, die durch die Politik des englischen Liberalen Lloyd George bestimmt wurde Mystik («Geheimlehre»): Unklarheit, Verschwommenheit. Partiell: teilweise. Prosperität: Wohlstand, Epoche wirtschaftlicher Erfolge. Scharlatanerie: Quacksalberei, gewissenlose Pfuscherei. UdSSR: Union Sozialistischer Sowjet-Republiken. WKP: Wsesojusnaja Kommunistitscheskaja Partija, All-Unions Kommunistische Partei. Zentrismus («mittlere Richtung»): zwischen Rechter Opposition (Bucharin) und Linker Opposition (Trotzki) in der Kommunistischen Internationale die offizielle politische Richtung, deren Haupt Stalin ist. 1 Die nicht jedem verständlichen Ausdrücke sind in dem Verzeichnis auf der 3. Umschlagseite erläutert [hier im Anschluss an das Postskriptum wiedergegeben]. 2 Vor dem Zweiten Weltkrieg hat sich die große Mehrheit der österreichischen Bevölkerung als Deutsche betrachtet. |
Leo Trotzki > 1931 >